So langsam bekommen die Abgeordneten des Sächsischen Landtages Antworten auf die bohrende Frage: Warum hat der Sächsische Verfassungsschutz die rechtsextreme Terrorgruppe "NSU" nicht ausgehoben, obwohl genug Verdachtsmomente vorlagen, dass die Jenaer Bombenbastler in Sachsen untergetaucht waren? - Die Befragung eines ehemaligen Referatsleiters ermöglichte am Freitag, 19. April, einen Blick in die Strukturen eines Apparates, der von professioneller Arbeit Lichtjahre weit entfernt war.

Das lag, so geht es aus den Aussagen eines ehemaligen Referatsleiters Rechtsextremismus/-terrorismus im Landesamt für Verfassungsschutz, am Freitag hervor, auch daran, dass der Sächsische Verfassungsschutz bei seinem Neuaufbau auch Personal einstellte, das mit dem Arbeitsfeld vorher nicht einmal inhaltlich zu tun hatte.

“Die heute gewonnenen Erkenntnisse sind erschreckend”, resümiert Sabine Friedel, innen- und rechtspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag, das Gehörte. “Der geladene Zeuge schilderte auf meine Frage hin, wie das Landesamt für Verfassungsschutz Anfang der 90er Jahre aufgebaut wurde. Mich interessierte besonders die Qualifikation der Mitarbeiter: Wie wurden sie ausgewählt? Welchen beruflichen Hintergrund hatten sie? Nach welchen Kriterien wurden sie eingestellt? – Die Antworten waren bestürzend: Der Zeuge schilderte, dass Tischler, Handwerker, Verkäuferinnen, Leute, die auf Bauernhöfen arbeiteten, ‘Leute, die keinerlei Ahnung hatten’ (so wörtlich), Informatiker und Maurer eingestellt worden sind. Das Amt habe deren Vergangenheit geprüft, der Referatsleiter eine Stunde mit ihnen geredet. Dann seien sie auf einen sechswöchigen Lehrgang zum Bundesamt für Verfassungsschutz geschickt worden.”

“All diese Berufe in hohen Ehren: Aber für eine nachrichtendienstliche Tätigkeit reicht das doch nicht aus”, stellt Friedel fest. “Jetzt wird deutlich, warum die Analysefähigkeit des Landesamtes unisono so vernichtend bewertet worden ist – von der Parlamentarischen Kontrollkommission in ihrem Abschlussbericht genauso wie durch die Harms-Kommission. Wie soll ein Amt, das so zusammengesetzt ist, das Land und die Verfassung schützen? Die betreffenden Mitarbeiter mögen sich ohne Zweifel bemüht haben. Doch mangels einer einschlägigen Ausbildung konnten sie rechtsextreme Netzwerke und Strukturen in Sachsen doch gar nicht analysieren! Jetzt wundert mich nichts mehr.”

Und die Personalauswahl schlug natürlich auf die Strukturen des Amtes durch.

“Die Vernehmung des bis Ende 1998 verantwortlichen Beamten im sächsischen Geheimdienst offenbarte erschreckende Mängel in der Arbeitsweise des Amtes”, erklärt Kerstin Köditz, Obfrau der Fraktion der Linken im Untersuchungsausschuss “Neonazistische Terrornetzwerke”. “Strukturanalysen der Neonaziszene im Raum Chemnitz und Dresden erfolgten nicht, ebenso unterblieben Netzwerkanalysen bezüglich der Zusammenarbeit zwischen Neonazigruppierungen in Sachsen und Thüringen. Das ausschließliche Vertrauen auf Quelleninformationen durch Spitzel erwies sich für uns erwartungsgemäß als trügerisch, da die Hemmschwelle zum Verrat von flüchtigen Kameraden als sehr hoch angesetzt werden muss.”

Kein Wunder, dass so ein Amt Jahr für Jahr zwar dubiose Berichte über irgendwelche selbstdefinierten “Extremisten” veröffentlicht, Polizeizahlen aber nicht zu hinterfragen vermag und bei der Aufklärung rechtsextremer Netzwerke den Erkenntnissen engagierter Vereine in der Regel um Jahre hinterher hinkt. Augenscheinlich genügte ein Verbot von “Blood and Honour” in Sachsen, und die Verfassungsschützer hörten einfach auf, sich ernsthafter mit diesem Netzwerk, seinen Angehörigen und ihren alten und neuen Beziehungen zu beschäftigen. Und zu diesen Beziehungen gehörten von Anfang an auch die drei abgetauchten Jenaer Neonazis.

