Wie konnte es zu dieser elenden Finanzkrise von 2007/2008 kommen, die sich im Jahr 2012 zu einer Staatsschuldenkrise verschärft hat? Warum feiert ein Land wie die Bundesrepublik Rekordexporte und Rekordsteuereinnahmen - und trotzdem sind die meisten Kommunen im Land pleite? Wie kam es dazu? Wirkten da seltsame Naturgesetze? Warum haben Wirtschaftswissenschaftler nicht gewarnt? - Vielleicht einfach, weil sie eine falsche Theorie vertreten. Schluss damit, fordern jetzt 97 deutsche Wissenschaftler.

In ihrem Aufruf “Für eine Erneuerung der Ökonomie” fordern die Initiatoren von der Denkfabrik für Wirtschaftsethik eine grundlegende Öffnung der Wirtschaftswissenschaften. Trotz Finanzkrise werde die wirtschaftswissenschaftliche Lehre und Forschung immer noch von einer einzigen Sichtweise dominiert, die sich selbst zu wenig in Frage stelle. Dies sei unwissenschaftlich. Statt einer “ethisch fragwürdigen Ökonomisierung des Denkens Vorschub zu leisten”, sollte eine “wissenschaftlich redlich geführte Streitkultur” Einzug halten.

“Die Wirtschaftswissenschaften haben sich seit Jahrzehnten dogmatisch verkapselt”, sagte Ulrich Thielemann, Direktor der Denkfabrik für Wirtschaftsethik. Dies sei kein rein akademisches Problem, sondern auch von hoher gesellschaftspolitischer Bedeutung. “Denn in einer Gesellschaft, in der ökonomische Rationalitätsmuster immer weitere Lebensbereiche umgreifen und ökonomisieren, bedarf es einer distanzierten Perspektive, die diese Entwicklungen beurteilbar macht.”

Die Ausbildung solcher Perspektiven werde jedoch durch die Karrieremuster, die sich gegenwärtig innerhalb der Wirtschaftswissenschaften festgesetzt haben, verhindert. Darum sei auch die Wissenschaftspolitik gefragt.

97 Professorinnen und Professoren aus den verschiedensten Fachrichtungen unterstützen das Anliegen des Memorandums als Erstunterzeichner. Darunter finden sich auch über akademische Kreise hinaus bekannte Personen wie etwa Christoph Butterwegge, Wilhelm Heitmeyer, Rudolf Hickel, Max Otte und Joseph Vogl. Der Aufruf kann auf der Webseite der Denkfabrik für Wirtschaftsethik eingesehen und unterzeichnet werden.

Ein gutes Schlaglicht auf das Thema und seine Wirkungen auf gesellschaftliche Interpretationen bietet das gerade erschienene Buch “Why Nations Fail. The Origins of Power, Prosperity and Poverty” von Daron Acemoglu und James Robinson, das Christian Rickens auf “Spiegel Online” bespricht. Es analysiert, wie der Reichtum von Nationen entstand und welche Rahmenbedingungen dazu beitrugen – hoppla! – diesen Reichtum zu mehren und zu erhalten.

“Wobei es um die Faktoren, die den Wohlstand eines Landes dauerhaft mehren, in der Fachwelt relativ wenig Streit gibt”, schreibt Rickens, selbst studierter Volkswirtschaftler und Leiter des Wirtschaftsressorts bei “Spiegel Online”. “Entscheidend sind funktionierende gesellschaftliche Institutionen: unabhängige und faire Gerichte. Eine Verwaltung, die nicht allzu korrupt ist. Eine Regierung, die sich den Interessen des Volkes stärker verpflichtet fühlt als dem eigenen Wohlergehen. Schulen, in denen Kinder tatsächlich etwas lernen und nicht bloß verwahrt werden. Solche funktionierenden Institutionen schaffen eine gesellschaftliche Atmosphäre, in der Menschen einen Anreiz besitzen, zu sparen und zu investieren, sich zu bilden und Innovationen hervorzubringen. Aus dieser Akkumulation von Kapital und Wissen entsteht dauerhaftes Wirtschaftswachstum.”Eine Regierung, die sich den Interessen des Volkes stärker verpflichtet fühlt als dem eigenen Wohlergehen? Schulen, in denen Kinder tatsächlich etwas lernen und nicht bloß verwahrt werden?

Wer die aktuelle sächsische Politik verfolgt, bekommt bei solchen Sätzen natürlich eine Gänsehaut. Denn wenn eine Regierung die gesellschaftlichen Grundlagen des Wohlstands untergräbt, gerät das Land zwangsläufig in eine Abwärtsspirale. Auch wirtschaftlich. Reichtum und wirtschaftlicher Erfolg sind aufs engste mit den staatlichen Funktionsqualitäten verkoppelt. Man kann sie nicht losgelöst voneinander denken.

Die Wirtschaftslehre aber, die genau das tut und dann auch medial die Priorität der “Wirtschaft” über die Gesellschaft setzt, ist der Neoliberalismus in all seinen Spielarten. Am klassischsten hat das der US-amerikanische Ökonom Milton Friedman in eine Theorie gegossen. Für ihn steht der “freie Markt” kontrovers den “Nachteilen staatlicher Eingriffe” gegenüber. In seinem Buch “Kapitalismus und Freiheit” (1962) hat er die Theorie am deutlichsten formuliert. Hier postulierte er die Forderung nach einer Minimierung der Rolle des Staates, um – nach seiner Theorie – “politische und gesellschaftliche Freiheit” zu erlangen.

Es waren die US-amerikanischen Präsidenten Nixon und Reagan und die britische Premierministerin Thatcher, die Miltons Theorie zur Grundlage politischen Handelns gemacht haben. Das Ergebnis war zwangsläufig die stärker werdende Kluft zwischen Arm und Reich, das Wegschmelzen der Mittelklasse und – da sich der Ruf nach “weniger Staat” auch in forcierten Forderungen nach niedrigeren Steuern und einem Rückbau des Staates umsetzte – steigende Staatsschulden.

Das Wahnwitzige dabei: Die Vertreter des Neoliberalismus sehen in den staatlichen Sozialsystemen die Ursache für die Staatsschulden. Doch ein Blick auf alle Statistiken zeigt: Die Staatsschulden stiegen in den europäischen Staaten im schönen Gleichschritt mit dem Wettlauf um Steuersenkungen. Ganze Gruppen von Gutverdienern verabschiedeten sich aus der Finanzierung – nicht nur der Sozialsysteme, sondern aller staatlichen Leistungen – von der Armee über die Polizei bis hin zum Ordnungsdienst in den Städten.

Was dafür seit den 1980er Jahren verstärkt entstand, war eine keineswegs selbstlose “Elite”. Am 15. Februar veröffentlichte “Spiegel Online” eine Meldung dazu, die die Dimension dieser gesellschaftlichen Umverteilung von Reichtum deutlich machte – auf die aber nicht weiter eingegangen wurde. “Während die Regierungen in der Krise jeden Cent zusammenkratzen, haben die Deutschen ein riesiges Vermögen angehäuft. Abzüglich ihrer eigenen Verbindlichkeiten besitzen sie rund 8,5 Billionen Euro. Genug Geld, um die Schulden aller Euro-Länder komplett abzubezahlen.””Allein das Geldvermögen hat sich in den vergangenen 20 Jahren fast verdreifacht: Es stieg von 1.750 Milliarden Euro im ersten Quartal 1991 auf mittlerweile 4.662 Milliarden Euro”, heißt es da weiter. Es wird zwar immer von “Sparern” gesprochen dabei. Aber es ist die winzige “Elite” der rund 800.000 Superreichen, die ihr Vermögen hier vermehrt – mit dem Geld aber mittlerweile immer weniger anzufangen weiß. Es geistert in wilden Fonds herum und jagt nach immer neuen Gewinnchancen. In den gesellschaftlichen Kreisläufen fehlt es. Die deutschen Kommunen sitzen auf einem Investitionsstau von über 100 Milliarden Euro – und sehen nicht die geringste Chance, diese Investitionen überhaupt zu tätigen.

