Lange hat es gedauert, doch nun begreift Martin Matthäus so langsam, welchen historischen Ereignissen er beigewohnt hat. Nach dem er nun auch das letzte deutsche Tor gegen Brasilien und Mario Götzes Traumtor als real empfindet, fand er Zeit, die letzten Tage in Südamerika zusammenzufassen. Ganz geflasht vom Titel.

Am Dienstag geht es bereits 6:30 Uhr mit dem Bus nach Belo Horizonte. Wir gehen auf Nummer sicher und planen genug Zeit ein. Die Fahrt führt teilweise etwas abseits der normalen Strecke. Warum, weiß nur der Busfahrer. Sie dauert mit Pausen ungefähr neun Stunden. Wir erreichen gegen 15:00 Uhr die Hauptstadt des Bundesstaates Minas Gerais. Die Hauptstraße teilt die Stadt für mich in zwei Teile. Auf der linken Seite viele Flachbauten und alte Hütten. Auf der anderen Seite Hochhäuser und moderne Gebäude.

Wir parken den Bus in der Nähe eines Einkaufszentrums, weil um das Stadion wieder ein Sperrring ist. Auf dem Weg zum Stadion treffen wir auf viele Fans aus anderen Nationen. Die Mehrheit jubelt uns zu. Viele brasilianische Fans machen Fotos mit mir. Außerdem liefern wir uns immer wieder Gesangsduelle mit den anderen Fans. Ich bin voller Hoffnung, denn der Gastgeber hat mich bisher noch nicht überzeugt. Brasilien ist nicht mehr das, was es mal war. Für mich ist Brasilien das Team von 1994. Und davon ist die aktuelle Mannschaft meilenweit entfernt.

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Vor dem und im Stadion mache ich zuerst die obligatorischen Fotos. In der Arena tobt die Stimmung vor dem Spiel. Die deutschen Fans sind in der Unterzahl, zeigen jedoch stimmgewaltig, dass wir alles geben werden. Das erinnert mich an den Film 300. Wir sind zahlenmäßig unterlegen. Jedoch sind wir zu hören. Und unsere Mannschaft nach einem anfangs ausgeglichenen Spiel nicht mehr zu übersehen. Was passiert, ist einfach nicht in Worte zu fassen.

Binnen 20 Minuten zerlegen wir die brasilianische Mannschaft regelrecht und demütigen den Gastgeber. Bis zur 30. Minute führen wir 5:0, am Ende steht es 7:1. Brasilianische Anfeuerungsrufe sind nicht mehr zu vernehmen. Ein Rekord für die Ewigkeit. Das ist einfach unfassbar. Die Ekstase, die ich spüre nach jedem Tor ist nicht zu beschreiben. Wir schauen uns ungläubig in die Augen. Sind wir wirklich hier, sind wir wach oder träumen wir? Ich kann es nicht glauben. Wir spielen uns in einen Rausch. Klose macht sich mit seinem Tor unsterblich.

Er ist nun WM-Rekordtorschützenkönig. Toni Kroos zeigt zudem eine Weltklasseleistung. Nach jedem Tor wird der deutsche Jubel einfach nur noch größer. Als der Schlusspfiff ertönt, sind wir am Ziel unserer Träume, wir sind im Endspiel im Maracana in Rio de Janeiro. Nach dem Abpfiff müssen wir noch 30 Minuten im Block bleiben – aus Sicherheitsgründen. Auf dem Rückweg zum Bus singen wir die ganze Zeit. Brasilianer jubeln uns zu.

Gegen 21:30 Uhr fahren wir wieder mit dem Bus. Hier feiern wir weiter, im Bewusstsein Zeuge eines historischen Ereignisses gewesen zu sein. Gegen 5:00 Uhr kommen wir wieder in der Pousada an und fallen erschöpft aber überglücklich ins Bett. Den nächsten Tag lesen wir die internationalen Pressestimmen und schauen uns die sieben Tore an. Immer und immer wieder. Doch der eine Schritt zum Titel fehlt noch. Und dafür müssen wir noch einmal durch Brasilien reisen.

