Wozu sind Kriege da? Wer zettelt sie eigentlich an? Ist der Krieg tatsächlich der Vater aller Dinge? Oder haben sich das machtgeile Männer einfach so ausgedacht, um ihre Kriegsanzettelei vor der Weltgeschichte zu rechtfertigen? Das wohl berühmteste Buch der Literaturgeschichte über einen Krieg und seine legendären Helden ist bis heute Homers „Ilias“. Doch wer hat den Krieg um Troja angezettelt? Wer wollte eigentlich dieses Blutvergießen? Um diese Frage zu klären, schickt Reinhard Lochner seinen Helden Alexandros einfach mal direkt in die Unterwelt.

Und dort helfen ihm Hades und Persephone persönlich, die Helden und Nicht-Helden aus Homers berühmtem Epos zur Rede zu stellen. Zeit wird es. Denn seit 3.000 Jahren spielen sie da augenscheinlich, weil sie einfach nicht aus ihren Schleifen herauskommen, die ganze Zeit Trojanischer Krieg. Mit immer demselben Ergebnis. Nur ihre Kritiker, die vermeintlichen Versager und Anti-Helden, streunen im Abseits und kommen genauso wenig aus ihrer Rolle heraus.

Lochner kennt seinen Homer. Und die ganzen griechischen und modernen Dramatiker, die einzelne Stoffe as der „Ilias“ aufgegriffen und hinterfragt haben. Denn Homers gewaltiger Gesang ist auch ein gewaltiges Bergwerk der dramatischen Stoffe – von Iphigenie, der ältesten Tocher Agamemnons, des Heerführers der Griechen, der sie opfert, um sich den Segen der Götter für den Krieg zu sichern, bis zu Kassandra, Tochter des trojanischen Königs Priamos, die verdammt ist dazu, dass niemand ihren Prophezeiungen glaubt.

Die verschwundene Helena

Und Alexandros hat nun die einmalige Chance, die Protagonisten dieses mythischen Krieges sämtlich zur Rede zu stellen, sie mit ihren Lügen und Halbwahrheiten zu konfrontieren – Odysseus und Menelaos, Paris und Aias, Hektor und Priamos. Aber auch die Warner und Kritiker: Palamedes und Thersites. Die sich mit ihren Warnungen nicht durchsetzen konnten und entweder zum Gespött gemacht wurden oder ganz aus der Geschichte gestrichen. Denn wenn einer – wie Homer – das Ruhmeslied der Könige singt, kann es keine Unruhestifter geben, die ihnen vor der Weltgeschichte vorhalten, dass sie gelogen haben.

Dass sie ihren ganzen Krieg auf einer Propaganda-Geschichte um eine entführte Helena aufgebaut haben, die dann – wie seltsam – einfach aus dem ganzen Trojanischem Gewüte verschwunden ist. Was schon griechische Historiker zu der nur zu berechtigten Annahme verleitete, dass die ganze Helena-Geschichze entweder erstunken und erlogen war. Oder einfach vorgeschoben, um die tatsächlichen Kriegsmotive zu verschleiern.

Aber genau da wird es spannend: Welches waren tatsächlich die Motive der beiden Kriegsparteien? Ging es um entführte Schönheiten? Um das Stillen männlicher Rachlust? Gekränkten Stolz? Besudelte Ehre? Oder gar um die Kontrolle der Dardanellen? Hätte Priamos, der König von Troja, den Griechen einfach nur die Hand reichen müssen und einen Vertrag mit ihnen machen müssen, um den Krieg zu verhindern?

Oder hätte Agamemnon trotzdem seine Kumpel zusammengetrommelt, um den „Ruf“ seines Bruders Menelaos reinzuwaschen, dem Paris die schöne Helena entführt haben soll? Die übrigens die eigentliche Erbin von Sparta war, in dessen Besitz Menelaos erst durch die Heirat mit Helena kam.

Muss man da hinzufügen, dass nicht nur Alexandros berechtigterweise bedauert, ausgerechnet Helena nicht gefragt zu haben? Wie das fast immer so ist, wenn die Kerle in den Krieg ziehen: Frauen sind ihnen nur ein Vorwand. Gefragt werden sie nie. Sie können nur erleiden, was die Kerle anrichten, wenn sie mit Gebrüll übereinander herfallen, Städte zerstören und auf Frauen und Kinder keine Rücksicht nehmen. Auf die eigenen Leute sowieso nicht. Die tauchen nur als abgekämpfte, verhärmte Gestalten am Rande auf. Wer fragt die Soldaten, wenn die prächtig ausstaffierten Feldherren zur Schlacht befehlen, ob sie freiwillig dabei sind?