Köditz: “Als absolut unverständlich erscheint uns der Umstand, dass der Informationsaustausch mit der sächsischen Polizei als bestenfalls mangelhaft zu bezeichnen ist. Bei einer Beratung in Potsdam im Jahr 1998, an der drei Mitarbeiter des sächsischen Landesamtes für Verfassungsschutz teilnahmen und in der es um den Umgang mit den Informationen des V-Mannes ‘Piato’ alias Carsten Sz. ging, der darüber informiert hatte, dass die drei sich Waffen besorgen und nach einem weiteren Überfall im Ausland abtauchen wollten, akzeptierte der hiesige Dienst widerspruchslos die Vorgaben aus Brandenburg, die Polizei nicht zu informieren, obwohl durch eine Bewaffnung des Trios Gefahr für Leib und Leben von Polizeibeamten entstehen musste.”
Stattdessen ließen sich Sachsens Schlapphüte augenscheinlich bereitwillig von den sogenannten V-Leuten an der Nase herumführen.

“Die Fragwürdigkeit der Praxis des Einsatzes von V-Leuten wurde dabei eindrucksvoll unterstrichen”, stellt Kerstin Köditz fest. “Um die Identität eines schwer kriminellen Spitzels zu schützen, wurde das Leben Unbeteiligter gefährdet. Selbst die einfachsten Regeln, wie das Fertigen eines Protokolls dieser Beratung, wurden nicht befolgt. Auch das zuständige Bundesamt für Verfassungsschutz wurde nicht einbezogen. Dem Zeugen Diemaier muss deshalb dafür gedankt werden, dass wenigstens seine persönlichen Aufzeichnungen gefertigt wurden. Es handelt sich um das einzige Dokument bundesweit, dass zu diesem Komplex noch erhalten ist!”

Problematisch sei allerdings der Umgang mit solchen Schriftstücken, kritisiert die Landtagsabgeordnete der Linken. “Die Mitglieder des Ausschusses dürfen sie nur im Geheimschutzraum lesen. In der Sitzung allerdings trägt der Zeuge es öffentlich weitgehend vollständig vor. Die Einstufung von Dokumenten als ‘vertraulich’ oder ‘geheim’ durch das Landesamt für Verfassungsschutz erscheint uns somit als willkürlich.”

Eine Willkür, die augenscheinlich kein brisantes Material schützt, sondern eher kaschiert, dass man gar keine substanziellen Erkenntnisse vorzuweisen hat. Man spielt lieber den Geheimniskrämer. Transparenz wäre eigentlich die notwendige Antwort. Gerade im Fall “NSU”. Und der Verdacht, dass nach dem Abtauchen der drei Jenaer Neonazis 1998 genauso unprofessionell weitergemacht wurde wie vorher, wurde an diesem Freitag eher bestärkt als abgeschwächt.

“Das Bild, das wir heute in der Zeugenvernehmung von Herrn Alfred Diemaier, bis Ende 1998 Referatsleiter beim Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) und für den Rechtsextremismus zuständig, gewonnen haben, ist erschreckend. Ein wesentlicher Teil der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Gründungsphase des (LfV) hatte keine ausreichende Ausbildung”, stellt auch Miro Jennerjahn, Obmann der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Ausschuss, fest. “Neben ‘Aufbauhelfern’ aus dem Westen wurden vor allem nicht qualifizierte Beschäftigte eingestellt: Handwerker, Tischler, Verkäuferinnen ohne politische Vorbelastung aus DDR-Zeiten. So verwundert die unterentwickelte Analysefähigkeit des LfV nicht. Lediglich sechswöchige Crash-Kurse beim Bundesamt für Verfassungsschutz reichten zur Vorbereitung auf ihre neue Aufgabe nicht.”

Wenn Sachsens Regierungspartei sich so schwer tat, diesen Untersuchungsausschuss überhaupt zustande kommen zu lassen, dann wohl auch in der berechtigten Furcht davor, wieder einmal bei schlampiger Arbeit erwischt zu werden. Eine Regierung trägt auch Verantwortung dafür, dass eine Verfassungsschutzbehörde mit professionellen Mitarbeitern ausgestattet ist. Und wenn man das nicht von Anfang an gewährleisten kann, dann sollten zehn oder zwanzig Jahre doch eigentlich genug sein, diese Professionalität herzustellen. Aber auch das steckt wohl hinter der extremen Abschottung der sächsischen Verfassungsschützer gegenüber anderen Landesschutzämtern und Polizei.

“Natürlich war der Neuaufbau eines Geheimdienstes ohne belastetes Personal Anfang der neunziger Jahre eine große Herausforderung”, betont Jennerjahn. “War das Personal des sächsischen Verfassungsschutzes für seine Arbeit qualifiziert? Jede Friseurin, jeder KFZ-Mechatroniker muss eine dreijährige Ausbildung durchlaufen, um qualifiziert zu sein. Aber in einem hochsensiblen und äußerst komplexen Bereich wie einem Inlandsgeheimdienst wurde fahrlässig Personal rekrutiert.”

Und so sieht auch die SPD-Abgeordnete Sabine Friedel die Verantwortung für dieses Versagen auf höherer Ebene: “Wir werden jetzt genau prüfen, wem der Aufbau der Behörde, die Personalpolitik und dieses Vorgehen politisch zuzurechnen ist. In jedem Fall ist es hochgradig unverantwortlich, in einem so sensiblen Bereich wie einem Geheimdienst so nachlässig und gedankenlos vorzugehen.”

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar