Es gibt auch Organisationen und Fraktionen, die sich mit dem via LVZ lancierten Thema "fahrscheinloser ÖPNV" schon etwas intensiver beschäftigt haben. Auch in Zeiten, als noch niemand lauthals ein Hunderte-Millionen-Euro-Defizit im Mitteldeutschen Verkehrsverbund (MDV) verkündete. Schon gar nicht unter der Prämisse, das müsste nun alles gar noch über eine "Zwangsabgabe" ausgeglichen werden. Hier jetzt also mal die Befürworter der Idee. Auch, wenn wohl nicht alle von ihnen bemerkt haben, welches Spiel die LVZ da treibt.

“Mit Freude und Genugtuung haben wir der heutigen Ausgabe der LVZ entnommen, dass sich der Mitteldeutsche Verkehrsverbund (MDV) öffentlich für die Einführung eines fahrscheinlosen Nahverkehrs einsetzt”, vermeldeten gleich am Freitagmittag der Vorsitzende der Leipziger Linken, Dr. Volker Külow, der Linke-Stadtrat Reiner Engelmann und die designierte Linke-Stadträtin Franziska Riekewald, die beiden Letztgenannten übrigens auch Mitglied der AG fahrscheinloser ÖPNV, so etwas gibt es in der Leipziger Linkspartei. Das Thema beschäftigt die Partei schon länger. “Damit greift der MDV einen Vorschlag auf, den die Leipziger Linke in ihrem Kommunalwahlprogramm 2014 explizit unterbreitet hatte. Ein durch alle Leipzigerinnen und Leipziger solidarisch finanzierter Öffentlicher Nahverkehr (ÖPNV) ist für alle ein Gewinn. Nicht nur die Finanzierung der LVB würde dadurch auf ein sicheres Fundament gestellt, auch die Bürgerinnen und Bürger würden von einem niedrigeren Monatspreis profitieren. Selbst diejenigen Leipzigerinnen und Leipziger, die das Ticket nicht nutzen, werden von weniger frequentierten Straßen, weniger Lärm und weniger Umweltbelastung erheblich profitieren.”

Seit über einem Jahr arbeite die Leipziger Linke in einer eigens dafür gegründeten Arbeitsgruppe an einem Konzept zur Umsetzung des Bürger-Tickets. “Wir gehen dabei davon aus, dass sich die Stadt Leipzig nicht aus ihrer Verantwortung zur Finanzierung des ÖPNV stehlen darf. Die Einführung eines völlig neuen Finanzierungskonzeptes für den ÖPNV darf darüber hinaus kein Schnellschuss werden und kann nur gelingen, wenn die Leipzigerinnen und Leipziger bei der Umsetzung frühzeitig und möglichst umfassend einbezogen werden, um das Bürger-Ticket eben nicht als ‘Zwangsticket’ zu empfinden. Daher haben wir in unserem Kommunalwahlprogramm auch auf Seite 31 einen Bürgerentscheid zu diesem wichtigen Thema gefordert”, stellen die drei Linke-Politiker fest. “Die Linke wird auch in diesem Sinne auf den MDV zugehen, um die notwendige Diskussion zum Bürger-Ticket fortzusetzen.”

So kommentiert es auch Marco Böhme, Landtagsabgeordneter der Leipziger Linken und in seiner Fraktion zuständig für Verkehrs- und Klimaschutzpolitik: “Den Kritikern, die das Modell des fahrscheinfreien ÖPNV als Zwangsabgabe bezeichnen, möchte ich entgegnen, dass es diese Zwangsabgabe schon heute gibt – und zwar für all die Menschen, die auf den ÖPNV angewiesen sind und dafür sehr hohe Beträge für Fahrkarten zu zahlen haben. Gleichzeitig zahlen alle für die Infrastrukturkosten in der Stadt. Das solidarische Modell des Bürgertickets senkt die Kosten für den Einzelnen und steigert die Lebensqualität aller. Auch ein Autofahrer genießt schließlich erhebliche Vorteile, wenn es weniger Staus, Abgase und Lärm auf den Straßen gibt.”

Die Leipziger Linke diskutiere seit einem Jahr das Modell “Fahrscheinfrei mit Bus und Bahn”, das sich durch eine Gemeinschaftsfinanzierung von Bürgerinnen und Bürgern sowie der Wirtschaft zusammensetzen soll. Eine Finanzierungssäule sieht eine allgemeine Abgabe für die Einwohner der Stadt ähnlich wie bei der Abfallentsorgung und der Straßenreinigung vor. Böhme: “Die Linke setzt bei diesem Modell aber auf einen sozialen Ausgleich. Das heißt, dass Kinder und Menschen mit niedrigen Einkommen keine oder nur eine geringe Abgabe zu leisten haben.”

Und Susanna Karawanskij, Mitglied des Deutschen Bundestages und Sprecherin für Kommunalfinanzen der Fraktion Die Linke, fügt hinzu: “Zweifelsohne wird mehr Geld für die Aufrechterhaltung und den Ausbau eines guten ÖPNV benötigt. Dabei muss auch über neue Wege nachgedacht werden. Der Mitteldeutsche Verkehrsverbund tut sich aber keinen Gefallen, wenn er von einem ?Zwangsticket? spricht. Mit Zwang gewinnt man die Menschen nicht für seine Ideen. Vielmehr sollte auf breiter Ebene ein Bürgerticket als Solidarmodell diskutiert werden. Finanzierungsalternativen und die tatsächlichen Berechnungen müssten dann aber gemeinsam öffentlich debattiert werden. – Eine Finanzierung über die Grundsteuer – wie im LVZ-Artikel beschrieben – halte ich für wenig sinnvoll, da so ein kommunaler Wettbewerb ausgerufen würde. Verschiedene Szenario-Rechnungen müssen daher seriös und mit entsprechendem Zahlenmaterial erfolgen. Vor allem müssen die kommunalen Finanzen gestärkt werden, damit Städte und Gemeinden handlungsfähig bleiben.”Klare Zustimmung auch vom Ökolöwen

Der Leipziger Umweltbund Ökolöwe begrüßt, dass der Mitteldeutsche Verkehrsverbund endlich den Blickwinkel der Politik auf neue Finanzierungsmodelle erweitert und in seinem Strategiepapier klare Auswege aus der Preisspirale aufzeigt.