Der gabenreiche Homer

Dass es eine moderne Fragestellung ist, die Lochner hier zu Homer ins Spiel bringt, betont der Autor schon im Vorwort. Denn natürlich erzählt Homer den Krieg aus der Heldenperspektive. Aber letztlich auch so, dass der kritische Leser sehr wohl sehen kann, wie die scheinbar so glänzenden Recken lügen, betrügen, sich schäbig und falsch verhalten. Wie sie selbst die Regeln ihrer Zeit nicht achten und zu blutigen Schlächtern werden. Wer will, kann Homer gegen ihn selbst in Stellung bringen.

Oder etwas sehen, was immer offenkundig war. Aber keine Rolle spielte, weil brutale Gewalt zum politischen Rezept gemacht wurde. Auch die 3.000 Jahre nach dem – eher mythischen – Trojanischen Krieg. Lochner macht es deutlich, wenn er die „ruhmvollen“ Helden in ihrer ganzen männlichen Schwäche und Feigheit zeigt.

Etwa wenn er Herodot dem ach so listenreichen Odysseus die Wahrheit ins Gesicht sagen lässt: „Niemand ist so unverständig, dass er aus freien Stücken den Krieg wählt statt des Friedens. Das tun nur Versager wie du, die aus Furcht vor Lächerlichkeit, aus Sorge um ihr eigenes Wohl zu den Waffen greifen. Es ist wahr, die Schwachen träumen vom Frieden und die Schwächlinge vom Krieg! Du gehörst zur kriegslüsternen Minderheit, die sich über die friedliebende Mehrheit stellt. Du gehörst zu den Feigen, die sich bedenkenlos unterordnen …“

Zumindest bringt Alexandros all die tollkühnen Helden zum Nachdenken, einige auch zum Bereuen, weil sie einsehen, dass sie diesen Krieg verbockt haben. Sieht er das alles klarer, weil er ein 3.000 Jahr später Geborener ist? Denn auch er muss zugeben, dass mit dem blutigen Gemetzel vor Troja die Kriege nicht endeten. Sondern dass es bis in die Gegenwart Kriege gibt.

Und vielleicht immer geben wird. Er fokussiert sich sehr auf die Schwächlinge, die ihre kleine, unsichere Männlichkeit dadurch maskieren, dass sie sich als große Helden und Kämpfer darstellen, die für lauter Worthülsen (Ehre, Stolz, Vaterland …) erst die Kriegstrommel rühren und dann ihre Soldaten in die Schlachten ziehen lassen. Das Bild von den „kleinen Männern“, die sich so große Lorbeeren als Kriegsherren verdienen wollen, scheint es Alexandros angetan zu haben.

Kriege ohne Helden

Er nennt den großen Krieg der Gegenwart nicht beim Namen. Deutet ihn eher an mit „zwei kleinen Männern“, die sich da beharken. Aber stimmt das Bild? Ist der Trojanische Krieg tatsächlich das Urbild für alle Kriege? Wohl eher nicht. Schon gar nicht für die imperialen und kolonialen Kriege der letzten Jahrhunderte, in denen schwerbewaffnete „Super“-Mächte schwächere oder wehrlose Länder und Völker überfielen – aus ganz simplen Motiven heraus: Gier, Verachtung, Größenwahn. Oder einfach, weil ein Krieg den Mächtigen zum Machterhalt dient. Und sich die Anstifter im Recht glauben, über scheinbar Schwächere herfallen zu dürfen.

Was einen auf Gedanken bringt. Denn so etwas beginnt nicht erst mit der Kriegserklärung an den Gegner. So etwas beginnt mit scheinbar ganz selbstverständlicher Politik im Inneren, wenn Drohung, Angstmache und Einschüchterung zu scheinbar ganz legitimen Mitteln im politischen Miteinander werden. Hoppla: Auf einmal ist man mittendrin in den von radikalem Populismus zerrütteten Gesellschaften von heute. Wo der Krieg mit Worten und Ausgrenzungen beginnt und der Respekt vor dem Anderen vor aller Augen zerfetzt wird. Weil von Macht besessene Männer genau wissen, dass man mit Angst und Einschüchterung etwas erreichen kann. Am Ende auch die Macht.

