Ein Schrittchen vor, zwei zurück. Aber nur ja nicht wirklich lesen, was in Studien steht und was es bedeutet. Am Samstag, 9. September, erschien in der LVZ ein Artikel, der suggerierte, Leipzig würde nach dem jüngst vorgestellten „Aktionsplan Mobilität Leipzig 700plus“ flugs wieder zurückkehren zur alten Straßenpolitik mit breiten Ringen und Tangenten. Motto: „Neue Verkehrspolitik: Stadt steuert um“.

Im Text wurde es dann etwas detaillierter, war von Prüfungen und Überlegungen zu lesen, die nicht neu sind, sondern seit Jahren auf dem Tisch der Leipziger Verkehrsplaner liegen. Denn solange niemand das Ende solcher Planungen beschließt, bleiben sie liegen, werden sie immer wieder hervorgeholt, wenn man glaubt, mal wieder Geld und Kapazitäten dafür zu haben.

Oder Hoffnung auf Fördermittel von Bund und Land. Denn ohne die kann Leipzig kein neues Straßenprojekt bauen. Aber die Fördermittel bekommt es nur, wenn es den Neubau mit Zahlen gut untermauern kann.

Was zum Beispiel beim geplanten Umbau der Nordtangente zwischen Berliner Straße und Uferstraße nicht gelang. Jetzt wolle man das wieder prüfen, sagte der Leiter des Verkehrs- und Tiefbauamtes Michael Jana der LVZ. Schreibt zumindest die LVZ und nimmt auch das Zauberwort Tunnel mit in den Text. Frühere Pläne, hier mit einer verschwenkten Fahrbahn die Autofahrer zu animieren, von der Berliner Straße eben nicht auf den Innenstadtring einzubiegen, sondern zur Uferstraße und zur Emil-Fuchs-Straße weiterzufahren, sind daran gescheitert, dass augenscheinlich kein Bedarf besteht, so in den Leipziger Westen zu fahren.

Vielleicht ändert sich das ja. Es sollen ja Zeichen und Wunder passieren.

Glaubt zumindest die FDP, die sich richtig freut über den – na ja – Sinneswandel.

Die Leipziger FDP begrüße den Sinneswandel der Stadt in der Verkehrspolitik, teilt sie mit. Dieser sei nach Ansicht des Kreisvorsitzenden Friedrich Vosberg längst überfällig, teilt die flotte Partei der Autofahrerfreiheit mit. Entsprechende Vorschläge habe die FDP bereits im Juni auf den Tisch gelegt. Zumindest haben die FDP-Stadträte im Stadtrat einen entsprechenden Antrag gestellt. Die Verwaltung prüft.

Und Vosberg sagt: „Ich freue mich, dass die Stadtverwaltung den FDP-Vorschlag zur Ausbau der Nordtangente aufgegriffen hat. Hoffentlich ist das aber nicht nur die Meinung eines Amtsleiters. Es wird Zeit, dass der OBM endlich Farbe bekennt.“

Ob es jemals eine solche Lösung gibt, ist völlig offen. Denn die meisten Leute, die sich bislang zur Wort melden, haben zwar den Aktionsplan wahrgenommen und die Statements der Kammerpräsidenten.

Sie haben aber die zugrunde liegende Studie nicht gelesen. Denn das ist den Mitglieder der Initiative „Mobilität Leipzig 700plus“ bewusst: Dass man Verkehrsprojekte heute sehr gut mit Zahlen unterfüttern muss. Wünsche allein genügen nicht. Fördergelder gibt es nur, wenn mit belastbaren Prognosen gezeigt werden kann, dass man dadurch wirklich spürbare Entlastungseffekte erzielt und die Entlastungen auf andere Weise nicht bewerkstelligt werden können.

Und da ist man bei der Studie, die ganz und gar nicht sagt, was die Stadt tatsächlich tun soll.

Von einem Komplettausbau von Mittlerer Ring und Tangentenviereck ist dort keine Rede. Sondern – immerhin hat man Dresdner Verkehrsexperten zur Erstellung der Studie gewonnen – von Prüfung. Und zwar einzelner konkreter Abschnitte, die schon lange auf dem Tisch liegen, über die es aber auch noch keine Entscheidung gibt.

Zitat: „Aufgrund der zu erwartenden Zunahmen der Verkehrsstärken im Straßennetz halten wir es für erforderlich, die generelle Netzstruktur zu überprüfen. Dazu sollten nach Fertigstellung einer aktuellen Gesamtverkehrsprognose im Rahmen der Aktualisierung des integrierten Verkehrsmodells der Stadt Leipzig die ehemals angedachten Maßnahmen im Rahmen eines mittleren Ringes und deren Wirkungen neu bewertet werden. Dazu gehören auch die Überprüfung der Korridore im Südwesten (Verlagerung nach innen, Einbeziehung des Schleußiger Weges) und eine Bewertung der Wirksamkeit des Tangentenviereckes in Verbindung mit dem Mittleren Ring.“

Prüfen kann man nur, wenn man wirklich herausbekommt, wo und wie Verkehrsströme fließen, welche Ziel- und Quellverkehre es gibt und warum welche Verkehrskorridore besonders belastet sind. Herausbekommen, wo sich der Bau neuer, stärkerer Straßensysteme auch wirklich rechnet, kann man nur mit belastbaren Zahlen zum Verkehrsfluss.

Und mit einer Antwort auf die Frage: Wie werden die Verkehrsströme künftig sein?

Ein Thema, mit dem sich Leipzigs FDP, wie man sieht, überhaupt nicht beschäftigt.