“Die Aufgabe der Politik besteht darin, den öffentlichen Nahverkehr attraktiver zu machen und mehr Nutzer für die umweltfreundlichen Verkehrsmittel zu gewinnen, ohne dass dabei die Ticketpreise weiter durch die Decke gehen. Das schont Ressourcen, bringt mehr Kaufkraft in die Stadt und macht die Straßen frei für den Wirtschaftsverkehr. Es darf hier keine Denkverbote geben”, erklärt Tino Supplies, verkehrspolitischer Sprecher des Ökolöwen.

Es brauche Lösungen, die in Leipzig schon kurz- bis mittelfristig tragfähig seien, denn die Zeit dränge. Bund, Länder, Landkreise und Stadt hätten sich bei der Finanzierung des öffentlichen Nahverkehrs in der Vergangenheit immer weiter aus der Verantwortung gestohlen.

Die LVB beispielsweise haben im Jahr 2004 noch rund 63 Millionen Euro über die LVV von der Stadt erhalten – heute sind es nur noch 45 Millionen. In der Folge zerbröselt die Infrastruktur, während die Fahrscheine gleichzeitig immer teurer werden. In dem Punkt sei jetzt eine 180 Grad-Wendung der Politik gefragt. Aus Sicht des Umweltbunds Ökolöwe werde die Politik dabei um ein neues Umlagesystem nicht herumkommen, das bestehende Finanzierungsinstrumente ergänzt. Ob dabei am Ende eine preisgünstige Flatrate in Form eines Bürgertickets steht oder eine Lösung nach französischem oder Wiener Vorbild, bliebe zu diskutieren. Denkbar wäre auch eine Kombination aus verschiedenen Modellen, um die Kosten für den Einzelnen gering zu halten und stattdessen auf mehrere Schultern zu verteilen.

“Diejenigen Politiker, die mit Kampfbegriffen um sich schmeißen und alternative Finanzierungsformen gänzlich ablehnen, müssen jedenfalls klar benennen, wie sie mit Steuermitteln die Finanzierungslücke schließen werden und die Ticketpreise sozial verträglich halten”, fordert Supplies.

VCD Landesverband Elbe-Saale mahnt Versachlichung der Debatte an

“Die Geldnot im öffentlichen Nahverkehr wird immer prekärer”, zitiert der Verkehrsclub Deutschland (VCD), Landesverband Elbe-Saale, den ersten Satz aus dem LVZ-Artikel vom 17. Oktober.

Unter anderem sei dort von der Einführung eines Bürger-Tickets die Rede, welches alle Leipzigerinnen und Leipziger kaufen müssten – im Gegenzug wäre die Benutzung des Nahverkehrs für sie kostenfrei. “Diese Idee ist nicht neu, sondern bereits seit vielen Jahren unter unterschiedlichen Namen (z.B. fahrscheinloser ÖPNV) in der Diskussion”, stellt der VCD fest. “Neben der Einführung eines Bürgertickets präsentierte der MDV noch eine ganze Reihe möglicher Finanzierungselemente, angefangen von einer Erhöhung der Parkgebühren zu Gunsten des ÖPNV, einer Erhöhung der Grundsteuer bis hin zu einer Nahverkehrsabgabe, die in Frankreich erfolgreich zu einer Renaissance der Straßenbahnen geführt hat.”

Der ökologische Verkehrsclub Deutschland (VCD), Landesverband Elbe-Saale, unterstütze den MDV und seine Initiative, nach alternativen Finanzierungsmöglichkeiten für den ÖPNV zu suchen, teilt er mit. Denn schon heute sei der öffentliche Nahverkehr das Rückgrat der städtischen Mobilität. Außerdem sei ein gut ausgebauter ÖPNV das beste Mittel, um Lärmbelastungen, Feinstaubemissionen und sonstige Belastungen für die Gesundheit der Stadtbewohner effektiv zu mindern.

“Polarisierungen schaden dabei mehr als sie helfen”, erklärt dazu Michael Schmiedel, Vorsitzender des VCD Elbe-Saale. “Vielmehr ist es notwendig, mit den kommunalen Entscheidungsträgern eine sachliche Debatte zu führen. Einseitige Stimmungsmache verhärtet die Fronten und führt zu keiner Lösung.”

Nach Ansicht des VCD sei es notwendig, die Debatte über die zukünftige Finanzierung des ÖPNV jetzt zu führen, vor allem auch vor dem Hintergrund sinkender Zuschüsse von Stadt, Freistaat und Bund.

VCD-Hintergrund, “ÖPNV zum Nulltarif – Möglichkeiten und Grenzen”: www.vcd.org/fileadmin/user_upload/redakteure_2010/themen/nahverkehr/20120911_OEPNV-Hintergrund.pdf

Zum Papier der Linken: www.die-linke-in-leipzig.de/fileadmin/lcmssvleipzig/pdf/SR-Wahl/KWP_INet.pdf

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