Es gibt Dichter, deren Ruhm erst nach ihrem Tod so richtig einsetzt. Und die immer wieder neue Bestseller-Zeiten erleben. So wie es in der Corona-Pandemie neben Albert Camus mit „Die Pest“ auch Giovanni Boccaccio und seinem unsterblichen Novellenkranz „Il Decamerone“ ging. 100 Novellen, die sich zehn junge Leute an zehn Tagen erzählen. Vor der Pest sind sie aus Florenz geflohen, um in den Hügeln nahe der Stadt abzuwarten. Es ist das Jahr 1348. Eines der Jahre, in denen die Pest tatsächlich in Boccaccios Heimatstadt Florenz wütete.

Das könnte den etwas düsteren Untertitel dieser Biografie erklären. Obwohl Boccaccios Lebenszeit nicht wirklich schwärzer, finsterer oder apokalyptischer war als andere Jahrhunderte in Italien. Oder wie es Wikipedia so hübsch zusammenfasst: „Während die Banken untergingen, florierte die florentinische Literatur, und Florenz war die Heimat einiger der größten Schriftsteller der italienischen Geschichte: Dante, Petrarca und Boccaccio.“

Mit Blick auf die Pest stimmt es natürlich: Sie wurde tatsächlich 1347 nach Europa eingeschleppt und kostete wahrscheinlich in Florenz bis zu 70 Prozent der Bevölkerung das Leben. Kein Wunder also, dass Boccaccio das Thema aufgriff, auch wenn es tatsächlich nur die Rahmenhandlung bestimmt. Doch selbst das genügt, das „Dekameron“ bis heute zu einem der ausführlichsten und authentischsten Berichte über die Pest in Florenz zu machen. Und – wie erlebt – hunderttausende im Corona-Lockdown befindliche Leserinnen und Leser dazu zu bringen, sich eine aktuelle Auflage von Boccaccios Hauptwerk zu bestellen.

Dichterfreund Petrarca

Der es übrigens nie als Hauptwerk ausgegeben hätte. Da hätte er ganz andere Werke genannt, die auch seinen Dichterruhm im 14. Jahrhundert bestimmten. Vor allem seine lateinisch geschriebenen Werke, die heute kaum noch aufgelegt werden. Werke, mit denen er auch versuchte, seinen Dichterfreund Petrarca zu beeindrucken. Tatsächlich handelt ein großer Teil dieser Biografie von dieser erstaunlichen Dichterfreundschaft, die in vielem schon vorwegnahm, was erst mit dem aufkommenden Humanismus in Europa in akademischen Kreisen üblich werden sollte.

Natürlich bezweifelt von heutigen Forschern. War das wirklich eine richtige Freundschaft? Was verband diese beiden Männer tatsächlich? Die verfügbaren Quellen belegen: Eine Menge. Überhaupt die Quellen: Wie kann man aus der Entfernung von über 600 Jahren eigentlich noch das Leben eines Dichters im damaligen Italien rekonstruieren? Gibt es genügend Quellen? Ist auf die Briefe Verlass, die von Boccaccio und Petrarca und ihren Freunden und Bekannten überliefert sind?

Das Erstaunliche ist – und die intensive Boccaccio-Forschung , auf die sich die Göttinger Romanistik-Professorin Franziska Meier stützen kann, hat dazu in den letzten Jahren eine Menge beigetragen –, es geht: Dieser Autor hat tatsächlich so viele schriftliche Spuren hinterlassen, dass mit viel Akribie, ein bisschen Interpretation viel diskutierter Stellen in seinem Werk und einem Blick in die tatsächlich noch existierenden Florentiner Akten aus dieser Zeit ein Mann zu rekonstruieren ist.

Ein Mann, dem der phänomenale Nachruhm ganz bestimmt nicht in die Wiege gelegt wurde. Nicht nur, dass er als unehelicher Sohn eines Kaufmanns geboren wurde und nie eine höhere Schule besuchte, ihm gelang es auch nie, ein wirklich auskömmliches Amt zu bekommen, mit dem er seinen Lebensunterhalt hätte sichern können.

Vorbote der Renaissance

Am Ende starb er vollkommen verarmt, von Krankheiten gepeinigt in Certaldo nahe Florenz, wo er auch geboren worden war. Ein Zeitalter schien zu Ende zu gehen. Kurz zuvor war auch Petrarca gestorben, der zu Boccaccios Zeit der wesentlich Berühmtere war, in Rom sogar mit dem Dichter-Lorbeer gekrönt, den Boccaccio nie erhielt (auch wenn ihn spätere Darstellungen mit Lorbeerkranz zeigen).

