Die abklingende Nachwahl-Erregung mischt sich mit etwas Trauer und Trotz. Mike Nagler steht hoch erhobenen Hauptes inmitten seiner vielen Helfer im Saal des Rathauses. Die eint, dass sie nicht glauben können, was die Charts an der Wand zu den Leipziger Bundestagswahlergebnissen auswerfen. Einer murmelt laut hörbar "Scheiße!". Und ständig reißt irgendwer am Nun-Ex-Kandidaten und will ein Foto, Worte zum Ausgang, kluge Einschätzungen. Nagler ist müde, aber er steht und will kein Mitleid. Als ein aufdringlicher DPA-Fotograf verschwunden ist, geht's in ein ruhiges Zimmer, in eine ungewohnte Stille. Zum Verschnaufen und dem L-IZ-Interview.

Es ist, wie es ist, Mike. Wir fangen mal hinten an – würdest Du noch mal antreten?

Ja. Na klar!

Also in vier Jahren tatsächlich “the same procedure”? Das dritte Mal?

Natürlich. Wenn mich wieder so viele unterstützen und mich aufstellen. Das Ergebnis ist ja auch in diesem Jahr kein schlechtes. Ich weiß noch nicht, wie es sonst so in den anderen Wahlkreisen ausgegangen ist …

Aktuell sind weit über die Hälfte der Leipziger Stimmen ausgezählt – für dieses Jahr ist es für Dich vorbei.

Zumindest das Wahlergebnis für mich ist zumindest in der Höhe ähnlich wie 2009. Mit dem Unterschied, dass die CDU noch extrem dazugewonnen hat. Gut, was heißt extrem – aber schon um einige Punkte.

Wir haben ja vorhin zusammen geschaut – 6,9 Prozent hat derzeit die CDU mehr bei den Zweitstimmen, auch Herr Feist hat etwas mehr dazu gewonnen.

2009 hatte er 28,8 und ich 25,5 Prozent … (Anm. d. Red.: Am Ende waren es 34,3 Prozent für Thomas Feist und 24,9 für Mike Nagler).

Komm, dann werfen wir die These hier gleich mal mit hinein – haben die Leipziger Feist oder Merkel gewählt?

(beide müssen lachen) Das kann ich so überhaupt nicht einschätzen. Ich weiß es einfach nicht.

Woran hat’s gelegen? Du hast, wie man bis in die Kneipen der Stadt hinein gemerkt hat, aller Orten Wahlkampf gemacht. Einer Deiner Helfer hat mir vorhin verraten, er hätte sich noch mehr Zeit gewünscht?

Nein – letztlich nicht. Wir haben schon viel gemacht, das stimmt. Einerseits gab es ja den traditionellen Parteienwahlkampf mit Plakaten, Flyern, Zeitungsanzeigen, also mit allem, was es so gibt. Und dann gab es halt auch den ergänzenden Wahlkampf, wo wir ganz stark für die Erststimme geworben haben. Weil es vor allem hier im Wahlkreis Leipzig-Süd eine ganz klare linksliberale Mehrheit gibt. Wenn man Links, Grün und SPD zusammennimmt, sind das eben 65 Prozent für das linke Lager.

Und dennoch gewinnt der CDU-Kandidat den Wahlkreis, weil sich die anderen gegenseitig die Stimmen wegnehmen. Genau deshalb haben wir ganz stark auf den Erststimmenwahlkampf gesetzt und dabei vor allem auch versucht, Nichtwähler zu erreichen und auch Wähler der Grünen und SPD.

Hat auch ein Stück weit funktioniert – ich habe selbst mit vielen Leuten gesprochen, als wir die letzten Tage in der Südvorstadt, Plagwitz und den anderen Stadtteilen unterwegs waren. Ich weiß aus diesen Gesprächen, dass mich viele Leute gewählt haben, die mich sonst eher nicht gewählt hätten – also ihre Zweitstimme klar woanders gesetzt haben.
Um es mal weniger traurig zu betrachten – es gab hier offensichtlich einen deutlichen Trend hin zur CDU. Derzeit kurz davor, sogar allein regieren zu können – hat Dein Wahlkampf darunter gelitten?

Nein traurig bin ich jetzt nicht. Aber sicherlich hat der bundesdeutsche Trend eine Rolle gespielt.

Drehen wir noch mal vier Jahre nach vorn. Dann trittst Du ganz allein, also ohne Parteiliste an? Warst Du zufrieden mit der Linken?