Am Donnerstag geht es nach Rio de Janeiro. Noch elektrisiert vom phänomenalen Halbfinalsieg – oder besser von der Demütigung für die brasilianischen Kicker – fahre ich nach Rio. Wir steigen im Stadtbezirk Lapa ab – in Zentrumsnähe. Das Hotel ist ganz annehmbar, aber auch völlig egal, denn es zählt nur das Finale gegen die Argentinier. In der Nähe befindet sich auch das Partyviertel Rios, Donnerstag ist allerdings nicht so viel los. Wir gehen in einen Club, der vorzugsweise Oldies spielt. Doch das spielt keine Rolle. Wir haben trotzdem unseren Spaß und kommen erst im Morgengrauen wieder ins Hotel. Am Freitag stehen wir trotzdem relativ früh auf.
Wir nutzen das Wetter, welches nicht zum Baden einlädt und besuchen den Zuckerhut. Heute ist die Chance groß, dass der Ansturm nicht so groß ist. Und wir haben Glück: Ohne großes Gedränge erkunden wir die zwei Berge und genießen den atemberaubenden Ausblick auf die Bucht sowie die City von Rio. Danach besuchen wir die Favela Pereira da Silva. Einer aus unserer Reisegruppe wohnt dort bei einem Freund. Zum Anfang beschleicht uns ein mulmiges Gefühl. Wir wurden jedoch vorher “angemeldet” und unser Freund wohnt bei einem der Gründer des Wohnviertels. Das bedeutet Sicherheit. Er zeigt uns, wie die Menschen dort leben. Und zu unserer Überraschung haben die Bewohner dort auch Strom, fließend Wasser und sogar Internet.

Die Favela, so erzählt unser Gruppenmitglied, wurde vor ein paar Jahren von der Polizei von den Banden beräumt. Jedoch war die Polizei nur wenige Jahre da. Jetzt herrscht wieder eine Bande und organisiert das Leben in der Favela. Die Favela ist berühmt für das “Porjekt Morrinho”. Dieses war ursprünglich für Kinder gedacht, ist nun aber ein soziales Projekt, welches Nachahmer in der ganzen Welt findet. Dabei werden die typischen roten Bausteine bemalt. Dort werden verschiedene Dinge dargestellt. Es ist beeindruckend zu sehen, wie die Steine detailgetreu bemalt und aufgestellt wurden. Wir machen auch einige Fotos.

Auf dem Weg zum Ausgang der Favela kommen wir gerade an einem Drogengeschäft vorbei. Zwei Mädels von außerhalb kaufen sich Kokain. Wir lassen uns nichts anmerken – das gehört zu den Verhaltensregeln, die uns vorher gesagt wurden – und gehen einfach weiter. Danach geht’s wieder zurück ins Hotel und fertig machen für den Abend. Wir gehen wieder nach Lapa. Dieses Mal in einen anderen Club. Die Hütte ist voll und ich werde oft angesprochen, ob ich Deutscher bin. Ich führe viele Gespräche mit Einheimischen. Diese wünschen uns trotz der Schmach im Halbfinale viel Glück gegen Argentinien im Finale. Ist es doch für die Brasilianer eine viel größere Schmach, wenn der Erzrivale im Maracana Weltmeister wird. Vergleichbar mit einem holländischen Weltmeistertitel in Berlin – unvorstellbar!

Als ich vor der Disco stehe, um frische Luft zu schnappen, merke ich erst, dass das hier das absolute IN-Viertel in Rio ist. Die Straßen sind vollkommen verstopft, weil die Leute darin stehen und feiern. Die Polizei setzt sogar Tränengas ein, um die Wege für die Busse und Autos freizuhalten. Das ist jedoch zwecklos. Ebenfalls im Morgengrauen geht es erst wieder Richtung Hotel.

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Am Samstag steht erstmal ausschlafen auf dem Programm. Dann geht es zur berühmten Jesusstatue. Mir ist der Andrang um die Mittagszeit jedoch trotz des schlechten Wetters zu viel und ich beschließe dann eher zur Copacabana zu gehen, wo wir am Nachmittag das Spiel um Platz drei schauen wollen. Das war die richtige Entscheidung. Das FIFA-Fanfest füllt sich schon sehr zeitig und ich sichere mir einen guten Platz. Später stoßen dann die anderen aus der kleinen Partygruppe – wir sind 7 Leute – dazu. Zu unserem Erstaunen vergeigt Brasilien auch dieses Spiel. Der Abend endet heute zeitiger, da meine Gesundheit langsam der langen Reise Tribut zollt und ich am Finaltag fit sein möchte.