Eigentlich steckt genau das auch schon in Homers Gesängen. Und Generationen von Autoren haben das gesehen, kommentiert, in eigenen Werken aufgegriffen. Lochner muss gar nicht viel tun, um das Schäbige an Gestalten wie Odysseus und Agamemnon zu zeigen. Wobei ja die griechische Literatur gerade diese beiden feigen Heroen literarisch bestraft hat – Odysseus durch seine zehnjährige Irrfahrt in der „Odyssee“ und Agamemnon dadurch, dass er nach seiner Rückkehr von seine Frau Klytaimnestra und ihrem Geliebten Aigisthos im Bad erdolcht wird – als späte Rache dafür, dass er Iphigenie geopfert hat.

Verarbeitet u.a. von Euripides und Aischylos. Das ist ja das Schöne an all den griechischen Legenden: Es wird immer konkret und menschliche Gefühle werden zu Taten. Das Versagen holt die scheinbar so glänzenden Heroen eben doch ein. Es gibt eine Art Gerechtigkeit in der Welt, auch wenn sich die Verstrickungen dann oft durch Generationen ziehen.

Wo, verflixt, ist Helena?

Anders als bei all den pompös gefeierten Kriegsstiftern der letzten Jahrhunderte, die zumeist ungeschoren davon kamen, weil ihnen das Anzetteln des Krieges nicht zugerechnet wurde. Aber wie ist das, wenn ein feiger Despot seine Armee aufmarschieren und ein Nachbarland überfallen lässt? Da ist das Bild von den „zwei kleinen Männern“ wohl wirklich das falsche.

Und erklärt auch nicht, wie aus diesem Überfall wieder ein Frieden werden kann. Da macht es sich Alexandros deutlich zu leicht. Nicht jeder Krieg ist so scheinbar leicht zu entschlüsseln wie der Trojanische. Und auch die Griechen erlebten es – 200 Jahre nach Homer – wie es ist, wenn ein kriegslüsternes Imperium das eigene Land überfällt und man sich wehren muss, um den scheinbar übermächtigen Angreifer abzuwehren. Das waren die – tatsächlich stattgefundenen – Perserkriege.

Vielleicht hätte Alexandros wirklich noch ein paar Leute mehr befragen sollen. Auch Herodot, dem er ja in der Unterwelt ebenfalls begegnete. Denn wie verhindert man Kriege? Wie hindert man kleine oder große Despoten daran, über scheinbar schwächere Gegner herzufallen? Oder Ultimaten zu stellen, die nur in einer Kriegserklärung enden können? Und wie hilft man den Schwächeren, sich gegen die mit Waffengewalt auftrumpfenden Despoten zu wehren? Eine andere Frage, durchaus. Aber die wird kein „listenreicher“ Odysseus beantworten können, der sich lieber doof stellte, als ihn seine Kumpel Agamemnon und Menelaos aufforderten, mit in den Krieg zu ziehen.

Wobei es auch da einen sehr lehrreichen Hinweis bei Homer gibt, denn offensichtlich gehörte auch Odysseus einmal zu den Freiern Helenas. Der dann Helenas Vater Tyndareus dazu überredete, um den Zwist unter den Freiern zu dämpfen, die Freier durch einen Eid dazu zu verpflichten, Helenas künftigen Gemahl bei allen Problemen aus dieser Ehe tatkräftig zu unterstützen. Es war ja dann Menelaos, der Helena zur Frau bekam. Und auf einmal steht wieder die Frage im Raum: Wo ist Helena abgeblieben? Warum wird sie nicht gefragt?

Und so steht eben genau das Thema im Raum, das Christa Wolf in ihrem Buch „Kassandra“ ebenfalls benennt: die ganze historische Schäbigkeit des Patriarchats. Aber das geht eben weit über Alexandros’ zaghafte Versuche hinaus, die tatsächlichen Ursachen des Trojanischen Krieges aufzudecken, indem er ausschließlich die Männer fragt, die daran tatkräftig beteiligt waren.

Reinhard Lochner „Licht aus der Unterwelt“, HeRaS Verlag, Berlin 2024, 14,99 Euro.

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