Doch, also natürlich. Ich bin halt schon ein Linker. Ich bin nicht drin in der Partei, nicht in diesen Strukturen, aber ich teile die Inhalte weitestgehend. Ich mag nur generell Parteistrukturen nicht, egal welche Partei. Dieses Hierarchische, diese Machtspielchen, die dann um Ämter und Posten auch zwischen den Strömungen stattfinden. Ich bin da eher pragmatischer, ich arbeite lieber an Sachthemen und suche mir dafür die entsprechenden Netzwerke.

Wenn es zum Beispiel um den Erhalt von städtischem Eigentum geht, suche ich mir Netzwerke aus vielen verschiedenen Ecken. Das können dann auch verschiedene Parteien, Gewerkschaften und andere sein, die dann mitmachen, um anhand dieser Sachfrage ein gemeinsames Netzwerk aufzubauen. Und natürlich nach konkreten Lösungen zu suchen.

Also nun einfach weitere vier Jahre fürs “Netzwerken” in Leipzig? Wie ist bei so etwas parallel die berufliche Perspektive?

Ich mache da ganz genau so weiter, wie bisher. Ich habe Architektur und Bauingenieurwesen studiert, habe auch in dieser Richtung gearbeitet. Jetzt seit einem Jahr nicht mehr. Ganz aktuell bin ich als Selbstständiger Hartz-IV-Empfänger. Damit ist es einfach von Monat zu Monat anders. Vorrangig halte ich Vorträge unter anderem für die Bundeszentrale für politische Bildung oder zum Beispiel für das DGB Bildungswerk.

Ich hatte zum Beispiel ziemlich lange, vier Jahre, einen Lehrauftrag an der HTWK, welcher im November 2012 beendet wurde. Aktuell habe ich ein Lehrverbot an der HTWK Leipzig, wegen meines politischen Engagements.
Ich kann mir vorstellen, diese Art zu leben, zudem unter Deinem hohen politischen Engagement kostet Kraft. Und dann noch in den Wahlkampf ohne Zweitstimmenhoffnung. Nicht doch lieber noch in eine Partei eintreten?

Das habe ich nicht vor. Ich war mal zwei Jahre in der WASG, als diese gerade aus den Hartz-IV-Protesten entstand und sich gegründet hatte. Das fand ich attraktiv und spannend, auch weil sich da etwas Neues gründete, was basisdemokratisch sein wollte. Halt eine Alternative zu allen anderen etablierten Parteien. Ich habe mich da sehr stark eingebracht und miterlebt, wie halt Parteien so funktionieren. Und das ist nicht ganz so meins.

Dennoch bist Du ja im Herzen jetzt bei der Linken. Diese ist mit aktuell 8,5 Prozent sogar vor den Grünen gelandet, die Linke als drittstärkste Kraft im Bundestag – Grund zur Freude?

Vor den Grünen? Das ist grundsätzlich ganz schön – aber trotzdem schrumpft ja die Fraktion. 2009 hatten wir 11,9 Prozent. Ich finde die Tendenz schon leicht bedenklich, vor allem, weil die CDU eben extrem zugewinnt. Aus meiner Sicht ist dadurch die Opposition im Bundestag geschwächt.

Geschwächt? Derzeit befinden sich ja mit Linken, Grünen und SPD gesamt mehr aus dem linken Lager in der “Opposition”?

Naja, es gibt dennoch halt nicht den Trend, für den ich mich eingesetzt habe. Was ich halt wichtig finde ist, einen echten Richtungswechsel herbeizuführen. Und den hat man irgendwie momentan auch nicht. (Anm. d. Red. in der folgenden Nacht wurde klar, dass Rot-Rot-Grün rechnerisch im Bund gehen könnte)

Kommen wir auf das Thema, worüber Du vielleicht laut unserem Vorgespräch noch eine Nacht schlafen wolltest oder möchtest Du etwas dazu sagen? Was hat Dich an dieser Wahl 2013 gerade in Leipzig verwundert?

Ja, ich hab halt die ganzen vergangenen Wochen über Wahlkampf gemacht, mit unzähligen Leuten gesprochen und man bekommt da schon so ein bestimmtes Gefühl, wie die Menschen denken. So eine eigene Stimmungslage. Mein Bild vorher war irgendwie sehr stark, dass es eine Verbesserung für die Linke gegenüber 2009 geben würde. Auf keinen Fall jedoch in die Richtung, dass die CDU weiter zulegt.

Nun, vielleicht hab ich ja mit den falschen Leuten geredet? (Lacht)

Der Fluch der eigenen Netzwerke?

