„Lies. Leo, lies!“ – „Nein, ich will nicht.“ – „Du musst aber!“ – Sie haben es ja selbst gesehen: Am frühen Donnerstagmorgen steckte ein etwas feucht sich anfühlendes Stück Papier in Ihrem Briefkasten. In meinem auch. Obwohl ich riesengroß dran geschrieben habe: KEINE WERBUNG! – Und noch größer: ÜBERHAUPT KEINE WERBUNG! AUCH KEINE KOSTENLOSEN ZEITUNGEN! – Aber der Analphabetismus greift ja bekanntlich um sich. Keine Lehrer. Musste ja so kommen.

Und dann nun dieses Blatt in der Hand. Fußball-WM ist grade nicht. Republik-Geburtstag auch nicht. Bundestagswahl kommt erst. Sie sehen ja, wie ich schon vorgepresst bin, ein auf Linie gelesener Zeitgenosse, dem man beigebracht hat, dass ein ganz, ganz großer Zeitungskonzern das Recht hat, mir einfach kostenlosen Werbekram in den Briefkasten zu schmeißen. (Ein etwas kleinerer Zeitungskonzern schmeißt den Müll in den Hausflur und der Hausmeister muss es wegräumen.)

Hab mich eh schon gewundert in den letzten Jahren: Es gibt Zeitungen ohne Werbung. Und Werbung ohne Zeitung extra.

Irgendjemand hat da ein Rad ab. Oder vier. Oder die Leute sind schizo. Vielleicht ja wirklich. Oder haben sich in Gummibärchen verwandelt, die nichts anderes mehr lesen wollen als Werbung und damit ganz zufrieden sind. Die glücklichen Bewohner einer Glückskeks-Republik, in der immer die Sonne scheint, immer Fußball ist und alle froh, wenn gar nichts passiert.

So ganz und gar nichts.

So wie an einem ganz langen Super-Extra-Wochenende mit – mal gucken – Adidas-Socken-und-Badelatschen, Sesamstraße auf Maxdome, Strandkleid und Kaffeepads von Lidl, Erdnussflips von Kaufland – na ja, was Leute sich unter einem Extra-langen-Wochenende so vorstellen. Ziemlich viel ungenießbares Zeug, nichts Lebendiges. Aber wer käme auch in einer Zeitung zum 65. auf die Idee, Werbung für Stützstrümpfe, Blasen- und Nierentee, Hörgeräte oder Lesebrillen zu machen?

Und die eine Schlagzeile hab ich eh vermisst: „BILD geht in Rente“.

Ist sie ja eigentlich schon.

„Leo, guck dich da nicht wieder fest!“

„Aber Schnuckibärchen, lenk mich doch nicht ab. Ich denke nach.“

„Über lange spacke Blondinen?“

„Nein. Über alte Leute, die glauben, einen auf jung machen zu müssen.“

„Du meinst jetzt nicht …?“

„Nein, nein. Ich werde mir ganz bestimmt keine Adidingsda kaufen. Aber …“

Meistens steckt es im Aber. Da kommt mir was komisch vor. So, wie ein Pelzverkäufer auf einer Kaffeefahrt. Wenn er dir Honig ums Maul schmiert, dir erzählt, wie fit und frisch du dich gehalten hast – und dann dreht er dir eine Rheumadecke oder einen Inkontinenzschlüpfer an …

„Leo!“

„Stimmt doch. Ich bin zwar ein alter Knopp, aber noch kein alter Knacker. Und ich merke, wenn mir ein paar Marketing-Fuzzis billigen Kram andrehen, als wäre ich ein total verkalkter alter Trottel.“

„Hübsche Blondinen …“

„Komm mir nicht mit hübschen Blondinen …“

„Wie heißt denn die Kleine?“

„Adilette heißt sie. Punkt. Hör auf zu sticheln …“

Ooopps. Das passiert auch dem ruhigsten Leo. Aber manchmal ist gut. Auch mit Eifersucht. Weil sie gerade in solchen Fällen werblichen Tiefsinns völlig daneben ist. Was meine geliebte Bäckerin eigentlich weiß. Leo rast neuerdings durch die Supermärkte, weil er das blödsinnige Gequatsche und Gesäusel aus den Lautsprechern nicht mehr erträgt. Im Grunde ist Supermarkt-Radio quasi „Bild“-Geräuschkulisse für bekloppte Konsumenten.

Das Ergebnis: Leo kauft weniger. Es landet weniger Müll im Einkaufskorb. Und das Gemüse holen wir längst schon bei Ali an der Ecke. Da ist es frischer. Und es gibt kein Gedudel von der Decke.

Und was ich da jetzt lesen sollte, ist eigentlich Supermarkt-Gequatsche in Zeitungsformat. Grabbelkistengefühl. Und vor allem: Wer kauft diesen ganzen Müll?

Natürlich ahne ich es.

Ich habe wirklich gesucht. Ehrlich. „Freier, furchtloser Journalismus ist Teil dieses großartigen Landes“, schreibt Julian Reichelt, der Vorsitzende der Bild-Chefredaktion, in seinem Einleitungstext, in dem er erklärt, warum sich das bunte Blättchen zum 65. selber feiert und uns die Briefkästen mit Werbung zustopft. Und dann kommt ein Punkt. Und dann: „BILD ist ein Teil von Deutschland.“

Ich liebe diese feinen, kleinen Eingeständnisse. Ich liebe diesen Punkt. Es gibt irgendwo in diesem manchmal auch regnerischen und wochentäglichen Deutschland „freien, furchtlosen Journalismus“. Und es gibt auch noch die Bild-Zeitung mit ihren Grabbelangeboten für Leute, die im Kopf 65 und sachte drüber sind und Urlaub in Dubai machen und tatsächlich glauben, ihre Privatsphäre auf Facebook sei sicher.

Furchtlos also sprang ich auf und brachte das Werbepaket zur gefräßigen blauen Tonne.

Die mich freilich missbilligend anschaute.

Unsere blauen Tonnen sind ein bisschen etepetete, müssen Sie wissen.

Aber furchtlos riss ich ihren Deckel auf und stopfte das Papier gegen den erbittertsten Widerstand zu den anderen.

Klappe zu.

Aufatmen. Puls messen. „Nein, Leo. Solche aufregenden Sachen solltest du wirklich nicht mehr lesen.“

„Stimmt.“

Und natürlich hab ich mich in der Redaktion beschwert, dass ich nun wieder herhalten musste.

„Ist schon in Ordnung so, Leo. Die anderen haben alle ein Attest vom Arzt, dass sie sich nicht mehr so aufregen sollen. Darauf müssen wir Rücksicht nehmen, weißt du?“

Ich bin ja so ein verständnisvoller Mensch.

Aber ich habe das dumme Gefühl, dass jetzt jede Woche so ein Werbeblatt in meinem Briefkasten steckt. Für den Haussegen ist das gar nicht gut.

Euer Leo.

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