Heute wird die Zeit dieser beiden Dichter als erstes Wetterleuchten der Renaissance verstanden. Denn genau in dieser Zeit begann die intensive Beschäftigung mit der Literatur der Antike. Boccaccio schrieb eine 15-bändige Genealogie der antiken Götter, die „Genealogia deorum gentilium“, die in der Renaissance das Standardwerk für die bildenden Künstler wurde, die antike Sagenstoffe aufgriffen.

Er schrieb aber auch eine Sammlung mit Biografien berühmter Frauen aus Antike und Gegenwart, „De mulieribus claris“, ein für seine Zeit geradezu ungewöhnliches Werk, das ihn in den Augen einiger heutiger Autorinnen geradezu zu einem Vorläufer des Feminismus machte.

Obwohl in seinem Werk auch die gegenteiligen Aussagen zu Frauen zu finden sind. Da will man schon gern wissen: Was war das eigentlich für ein Typ? Wie dachte er, lebte er, liebte er? Wo es ins Persönliche geht, werden die Quellen natürlich dünn. Da beginnen die Schwierigkeiten der Rekonstruktion. Wie und wo wurde er zum Dichter? Wahrscheinlich in Neapel, als er als junger Mann eine Zeit lang im Dunstkreis des Hofes von König Robert von Anjou lebte.

Ein Florenz in unsicheren Zeiten

Herzlich willkommen im Italien des 14. Jahrhunderts, könnte man sagen. Noch haben die deutschen Kaiser auf die Politik in Italien Einfluss, sitzen die Päpste aber im fernen Avingon und kämpfen diverse Fürsten und Condottieri um Städte und Regionen auf dem Stiefel. Florenz ist noch nicht das glänzende Florenz der Zeit der Medici. Auch wenn reiche Kaufmanns- und Bankiersfamilien die Politik bestimmen.

All die heute berühmten Gebäude stehen noch nicht, auch wenn die Bankiers aus Florenz die Hälfte der europäischen Höfe mit Geld versorgen. Was für Florenz zur Katastrophe wird, als das labile Finanzgeschäft zusammenbricht. Was wieder die eben noch reiche Stadt tief in die Schulden verstrickt und für Unruhe und Revolten sorgt, bei denen immer wieder auch die einflussreichen Familien vertrieben werden.

Unruhen, die auch Dante schon kannte, der bis dahin berühmteste Dichter aus Florenz, der aber aus der Stadt vertrieben worden war. Ein guter Teil von Boccaccios Bemühungen drehten sich auch um die Rehabilitation dieses bis dahin wichtigsten italienischen Dichters. Und zwar nicht nur seiner Person, sondern auch seines Werks – vor allem der „Göttlichen Komödie“, dem ersten wirklich eindrucksvollen Werk, das in der Florentiner Volkssprache geschrieben worden war, dem Volgare.

Heute geht man wie selbstverständlich davon aus, dass dieses Mammutwerk der wesentliche Zündfunken war, aus dem die italienische Standardsprache sich herleitet. Und auch Boccaccio schrieb in der Volkssprache, arbeitete ganz bewusst daran, das Italienische zur anerkannten Literatursprache zu machen. Nichts steht dafür deutlicher im Rampenlicht als sein „Dekameron“.

War er selbst davon überzeugt, dass er damit ein Werk für die Literaturgeschichte geschrieben hatte? Die Forscher sind hin- und her gerissen. Genauso, wie es wohl Boccaccio selbst war, der gerade in diesem Punkt bei Petrarca ganz und gar keinen Zuspruch fand. Denn Petrarca war bis zuletzt überzeugt, dass große Literatur ganz allein auf Latein geschrieben werden könnte.

Was verständlicher wird, wenn man sich vergegenwärtigt, dass das „gemeine Volk“ in der Regel weder schreiben noch lesen konnte. Wer von den gebildeten Lesern Europas gelesen werden wollte, schrieb auf Latein. Es war die Lingua franca ihrer Zeit, so, wie es heute das Englische ist.

Mehr als eine Geschichte aus der Pestzeit

Während nicht nur Petrarca so seine Zweifel hatte, dass in der Volkssprache geschriebene Texte überhaupt eine Chance hatten zu überdauern. Es ist einer der verzwicktesten und spannendsten Momente in Meiers akribischer Rekonstruktion, wie vor allem Boccaccio darum kämpft, die in Florenz gesprochene Volkssprache zu Literatur werden zu lassen und zu beweisen, dass sich der Florentiner Dialekt genauso gut zu anspruchsvollen literarischen Texten eignete wie das Lateinische.