Ich glaube dennoch, man sollte mal nach dieser Wahl ganz genau hinschauen, ob die Wahl so korrekt abgelaufen ist, wie das nötig wäre. Natürlich auch mal auf die Wählerwanderung blicken …
Was möchtest Du mit “korrekt” sagen?

Naja es gibt schon ein paar Sachen, die mich nachdenklich machen. Zum Beispiel habe ich gehört, dass es in einzelnen Wahllokalen statt Kugelschreibern, Bleistifte gegeben haben soll – unter anderem in Reudnitz. Ich weiß natürlich nicht, ob das Spaßvögel waren, die dachten, das wäre lustig und die einfach den Kugelschreiber weggenommen haben und stattdessen einen Bleistift hingelegt haben oder ob das halt mit Absicht geschah.

Dann wissen wir eben auch, dass ziemlich vielen Leuten keine Wahlbenachrichtigungen zugesendet wurden, wie es Frau Dr. Schmidt, Wahlleiterin für Leipzig, vorhin hier bei der Veranstaltung auch selbst gesagt hatte.

Du meinst, ohne Wahlbenachrichtigung geht man dann nicht wählen?

Die Frage ist doch, ob die Leute wissen, dass sie auch ohne Wahlbenachrichtigung wählen gehen können? Zur OBM-Wahl Anfang 2013 hat dies zum Beispiel Leipziger Altenpflegeheime betroffen, wo rund 16.000 Wahlbenachrichtigungen (Personenzahl laut Seniorenverband Leipzig) nicht ankamen. Das ist ja nicht unwesentlich in der Menge. Und so ähnlich ist das jetzt offenbar auch gelaufen. Ich persönlich kenne zum Beispiel zwei Leute, die in Pflegeheimen sind, welche für die Bundestagswahl keine Benachrichtigungen erhalten haben.

Dazu stellt sich mir eben die Frage, wo sind diese Wahlbenachrichtigungen hin? Liegen die noch irgendwo rum? Wurden sie einfach nur nicht rausgeschickt oder sind sie schlicht weg?

Du scheinst das also schon länger zu beobachten.

Ja, ich habe eben deshalb vor 1,5 Monaten einen Brief an Frau Dr. Schmidt geschrieben, unter Hinweis auf die Wahl 2009 und auch auf die OBM-Wahl, wo es Ungereimtheiten gab – auch von der Presse aufgegriffen – in welchem ich nochmals darauf hingewiesen habe, dass es in Leipzig entgegen den Verfahren anderswo keine Ausweiskontrollen bei der Stimmenabgabe gibt.

Hast Du eine Antwort erhalten?

Sie hat mir zurückgeschrieben und bestätigt, dass dies in ganz Leipzig nicht mehr gemacht wird.

Gibt es dafür eine Angabe von Gründen?

Sie meinte, dies wäre vom Gesetz her nicht erforderlich und die Wahlhelfer könnten, wenn sie meinten, das wäre von Fall zu Fall notwendig, dies selbst vor Ort nochmal extra verlangen.

Ich möchte jetzt wirklich nicht sagen, dass im großen Stil eine Wahlfälschung dadurch stattfindet, aber es besteht so eben die Möglichkeit dazu. Und wenn ich das jetzt zusammennehme, dass es also ohne Ausweis möglich ist zu wählen und auf der anderen Seite verschwinden bestätigtermaßen Wahlbenachrichtigungen, komm ich halt ins Grübeln. Die theoretische Möglichkeit für Wahlfälschungen ist damit gegeben, da man so zumindest wählen gehen kann, ohne der zu sein, der auf dem Benachrichtigungsschein steht. Und wenn man dann noch einen Weg findet, einige von den Benachrichtungen einzusammeln, die bei anderen fehlen?

Eine Verschwörung?

Nein (lacht) … aber vielleicht fragt man halt lieber noch mal nach?

Schlusspointe – wie wertest Du jetzt das Wahlergebnis?

Naja, wer sich ein bisschen mit der Politik der vergangenen Jahre auseinandergesetzt hat, der kann schlicht nicht CDU gewählt haben. Meine Verwunderung bleibt. Vor allem, dass es in so einer Stadt wie Leipzig eine Mehrheit für die CDU gibt.

Womit wir wieder beim Beginn wären – es ist, wie es ist. Ich danke Dir für dieses ausgesprochen freundliche Gespräch nach einer nicht leichten Niederlage.

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Michael Freitag über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar