Natürlich hat das Folgen, wenn ein ganzer Landesteil mit 16 Millionen Einwohnern praktisch keine Stimme hat im Konzert der großen deutschen Medien. Mit Einschränkungen für das gern ignorierte sechste ostdeutsche Bundesland Berlin. Aber wer genau hinschaut, sieht auch dort, dass im großen Medienmarkt München, Hamburg und Frankfurt immer als wichtiger gelten. Selbst in Büchern und Weihnachtserzählungen ist das so.

Auch wenn Berlin inzwischen die größte deutsche Verlagsstadt ist. Aber auch den Berliner Verlagen geht es so: Sie müssen auf den dominierenden westdeutschen Käufermarkt Rücksicht nehmen. Und dort scheint das Interesse für das, was da im östlichen Teil der Republik vor sich geht, denkbar gering. Für ostdeutsche Geschichte ebenso.

Das merkt man spätestens beim Durchstreifen einer Buchhandlung. Es dominieren dort nicht nur die Programme westdeutscher Verlage, sondern auch die westdeutschen Themen. Selbst bei Romanen und Erzählungen. Und wer dann gar die Ecke mit den Weihnachtsbüchern aufsucht, findet jede Menge stark religiös dominierter Literatur, in der Kirchen und Engel und weihnachtliche Erweckungen die Hauptrolle spielen – etwas, was mit den Weihnachtserfahrungen der Ostdeutschen fast nichts zu tun hat.

Deswegen verblüfft nur auf den ersten Blick, dass Jana Hensel (bekannt durch ihr 2002 erschienenes Buch „Zonenkinder“) jetzt mit einem Weihnachtsbuch in der Edition Chrismon erscheint. Aber schon nach wenigen Seiten ist man drin in genau jenem Thema, das Jana Hensel seitdem nie losgelassen hat. Denn sie steht selbst mit ihren regelmäßigen Beiträgen in der „Zeit“ für jene seltenen Weltenwanderer aus dem Osten, die in großen Westmedien nicht nur ihren Platz finden, sondern auch ihre Sicht auf die Welt bewahren dürfen und sich nicht dem anpassen müssen, was erwartet wird, dem, was unsere rechtsradikalen Blitzmerker so gern den „Mainstream“ nennen.

Denn der Vorwurf des „Mainstreams“ funktioniert ja nur deshalb, weil er ein Stück Wirklichkeit spiegelt: Die unhinterfragte Normalsicht in den großen, sämtlichst westdeutsch dominierten Medien. Der Osten taucht darin als Exotikum auf, nicht als ein normales Stück Deutschland. Denn das ist die erste Frage, die beim Lesen von Jana Hensels Geschichte auftaucht: Warum ist es so schier unmöglich, die ostdeutsche Geschichte ganz selbstverständlich zu einem Bestandteil der gesamtdeutschen Geschichte zu machen? Waren wir etwa 40 Jahre auf dem Mond? Haben wir das Universum verlassen? Ist dieses 40 Jahre lange Stück Zeitgewebe so kontaminiert, dass es auch noch in 100 Jahren in der Entgiftungskammer schmoren muss?

So fragt Jana Hensel natürlich nicht. Sie erzählt lieber, was ihrer Heldin zu Weihnachten geschieht, als sie sich einverstanden erklärt, im Kindergarten ihres Jüngsten den Weihnachtsmann zu spielen. Dazu lässt sich ihre Heldin – Übersetzerin von Beruf, in Leipzig aufgewachsen, aber nach etlichen Reisen in die Welt in Berlin gelandet, also eine typische ostdeutsche Grenzgängerin – von ihrem Vater sein altes Weihnachtsmannkostüm schicken.

Es ist auf den ersten Blick ein Erinnerungsbuch. Denn mit dem Kostüm verbinden sich lauter Erinnerungen an die Kindheit im Neubaugebiet Lößnig, wo der Vater von Melanie jedes Jahr den Weihnachtsmann spielte. In einer Zeit, in der sich Nachbarn noch kannten, wo man sich in den Schlangen beim Fleischer oder bei Festen im Sportlerheim traf. Wo Alte und Junge sich ebenso freuten, wenn einer tatsächlich jedes Jahr ins selbst genähte Weihnachtsmannkostüm schlüpfte, um überall ein bisschen Freude zu bringen. Oder – wie bei einem 80-jährigen Rentnerpaar – ein bisschen menschliche Wärme.

Und dabei geht es nie um die wirklich dämliche Frage, wie man es eigentlich mit diesem Staat hielt. Selbst Melanie merkt, unter welch prekären Bedingungen die Gießerei arbeitet, in der ihr Vater tätig ist. Später wird er jahrelang mittendrin sein in all den Umstrukturierungen, Fusionen und Entlassungswellen, die dem Osten die wirtschaftliche Grundlage entzogen. Es ist ihre eigene, erlebte Geschichte. Erinnerungen kann man niemandem nehmen. Sie bleiben auch dann lebendig, wenn eine fortgeht. Und sie ist ja nicht die einzige, die fortgegangen ist und dann in ihren Briefen aus aller Welt lieber nicht darüber schrieb, wie sie an die alte Heimat zurückdachte.

Natürlich war das immer ein schmerzliches Thema. Eltern verlieren die Nähe zu ihren Kindern, befürchten wohl auch zu Recht, dass sie ihnen fremd werden. Und gerade in den Gesprächen mit ihrem alten Schulfreund, den es noch viel weiter weg in die Ferne verschlagen hat, merkt Melanie, dass ihr die Stadt ihrer Kindheit tatsächlich fremd geworden ist. Sie ist zu etwas anderem geworden – einem Ort der Erinnerung und einem Stück der eigenen Geschichte. Man wird sie nicht los, spürt aber bei den seltener gewordenen Besuchen daheim, dass man tatsächlich nicht mehr dazugehört.