Am Finaltag stehe ich bereits 6:30 Uhr auf, weil ich nun heute endlich die Jesusstatue besichtigen und der Erste auf dem Plateau sein will. Leider bin ich nicht der Einzige, der die Idee hatte. Trotzdem muss ich nur 30 Minuten warten, bis ich bei dem Monument bin. Ich überblicke Rio und kann auch das Maracana-Stadion sehen. Ich erbete göttlichen Beistand für den heutigen Abend und den Finalsieg unserer deutschen Elf. Anschließend fahre ich zur Copacabana und stärke mich. Dort treffe ich viele deutsche Fans und Andreas Rettig von der DFL. Nach einem kurzen Plausch über den Leipziger Fußball ziehe ich weiter.

Ich will pünktlich im Stadion sein, beim Spiel der Spiele, dem Grund warum ich überhaupt hier bin. Ich nehme sicherheitshalber ein Taxi, damit ich in keinen Bus- oder U-Bahnstau komme. Ich komme pünktlich an. Meine Gedanken kreisen die ganze Zeit um das Finale und den möglichen Sieg. Haben wir genug Anführer im Team? Hat Schweini einen guten Tag? Macht Klose sich unsterblich? Die Aufregung steigt von Minute zu Minute. Meine Begleitetung und ich halten es nicht mehr aus. Hinter mir sitzt übrigens Tom Gerhard alias Hausmeister Krause, ein echter Fußballfan.

Dann ist es endlich soweit. Die Teams laufen ein, alle singen unserer Nationalhymne und los geht’s. Das Spiel ist von Anfang an auf hohem Niveau. Beide Mannschaften schenken sich nichts und erspielen sich Chancen. Mein Adrenalinspiegel steigt ins Unermessliche. Die reguläre Spielzeit bringt keine Entscheidung – Verlängerung. Ich halte es nicht aus, es ist unerträglich. Alles, nur kein Elfmeterschießen! Dann kommt kurz vor Schluss endlich die Erlösung. Mario Götze vollendet gekonnt nach Vorlage von André Schürrle.
Nach dem Tor entbrennt Riesenjubel. Wir können es nicht fassen. Kurz vor Schluss gehen wir in Führung. Ausgerechnet Götze, der bisher bei der WM eher enttäuscht hatte, schießt das 1:0. Wir springen umher, singen, feiern und zählen nun die Sekunden bis zum Schlusspfiff. Als dieser ertönt gibt es kein Halten mehr. Pure Freude und Ausgelassenheit. Wir liegen uns alle in den Armen und können es nicht fassen. Wir sind Weltmeister. Die Nummer eins der Welt.

Es beginnt eine unvergleichliche Partynacht. Wir feiern was das Zeug hält. Zuerst mit der Mannschaft im Stadion über eine Stunde und dann die ganze Nacht. Überall brandet uns Jubel entgegen. Wir machen die Nacht zum Tag und feiern dann in Lapa. Ich bin erst gegen 9:00 Uhr am nächsten Morgen im Hotel. Dementsprechend fertig bin ich am Montag. Ich verbringe den ganzen Tag im Hotel und regeneriere so gut es geht. Meine Erkältung macht sich immer mehr bemerkbar. Ich will nach dem großen Triumph einfach nur noch nach Hause. Die Mission ist erfüllt.

Am Montagabend schleppe ich mich zum letzten Mal zusammen mit meinen Kumpels in ein typisch brasilianisches Restaurant. Danach besorgen wir uns ein paar Bier an der Tanke und verbringen den Tageswechsel am Strand von Botafogo. Es steht mein runder Geburtstag an. Eigentlich wollten wir in einer Disco reinfeiern, jedoch lässt mein Gesundheitszustand nicht mehr zu. Gegen 1:00 Uhr sind wir wieder im Hotel. Am Dienstagmorgen gings’s dann am frühen Vormittag mit dem Flugzeug über Salvador und Recife nach Frankfurt in die Heimat – und von dort mit dem ICE weiter nach Leipzig. Gegen 16:30 Uhr komme ich endlich in der Heldenstadt an – als Weltmeister.

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