Aber in gewisser Weise war er damit – trotz Vorläufer Dante – seiner Zeit voraus. Ihm war Petrarcas Urteil zu wichtig und er ließ sich davon immer wieder in tiefe Zweifel stürzen. Hatte der zu seiner Zeit Erfolgreichere und Berühmteste nicht recht mit seiner Ansicht?

Die Werke, mit denen er vor alle seine gebildeten Zeitgenossen beeindrucken wollte, schrieb er alle auf Latein. Doch sein „Dekameron“ kopierte er auch noch im hohen Alter noch einmal. Da war etwas, was er ganz und gar nicht vergessen lassen wollte. Und wer das „Dekameron“ in der Corona-Zeit gelesen hat, weiß, dass es mehr zu bieten hat, als die eindrucksvolle Schilderung der Pest.

Denn was sich die zehn jungen Leute da in ihrer selbstgewählten Abgeschiedenheit erzählen, sind Geschichten über menschliche Leidenschaften, Eitelkeiten, Fehlbarkeiten und Verführbarkeiten. Es geht um das zutiefst Menschliche, das im 14. Jahrhundert genauso wirkmächtig war wie in unserer Gegenwart oder der oft missinterpretierten Antike, aus der Boccaccio etliche der erzählten Geschichten übernommen hat.

Jede mit einer überraschenden Wendung. Die zehn im selbstgewählten Asyl Versammelten wollten einander ja unterhalten und beeindrucken, auch übertreffen, sodass es stellenweise sehr deftig zugeht, was das „Dekameron“ über Jahrhunderte bei den Tugendwächtern in Verruf brachte. Die die Novellen oft gar nicht gelesen haben. Das ist wie heute auch: Die Moralwächter wüten über Dinge, die sie weder kennen noch verstehen.

Die Wiederentdeckung der Antike

Aber die Fragen bewegten natürlich auch Boccaccio. Er lebte ja nach wie vor in einer Zeit, in der Kirche und Glauben die Welt definierten. Und gerade seine Rückgriffe auf die Antike brachten ihm durchaus den Vorwurf der Gotteslästerung und des Heidentums ein.

Gegen den er sich schriftlich sehr wohl zu verwahren wusste. Aber mt Boccaccio und etlichen seiner Freunde und Bekannten landet man eben auch in einer Zeit, in der neugierige Menschen intensiv begannen, sich mit den Texten der Antike zu beschäftigen und sie in alten Bibliotheken zu suchen und zu kopieren. Bis hin zur Wiederentdeckung Homers, der in Boccaccios Leben ebenfalls eine Rolle spielte.

Auf all das gemünzt passt der Untertitel von den „schwarzen Zeiten“ nicht wirklich. Auch wenn die Pest nach ihrem Wüten 1347/1348 auch nach Florenz immer wieder zurückkehrte. Einen dieser Pestausbrüche verbrachte Boccaccio dann sogar mal über mehrere Monate bei seinem Dichterfreund Petrarca in Venedig, der ihn sogar einlud, bei ihm zu bleiben.

Denn oft genug hatte Boccaccio ja auf seine prekäre finanzielle Lage hingewiesen. Und trotzdem reiste er ab. Grund genug, auch über die Dinge nachzudenken, die diese beiden berühmten Männer am Ende doch trennten. Bis zu der oft von Boccaccio geäußerten Ansicht, dass sich ein Dichter nicht verbiegen dürfe oder gar einem der damaligen Tyrannen an den Hals werfen dürfe. Ein moralischer Anstand, den eigentlich auch Petrarca predigte. Nur: Genügte er seinen eigenen Ansprüchen?

Boccaccio jedenfalls versuchte es, auch wenn er dafür mit Armut im Alter zahlte. Wozu noch ein weiteres Phänomen beitrug, das die Welt des 14. Jahrhunderts veränderte: der Beginn der Kleinen Eiszeit. Kalte Sommer gerade in Boccaccios Lebenszeit sorgten für drastisch zurückgehende Ernten. Und auch auf seinem kleinen Gut in Certaldo erlebte Boccaccio wohl, wie die Auswirkungen der Kleinen Eiszeit auch seine Ernte beeinträchtigten. Am Ende wurde er wohl von mehreren Krankheiten geplagt, die seine letzten Lebensjahre zur Qual machten.

Die ersten Lichter der Renaissance

Ganz zu schweigen von der Einsamkeit in Certaldo. Denn Boccaccio war wohl auch ein Mensch, der die Gesellschaft liebte und auch deshalb nicht Petrarcas Ideal eines abgeschiedenen Lebens als Dichter in der Einsamkeit teilte. Er muss wohl auch tausende Briefe geschrieben haben, von denen nur wenige auf uns gekommen sind.

