Die Weihnachtserzählungen, die die Edition Chrismon seit ein paar Jahren herausgibt, haben es in sich. Und man sieht es den handlichen Büchern gar nicht an, was einen da erwartet, denn grafisch erinnern sie durchaus an die bekannten Weihnachtsbüchlein in den adventlich zusammengestellten Weihnachtsauslagen der Buchhandlungen. Aber drinnen gibt es jedes Mal ganz andere Weihnachten. Solche nämlich, wie wir sie wirklich erleben.

Und dabei gehen die Geschichten fast immer so los, wie man das aus den üblichen Fernsehschmonzetten so kennt. Denn die Rituale sind überall gleich. Oberflächlich betrachtet. Denn zwar suppt der ganze eklige Werbeschnuddel spätestens mit den Herbsttagen überall in den Alltag der armen Menschen, die in dieser konsumnotgeilen Welt leben müssen.Aber die meisten sehnen sich weder nach dem Gebimmel noch nach der falschen Herzlichkeit, sondern wollen eigentlich nur ihre Ruhe und ein paar rücksichtsvolle Tage mit ihren Liebsten. Das ist schon viel. Und die Wahrheit ist: die meisten bekommen nichts davon.

Und eigentlich ist man schon auf das Schlimmste gefasst, als Peter und Kathrin in Alina Bronskys Geschichte der etwas unverhofften Einladung eines alten Freundes folgen, statt einfach zu zweit ans Meer zu fahren. Klaus ist schon eine Weile Witwer, beim Tod seiner Frau sind die gemeinsamen Unternehmungen abgerissen.

Und irgendwie sieht es so als, als würden Kathrin und Peter nur zu Klaus in dessen völlig in der einsamen Provinz gelegenen Ferienhütte fahren, weil sie Mitleid haben mit dem Einsamen. Und es wird auch nicht wirklich besser, als sie ankommen und von Klaus’ neuer Lebensgefährtin begrüßt werden, viel jünger als er, Krankenschwester und irgendwie – ja – nicht so ganz passend.

Toleranz als schöne Fassade

Und da Alina Bronsky die ganze Geschichte aus der Perspektive von Peter erzählt, ist man mittendrin im eigentlich ziemlich schäbigen Gemüt eines unserer vielen, vielen Zeitgenossen, die sich so gern als weltläufig und tolerant ausgeben, aber sich nicht mal besondere Mühe geben, ihre Verachtung für andere Menschen zu verbergen, von denen sie meinen, die würden sich falsch benehmen, prollig, nicht stilvoll, nicht standesgemäß.

Oh ja, Alina Bronsky gelingt es wirklich, das Innenleben dieses Peter zu zeichnen, das wahrscheinlich sehr vielen Menschen unserer ach so toleranten Gesellschaft bekannt sein dürfte. Denn es wird uns allen anerzogen und beigebracht. Es ist Kernbestandteil unseres Wettbewerbsdenkens, in dem jeder mit jedem in permanenter Konkurrenz steht und Geld und Status und Neid das Denken dominieren, freilich immer verbunden mit den negativen Konnotationen dieser Wir-sind-was-Besseres-Gesellschaft: Verachtung, Verunsicherung, Vorurteile.

Und Peter ist voll davon. Gegenüber Klaus genauso wie gegenüber Sharon. Und eigentlich auch gegen Kathrin, der er den treuen und ehrlichen Ehemann vorspielt, so perfekt, dass man tatsächlich verblüfft ist, wie er zum Telefonieren tatsächlich auf einmal hinter die Telefonzelle in dem Dorf tritt, in dem sie gelandet sind, und einen Anruf in der Feiertagsredaktion vortäuscht.

Ein Punkt, an dem man durchaus stutzt und sich fragt: Was ist mit dem Typen los? Oder ist dieser Typ eigentlich das Normale in diesem Land, ein Mann, der tatsächlich felsenfest der Meinung ist, ein moralisches Vorbild zu sein, und der es sogar fertigbringt, die nebenbei laufende Liebesgeschichte mit der Putzkraft völlig auszublenden?

Irgendwie: ja.

Die verstecke Verachtung in unserer Gesellschaft

Da stolpert man zwar. Aber irgendwie schafft es Bronsky genau so etwas zu zeichnen, was einen fast jeden Tag verstört, egal wo. Unsere ganze Gesellschaft scheint regelrecht vollgestopft mit diesen Typen zu sein. Sie sitzen in Regierungen und Parlamenten, in Redaktionen und Wirtschaftsverbänden, sie quasseln in Talkshows und stellen sich erst richtig blöd, wenn sie es mit selbstbewussten Frauen und heftigen #meToo-Debatten zu tun bekommen. Sie geben sich als moderne, emanzipierte Männer, benehmen sich aber genauso machomäßig wie ihre Väter und Großväter.

Und eigentlich wartet man just in diesem Moment darauf, dass dieses Weihnachten zu viert in einer völlig abgelegenen Gegend, aus der die jüngeren Leute schon seit Jahren weggezogen sind, richtig kracht. Denn auch dieser Peter ist eigentlich auf Krawall gebürstet. Uralte Erinnerungen an gemeinsam erlebte Ferien werden wach.

Erinnerungen, die sich aber heftig unterscheiden, manchmal auch voller Lücken sind. Als wäre das nicht nur ein längst vergangenes Leben, sondern geradezu das Leben völlig wildfremder Menschen, in denen sich auch Peter nicht wiedererkennt. Und das nicht nur, weil er gesichtsblind ist.

Was also erinnert er richtig? Ist es die Einfältigkeit dieses Klaus oder ist es das glückliche Leben mit den Kindern? Gab es überhaupt eine Freundschaft oder haben das allein die Frauen organisiert? Ist dieser Klaus also ein Typ, der unfähig ist, überhaupt Beziehungen mit Menschen zu pflegen?

In Peters Gedanken klingt das alles sehr logisch. So logisch, dass man ihn am Jackenknopf packen und hinter die Hütte schleppen möchte, weil darin auch ein riesiger Berg Selbstgefälligkeit, Arroganz, die ganze typische deutsche Überheblichkeit des kleinen Spießbürgers sichtbar wird, der sich für einen tollen Hecht und Menschenversteher hält. Frauenversteher sowieso.

Die moralischen Standards einer Abwertungsgesellschaft

Aber niemand schleppt ihn wirklich hinter die Hütte. Denn da ist er bei Klaus und besonders Sharon an die Falschen geraten. Die beiden haben es wirklich ehrlich gemeint, als sie Peter und Kathrin einluden. Sie wissen, wie ihre Umgebung mit Vorurteilen operiert, wie Unverständnis gepflegt wird und Beziehungen gecancelt werden, wenn sich einstige Freunde nach den moralischen Standards dieser Welt „falsch“ verhalten.

Also wenn – wie in diesem Fall – eine neue Liebe direkt am Sterbebett der Frau beginnt, um die Klaus doch noch trauern müsste. Stattdessen beginnt er ein neues Leben mit dieser „nicht standesgemäßen“ Krankenschwester, die „keinen Geschmack“ hat, nicht „gebildet” ist und die richtige Etikette nicht kennt. Oder vielmehr: sogar darauf pfeift. Auch keine Lust hat, die ganzen Selbsterklärungen von Peter und Kathrin verstehen zu wollen.

Und gerade weil sie sich so benimmt, beginnt da in diesem Peter auf einmal etwas zu rutschen. Auch wenn er sich das lange anders begründet. Aber diese Sharon nimmt ihm seine ganzen Erklärungen und Ausflüchte nicht ab. Und auch nicht seine Lügen, er würde auf sie nicht mit Verachtung herabschauen.