Ganz sachte tippt Jana Hensel in der Rolle der Ich-Erzählerin diese Erinnerungsschichten an, die sich spätestens in dem Moment öffnen, in dem Melanie das Paket mit dem Weihnachtsmannkostüm öffnet. Auf einmal sind nicht nur all ihre Weihnachten als Kind wieder präsent, an denen sie am Fenster sehnsüchtig auf den heimkehrenden Vater im Weihnachtsmannkostüm wartete. Aber auch die Selbstentlarvung des Vaters in der Warteschlange beim Fleischer gehören dazu und die Zeit danach, als Melanie den Vater im Wichtelkostüm begleitete und so auch selbst die Wohnungen der Nachbarn kennenlernte, jene Welt, die uns westdeutsche Interpreten gern als „alle gleich“ verkaufen wollen, obwohl das Leben in der DDR ihre Bewohner geradezu zwang, zu improvisieren, Dinge selbst zu bauen und erfinderisch zu sein. Denn wenn das Leben im Osten eines nicht war, dann normiert.

Wir leben in lauter solchen Interpretationsmustern, die Leute in die Welt gesetzt haben, die nie im Osten gelebt haben, die aus der Ferne diagnostizieren, wer wir bitteschön gewesen zu sein haben.

Harte Worte nach dem Lesen eines so einfühlsamen Buches, mit dem Jana Hensel zeigt, dass es alle diese künstlichen Widersprüche gar nicht gibt. Dass auch das Weihnachtsfest in der DDR eines war, das Menschen besinnlich werden ließ, Nähe und Freundlichkeit ermöglichte nach einem Jahr voller Arbeit. Auch wenn die erleuchteten Fenster der kleinen Kirchgemeinde im Ortsteil wie ein Gegenentwurf wirken. Melanies Klassenkamerad spielt dort Weihnachten für Weihnachten den Joseph. Und während sich ringsum alles veränderte, blieb das Gemeindehaus wie ein Anker in der Zeit bestehen. Auch das gehört dazu. Selbst für den Vater, der nun auf einmal voller Überzeugung erzählt, früher sei er mit der Familie zu Weihnachten auch in die Kirche gegangen.

Aber das Buch erzählt von keinem Generationenkonflikt. Melanies Eltern sitzen ganz und gar nicht vergrämt zu Hause und grollen über das abwesende Kind. Das hat ja als dreifache Mutter genug zu tun in der Berliner Weihnachtszeit. Für ihre Kinder ist das Fest genauso aufregend wie einst für sie selbst – auch wenn es nur der Jüngste ist, der noch fest davon überzeugt ist, dass der Weihnachtsmann tatsächlich Wände hochklettern kann. Dieses heutige Berliner Weihnachtsfest hat viel mehr mit dem Leipziger Weihnachtsfest aus Melanies Kindheit zu tun als mit den Weihnachts-Wunderland-Märchen aus dem deutschen TV. Obwohl – oder gerade – weil der Vater eigentlich aus dem Weihnachtsland Erzgebirge stammt.

Aber der große Sack an Gefühlen, der sich da auftut, hat nicht wirklich etwas mit der biblischen Weihnachtsgeschichte zu tun, dafür viel mit dem im Osten immer lebendigen Gefühl, dass man in diesen Tagen tatsächlich einmal Nähe, Herzlichkeit und Freude für die liebsten Menschen zulassen darf. Einmal im Jahr wenigstens, wenn man zumindest hofft, dass der Trubel einmal aufhört und alle zur Ruhe kommen. Ein Ruhepol selbst in den rasanten Umbrüchen, die ja auch Melanie miterlebt hat. Aber Jana Hensels Text liest sich auch wie ein freundlicher Hinweis, endlich damit aufzuhören, den Osten immer wieder in denselben Sack zu stecken, damit man ja die billigen Interpretationsmuster nicht zu ändern braucht.

„Vielmehr ereigneten sich damals Dinge, die schwer zu erklären waren. Manchmal verstanden die Erwachsenen wohl selbst nicht, was mit ihnen geschah. Wie hätte man das einer Tochter erklären sollen, die gerade dabei war, erwachsen zu werden? Nie hatte sich mein Vater verkrochen. Auch nicht, als die anderen anfingen, sich zu verkriechen, weil sie das Gefühl hatten, in der neuen Gesellschaft nicht mehr zurechtzukommen.“

Melanies Weihnachtswoche wird also zumindest zu einer Erinnerungsreise „nach Hause“, in eine Stadt, von der sie weiß, dass es sie so nur noch in ihrer Erinnerung gibt. Und das ist nicht schlimm. Es erweckt keine romantischen „Heimat“-Gedanken zum Leben. Denn Heimat – das hat sie auf ihren Fahrten durch die Welt gelernt – ist der Ort, an dem man sich richtig fühlt. Den man sich eigentlich selbst schafft, gern auch mit den liebenswerten Zutaten aus der eigenen Kindheit, die man immer mit sich trägt. Die gehen nicht verloren, egal, wie weit man fort ist. Wohl wissend, dass man nie wieder an dieselben Türen klopfen kann. Aber selbst Melanies Vater weiß das. Und es ist noch einmal wie ein kleiner Schubser, als er ihr am Telefon klarmacht, dass der alte Weihnachtsmannspruch noch immer gilt: Sei spontan. Alles andere findet sich.

Jana Hensel Der Weihnachtsmann und ich, Edition Chrismon, Leipzig 2019, 12 Euro.

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