Stets im Austausch mit Gleichgesinnten, die oft auch seine Leidenschaft für die Literatur und die Antike teilten. Und auch wenn es noch 100 Jahre dauern sollte, bis Boccaccios Werk tatsächlich Aufmerksamkeit und große Verbreitung fand, taucht man mit Franziska Meier im Grunde in jene Epoche ein, in der tatsächlich die ersten Lichter der kommenden Renaissance aufleuchteten. In der Literatur genauso wie in der Malerei.

Und gerade durch diese akribische Rekonstruktion wird deutlich, welche zentrale Rolle Boccaccio dabei spielte. Und wie sein Ruhm tatsächlich schon zu Lebzeiten wuchs, auch wenn ihm das finanziell überhaupt nicht half. Noch war der Buchdruck nicht erfunden, münzte sich der Ruhm des Autors nicht in Einnahmen um. Noch musste jedes Werk mit der Hand kopiert werden. Und Boccaccio selbst kopierte nicht nur die Texte seines Freundes Petrarca.

Und auch wenn diese Florenz in den Wirren des 14. Jahrhunderts noch nicht den Glanz des Florenz des 15. und 16. Jahrhunderts hat, erlebt man im Grunde, wie in dieser Zeit schon die Zukunft heranreifte. Eine Zukunft, die Boccaccio wohl viel genauer erspürte als sein Freund Petrarca. Er war wohl auch der bessere Beobachter.

Seine Novellen aus dem „Dekameron“ sind ja auch deshalb bis heute beliebt, weil sie zutiefst menschliche Eigenschaften aufs Korn nehmen und so auch wohl von den Lesern damals aufgenommen wurden. Hinter den manchmal mythischen Geschichten war das allzu Menschliche sichtbar. Womit Boccaccio einen Stoff in Literatur verwandelte, der für sein Zeitalter ebenso neu war.

Der aber gerade deshalb auch sichtbar machte, wie mit den frühen Ausläufern des Humanismus auch der Mensch in all seinen Fährnissen und Leidenschaften auf einmal in den Fokus der Aufmerksamkeit rückte.

Für wen scheibt man eigentlich?

Und so versteht man nur allzu gut, wenn Franziska Meier von den möglichen Beweggründen erzählt, die Boccaccio doch immer wieder auf räumliche Distanz zu seinem verehrten Dichterfreund Petrarca brachten. Als müsste er sich retten vor dem wohlmeinenden Rat des Älteren. Sich das bewahren, was ihn zum Schreiben gebracht hatte.

Womit Boccaccio gerade zu einem Ut-Bild für den modernen Autor wurde. Nicht nur in diesem Drang zum exzessiven Schreiben, sondern auch in der Ahnung, dass es letztlich immer um Geschichten geht, die nicht nur den akademisch geschulten Geist ansprechen, sondern die Freude der ganz gewöhnlichen Leser an Geschichten, die ihre eigenen Träume, Sehnsüchte und Leidenschaften thematisieren.

Denn: Für wen schreibt man eigentlich? Die Frage schwingt immer mit, wenn Franziska Meier das Denken und Fühlen Boccaccios aus den überlieferten schriftlichen Zeugnissen zu rekonstruieren versucht. Und gerade dadurch regt sie auch an, das berühmte „Dekameron“ doch einmal wieder mit anderen Augen zu lesen – und nicht mit dem Blick der verkniffenen Moralapostel, die das Werk heute am liebsten immer noch auf den Index setzen würden.

So gesehen ist uns das 14. Jahrhundert gar nicht so fremd und dieser Giovanni, Sohn des Boccaccio, wesentlich vertrauter als die ganze Garde der Moralisten, die heute wieder mit blasierter Miene auf die Bühne drängen.

Man kann diesen Boccaccio auch ohne Lockdown lesen. Mit Vergnügen und dem Gefühl, dass diese Geschichten noch weitere Jahrhunderte ihr Publikum finden werden. Auch wenn einem der Mann, der das alles geschrieben hat, beinahe entgleiten will und oft nur durch Interpretationen diverser Stellen aus seinem Werk zu fassen ist. Aber das scheint in weiten Teile zu gelingen, sodass man mit Franziska Meier auch ein durchaus nachvollziehbares Italien im nicht immer nur schwarzen 14. Jahrhundert entdecken kann.

Franziska Meier „Giovanni Boccaccio. Dichter in schwarzen Zeiten“; C. H. Beck, München 2025, 32 Euro.

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