Leipzig müsste über 1 Milliarde Euro investieren, um Schulen, Kitas, Straßen, Brücken, öffentliche Gebäude zu sanieren oder zu bauen. Das Geld hat die Stadt nicht, obwohl es hier genauso erwirtschaftet wird wie anderswo in Deutschland. Doch das komplizierte – und wohl auch mit einiger Absicht undurchschaubar gemachte – Steuersystem in Deutschland sorgt dafür, dass der erwirtschaftete Reichtum der Nation nicht mehr dahin fließt, wo er gebraucht wird und selbst wieder Wohlstand und neue Investitionen erzeugen würde.

Rickens kann – mit Verweis auf Daron Acemoglu und James Robinson – mit bestem Recht schreiben: “Kleine Unterschiede zwischen Staaten führen in entscheidenden Momenten zu unterschiedlichen Weichenstellungen, und von diesem einmal eingeschlagenen Pfad wieder herunterzukommen, ist dann sehr schwer. Wenn ein Staat einmal mit einer Elite geschlagen ist, die sich vor allem selbst bereichert – dann wird auch eine Revolution daran wenig ändern.”

Doch das Denken dieser “Elite” hat in den letzten 30 Jahren auch die Art von Wirtschaftslehre beeinflusst, die an deutschen Wirtschaftslehrstühlen vermittelt wird. Der einzige Maßstab für wirtschaftliche Prosperität ist der “Markt”. Man betrachtet BIP, Inflation und Geldumlauf ganz allein für sich – ohne ihre Rolle im gesamtgesellschaftlichen Kontext. Man lässt auch statistisch “Geld arbeiten”, beäugt Börsenindizes und das Wachsen von Fonds.

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Man kann sich all diese Forschungen anschauen, die in dieser Art auch in Teilen der Wirtschaftsfakultät der Uni Leipzig passieren. Sie blenden den Faktor Gesellschaft oder gar den Stabilitätsfaktor Staat völlig aus, rechnen all diesen “Wachstumszahlen” nicht hinzu, welche geldwerte Rolle tatsächlich funktionierende Bildungssyteme, Ordnungs- und Sicherheitsbehörden, eine gute Justiz und stabile demokratische Rahmenbedingungen dabei spielen. Es ist, als hätte das alles mit dem “Shareholder Value” der Geldmacher nichts zu tun.

Diese Art Wirtschaftslehre hilft der Gesellschaft nicht, im Gegenteil – sie schadet ihr, weil sie das Wichtigste ausblendet und sogar demoliert mit falschen Argumenten. Da darf man durchaus das Wort verantwortungslos benutzen. Denn die Art Wirtschaft, die hier theoretisch untermauert scheint, ist eine parasitäre Wirtschaft, die ihren Wirt aussaugt und lebensunfähig macht.

Aber auch in Leipzig gibt es Zeichen des Umdenkens. Der Wirtschaftswissenschaftler Dr. Sebastian Thieme unterstützt den Aufruf “Für eine Erneuerung der Ökonomie”. Die Krise von 2008 hat nicht wirklich zu einem Umdenken geführt. Und so lange sich Politiker durch die fragwürdigen Thesen aus dem Warmhaltebeutel der Chicagoer Schule bestätigt sehen, wird auch in der Wirtschaftspolitik kein Umdenken beginnen, werden Ministerpräsidenten nicht anfangen, den so geschmähten “teuren Staat” als wichtige Grundlage stabiler Wirtschaftsentwicklung zu begreifen, werden sie Bildungsinvestitionen nicht als Wirtschaftsförderung begreifen, werden sie auch Infrastrukturinvestitionen in ÖPNV, Krankenhäuser und Polizeiwachen nicht als Wirtschaftsfaktoren begreifen, sondern immer wieder in aller Einfalt so tun, als sei der “Staat” viel zu aufgeblasen, müsse “schlanker” werden, auch wenn kein einziger Minister mit Zahlen belegen kann, wie “schlank” ein Staat sein darf, bevor er in Korruption und Machtlosigkeit verfällt.

www.uni-leipzig.de/~thieme

MEM – Denkfabrik für Wirtschaftsethik: www.mem-wirtschaftsethik.de

“Spiegel Online” zum Buch “Why Nations Fail”: www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/0,1518,824393,00.html

“Spiegel Online” zum Reichtum der deutschen “Elite”: www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/0,1518,815556,00.html

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