Ganz unbekannt ist Anne Dorn als Lyrikerin nicht. Aber trotzdem feiert die 1925 in Wachau bei Dresden Geborene mit 86 eine Premiere: Erstmals erscheinen ihre Gedichte in einem eigenen Band - und das noch als Nummer 1 der Reihe "Neue Lyrik", die im Poetenladen erscheint. Ein Auftakt in Quittegelb.

Erschienen sind die Gedichte der Autorin, die auf dem Markt schon mit mehreren Romanen, mit Hörspielen und Arbeiten fürs Fernsehen präsent ist, zuvor schon in Lyrikjahrbüchern. Die Auswahl betreut hat Jayne-Anne Igel. In einem Nachwort versucht sie auch ihre Art Annäherung an die Gedichte zu erklären.

Das Schöne an guten Gedichten: Sie brauchen keine Erläuterung. Sie leuchten aus sich selbst. Das ist auch bei Anne Dorn so, deren Umgangssprachlichkeiten der Herausgeberin auffallen. Der Eindruck trügt. Umgangssprachlich ist da nichts. Auch wenn es schlicht scheint auf den ersten Blick, was man da liest – einzuordnen vielleicht in irgendeine von den großen Schubladen von Alltags- oder Naturgedicht.Aber es wird Generationen von Literaturwissenschaftlern geben, die werden den Müll ihrer Vorgänger einfach nur noch mit der großen Schubkarre zum Papiercontainer befördern. Genauso gut könnte man die Lyrik in Schattenmorellengedichte, Guten-Morgen-Lyrik und Parkplatzpoesie einteilen. Es ist alles höherer Käse, ausgedacht, um Kinder in der Schule mit Narreteien zu plagen. Ohne auch nur den Kern zu berühren: Was ist Lyrik?

Nur eine Form? Nur ein Inhalt? – Oder doch besser (und die meisten Gedicht-Verzapfer wissen es wirklich nicht): eine Haltung. Eine, die sich den eigenen Blick für die Dinge bewahrt, das Besondere, Unverwechselbare. Und das Staunen. Man muss nicht “Staunen” drüber schreiben. Man muss nur seine Sprache, die schlichte, kennen und zu gebrauchen wissen. Das ist ein Unterschied zur Umgangssprache, die meistens gar nicht umgänglich ist, sensibel schon gar nicht. Man sperre nur in der Straßenbahn seine Ohren auf. Man wird entsetzt sein. Wenn man das noch kann. Im täglichen Umgang wird Sprache in der Regel missbraucht, malträtiert, benutzt wie ein Wischlappen.

Dichter – das macht sie so besonders und selten – haben noch die Aufmerksamkeit für die Worte, die sie benutzen. Sie gehen tatsächlich mit ihnen um, sinnlich, genau, voller Emotionen. Dichterinnen tun es auch. Vielleicht ein wenig weiblicher, aufmerksamer noch für das tägliche Tun, die Schritte und Handgriffe und den eigenen Körper. Der irgendwann natürlich schmerzt, weil ihn das Alter zermürbt. Anne Dorn hat eines der eindrucksvollsten Schmerzgedichte geschrieben, in diesem Band ist es genauso zu finden wie ihre aufmerksamen Bilder von Welt. Dem Draußen, das einige mit Natur verwechseln und sich genötigt fühlen, es zu besäuseln. Anne Dorn besäuselt nichts. Sie schaut, registriert, findet sich in dem, was sie sieht. “In flirrende Luft, Grenzen verwischend / mischt sich mein Herz die Farben der Gegenwart / hell, und beginnt noch einmal mit Torheit, / mit dem Bekenntnis, verletzlich zu sein.”

Auch mit 80 darf man noch staunen. Sich wundern über das so schnell vorübergegangene Leben. Was war das? – “Bin doch gerade erst jetzt / im Gewoge der Sterne / von Ost nach West / zu mir gekommen. / Dir, liebe Mutter, / zwischen die Schenkel gerutscht …”
In Anne Dorns Gedichten ist es wieder, das, was Gedichte zu kleinen Welten macht: das Bewusstwerden des eigenen Daseins. Und von alledem drumherum. Ein Jahrhundert fast, in dem die Schüsse von vor 70 Jahren noch nachhallen. Löcher im Putz eines polnischen Hauses. In Kopfhöhe. Anne Dorn bringt fertig, was die meisten nicht schaffen in der gebündelten Form: Schreckmomente, Stolpersekunden, kleine Lichtblitze zu setzen. Diese so unauffällig daherkommenden Schau-Hins, aus denen das Verblüffen platzt. Wer nicht hinschaut, sieht nichts. Wer alles weiß, wird nichts erfahren.

“Schritt vor Schritt” ist ein so typischer Text für diese Dichterin. Hier taucht das auf, was Jayne-Ann Igel wohl mit Umgangssprache meint – als Kontrapunkt. Als Zitat aus der Gedankenlosigkeit unseres täglichen Sprechens. Hier als rigide Warnung an Kinder, die mal beim Schlachten des Kaninchens nicht zuschauen sollen, mal der zischenden Pfanne auf dem Herd zu nahe kommen: “Kinder, beiseite!” – Als sie der Arbeit des Besamungsbullen zuschauen wollen, heißt es schon: “Luder, verdammte!” Und nur ein Dreh fehlt noch, dann heißt es: “Singt lauter! Seid friedlich! Marsch-marsch, ihr Kinder!”

Deutlicher kann man Kontrapunkte nicht setzen. Anne Dorn muss dazu ihre Sprache nicht zerstückeln, gar kalt abgießen, wie das manch Anderer tut. Sie schreibt noch in erstaunlicher Schlichtheit (die so schlicht nicht ist): “Sieben Dörfer weit rannte die Nachricht: / Hanna ist tot. Wie die Mutter schreit!” Aus den stimmigen Bildern ihrer Kindheit tauchen die Erschütterungen auf, die selbst wieder gebrochen sind: “”Schön ist der Tag! / Wie kann er denn schön sein?”

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Wetterleuchten
Anne Dorn, Poetenladen Leipzig 2011, 16,80 Euro

Das ist dann Noch-Lebendigsein: Mit 80 die Unsicherheiten des Kindes wieder zu erleben, das Zerrissensein zwischen den Eindrücken des Lebens: Trauer gemischt mit Freude an einem blühenden Tag – und nicht wissen, was nun das Richtige ist. Aber so ist Leben. Und so sind gute Gedichte: Kapseln voller Lebendigsein, die auch die Leser berühren. Egal, wie alt sie sind.

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