Wahrscheinlich ist es wirklich so, dass all unsere ach so arrivierten großen Moralapostel tatsächlich nicht merken, dass sie in ihrer Verlogenheit durchschaut werden. Auch weil sie sich ja nicht abgeben mit diesen Sharons und Klaus’ da unten, da draußen irgendwo, in einer andern Welt. Man lebt ja in besseren Kreisen, hat sich seinen Status „mühsam“ erarbeitet und „verdient“. Da gibt man sich mit solchen Menschen nicht ab. Und wenn man ihnen mal begegnet, lässt man sie spüren, dass sie nicht standesgemäß sind.

Eigentlich gar nicht bitterböse

So eine Geschichte ist das. So eine Geschichte wird das, fein gesponnen, einfühlsam erzählt, denn Alina Bronsky will ihren Peter ja nicht vernichten und auch nicht richten. Eigentlich hat sie sogar Mitleid mit ihm, sonst würde sie ihm nicht dieses eigentlich seltsame Weihnachtserlebnis schenken (das von der literarischen Familie her durchaus in die Tradition von Dickens’ „Weihnachtsgeschichte“ gehört). Denn Weihnachten ist, das wusste Charles Dickens ja tatsächlich 200 Jahre vor all unseren heutigen Weihnachtsromantikern, nicht das Fest der Liebe, sondern das Fest der Ent-Täuschungen.

Die manchmal stille Zeit am Ende des Jahres, in der wir die Chance haben, zu stutzen und uns selbst nackt im Spiegel zu sehen. Oder eben in den Augen der Menschen um uns, die uns meistens viel besser kennen und viel tiefer durchschauen, als wir uns das je eingestehen würden. Sie vergessen auch nicht so schnell. Sie können zwar unsere heimlichen Gedanken nicht lesen. Aber sie sehen, was wir tun, merken, ob wir ehrlich zu ihnen sind oder ob wir wieder nur eine Rolle spielen.

Ein „bitterböses Lesevergnügen“, nennt es der Verlag. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das Wort bitterböse stimmt. Denn es steckt auch eine Schippe Mitgefühl für diesen Peter drin – und damit auch all die andern Peters, die unsere Welt so sehr zum Rollen- und Versteckspiel machen. Und damit auch all die schäbige Moralisiererei in Politik und Medien am Dampfen halten, hinter der sich letztlich vor allem eines versteckt: die Angst vor richtiger Nähe, vor Verständnis und Verletzlichkeit. Der Peter in der Geschichte bekommt davon etwas zu spüren. Aber ein Peter macht nun einmal noch kein Tauwetter.

Aber mit feinem Strich zeigt Alinas Bronsky, wie tief das steckt, dieses Abschätzen, Werten, Abwerten anderer Menschen, nur weil wir glauben, irgendwas Besseres sein zu müssen. Oder gar zu sein. Da sind wir nicht die Bohne besser als Ebeneezer Scrooge. Nur dass uns keine hilfreichen Geister erscheinen, die uns mit der Nase draufstoßen. Nur manchmal so schöne schlampige Engel wie Sharon. Aber meistens klatschen wir dann nur albern auf dem Balkon. Und vergessen ganz schnell wieder, dass Menschlichkeit wirklich nichts mit unserer zu Markte getragenen Moral zu tun hat.

Nehmen Sie die Einladung zu Weihnachten ruhig an, wenn Klaus anruft. Oder Sharon. Auch wenn es vielleicht ein bisschen zu dolle wird und Peter irgendwann mault: „Ich will nach Hause. Mir ist es zu voll hier.“ Das ist das Dumme daran, wenn man Menschen wirklich nahekommt. Dann merkt man erst, wie sehr man sich daran gewöhnt hat, überall lauter riesige Abstände um sich zu schaffen, damit einem ja keiner zu nahe oder gar auf die Schliche kommt, einen dabei ertappt, wie man sich wirklich fühlt. Nicht auszuhalten. Oder?

Nehmen Sie den Anruf ruhig an.

Alina Bronsky Das Geschenk, Edition Chrismon in der Evangelischen Verlagsanstalt, Leipzig 2021, 12 Eur.

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