„Leipzig wächst. Die für die Versorgung der Einwohner und der Wirtschaft mit Verkehrsdienstleistungen erforderliche Infrastruktur muss endlich gebaut werden. Die Stadtverwaltung darf nicht länger die Augen davor verschließen. Die von der Stadtverwaltung jetzt aufgegriffenen Brennpunkte, insbesondere die Nordtangente und die Schließung des Mittleren Rings im nördlichen Teil, hätten schon vor Jahren in Angriff genommen werden können“, verkündet die Partei einfach kraft gelesenen Zeitungsartikels.

Vosberg: „Es wurde wertvolle Zeit mit ideologischen Grabenkämpfen zur Reglementierung des Individualverkehrs vertan.“

„Zu ehrlicher Politik gehört aber auch, sich von Ideen zu verabschieden, die die Zeit überholt hat“, verkündet die FDP tatsächlich, obwohl Leipzig doch gerade dabei war, sich von „Ideen zu verabschieden, die die Zeit überholt hat“. Denn das Verkehrsdenken des 20. Jahrhunderts funktioniert nicht mehr. Es sorgt nur dafür, dass Städte im automobilen Verkehr ersticken.

Was man bei der FDP ganz anders sieht: Für die ist das neue, stadtschonende Denken das „alte Denken“.

Das gelte für eine Auwald-Querung des Mittleren Rings im Südwesten. Die A38 habe hier zu veränderten Verkehrsströmen geführt. Das Beispiel zeige, so Vosberg, dass der Bau leistungsfähiger Verkehrsadern dort, wo es möglich sei, dafür sorgen könne, dass an anderen Stellen der Verkehr abnimmt.

Der Mann ist ein Schelm. Die A38 war der Lückenschluss für den Autobahnring rund um Leipzig. Und der hat Leipzig nicht nur tatsächlich von Lkw-Verkehr entlastet. Er hat sogar zu etwas geführt, was man bei all dem Wehklagen geradezu überhört. Aus der Studie zitiert: „Durch den Ausbau der Infrastrukturen in und um Leipzig haben sich die Bedingungen für den Wirtschaftsverkehr in den letzten Jahren sukzessive verbessert. Der Autobahnring wurde geschlossen und zahlreiche Straßenzüge des Tangenten- und Ringsystems ausgebaut. Insbesondere das auf die Innenstadt zulaufende radiale Straßennetz ist sehr leistungsfähig ausgebildet. Zur Erschließung neuer Wirtschafts- und Gewerbestandorte wurden neue Infrastrukturen angelegt, insbesondere im Nordraum der Stadt, wo sich mit BMW, Porsche, DHL und weiteren zahlreiche Firmen mit weltweiter Bedeutung angesiedelt haben. Das Straßennetz gilt heute weitgehend als konsolidiert und den derzeitigen Anforderungen entsprechend.“

Aber rollt da nicht doch irgendeine Katastrophe mit einem explodierenden Verkehrsaufkommen auf Leipzig zu?

Ja, sagt die Studie. Wenn Leipzig seine Beschlüsse aus der jüngeren Zeit nicht umsetzt.

Denn dass der Wirtschaftsverkehr immer öfter Probleme bekommt, hat nicht mit den nicht leistungsfähigen Straßen zu tun. Sondern damit, dass die Belastbarkeit der Stadt mit motorisiertem Individualverkehr an ihre Grenzen kommt. Heute ist es manchmal schon eng, aber wenn die alte Entwicklung (die die FDP gern als neues Denken verkaufen möchte) so weitergeht, sorgen 30 bis 40 Prozent zusätzlicher Automobile dafür, dass die Stadt am rollenden Blech erstickt.

So bildhaft sagen es die Autoren nicht. Aber ihre deutlichste Empfehlung gilt nicht dem Ausbau des Ring- und Tangentensystems, sondern einem ganz anderen Projekt:

„Wie stark sich dies im Straßennetz in Form von Belastungserhöhungen niederschlägt hängt insbesondere davon ab, welche Anteile des Pkw-Verkehrs auf den Umweltverbund verlagert werden können. Bliebe es bei der derzeitigen Verkehrsmittelaufteilung von 40 % Motorisierten Individualverkehr zu 60 % Umweltverbund wäre mit einem Anstieg des Straßenverkehrs von mehr als einem Drittel zu rechnen.“

Sagen Verkehrsexperten. Und genau darüber hat der Stadtrat in den letzten Jahren zu Recht heftig diskutiert. Wenn die Stadt die Verkehrssysteme für den Umweltverbund nicht so leistungsfähig macht, dass sie künftig 70 Prozent des Individualverkehrs aufnehmen können, dann passiert genau das, wovor die Kammern warnen.

Aber die Priorisierung ist klar: Die Stadt soll tatsächlich endlich auf den Tisch packen, wie sie vor allem die ÖPNV- und Radwege-Systeme so leistungsfähig machen kann, dass sie den Löwenanteil des täglichen Verkehrs aufnehmen können. Nur so lässt sich die Steigerung des Kraftverkehrs um weitere 30 bis 40 Prozent bis 2030 verhindern.

Und im Hintergrund stehen dann auch noch alle von der Stadt und dem Stadtrat beschlossenen Klimaschutzziele, die nur erreicht werden können, wenn der Umweltverbund auf 70 Prozent wächst und der ÖPNV für sich auf 25 Prozent. Nur dann bleibt das Straßensystem für den Wirtschaftsverkehr leistungsfähig.

Und weil beides richtig Geld kostet, ist Leipzig zu einer Entscheidung gezwungen.

Eine Entscheidung, die sich wohl auch bei den Fördergeldanträgen stellt: Welches System schafft tatsächlich die Entlastungen, die das Geld wert sind?

Es könnte sich bald herausstellen, dass es einzig und allein ein leistungsfähig ausgebauter ÖPNV kann.

Aber wer sagt das jetzt der autoverliebten FDP?

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