Geschichte verläuft immer so irrational wie ihre jeweiligen Protagonisten denken und handeln. Eine Logik in der Geschichte entdecken meist erst die späteren Historiker. Und damit ein Ereignis abgrundtiefer menschlicher Dummheit so etwas wie einen Sinn bekommt, deutet man von Späterem gern auf die Logik des Früheren. Doch was wäre ähnlich irrational wie Napoleons Marsch auf Moskau 1812?

Das ist jetzt fast 200 Jahre her. Im Juni sind die zwei Jahrhunderte rund. Damals im Sommer zog die 600.000-Mann-Armee des Kaisers der Franzosen los Richtung Osten. Und 20.000 Sachsen waren natürlich dabei. Der 1806 zum ersten sächsischen August gekrönte König hatte Napoleon seine besten Truppen mitgegeben. Nicht nur aus purer Freundschaft. Auch ein bisschen aus politischem Kalkül. Wer eine Krone geschenkt bekommt, ist dankbar. Und weiß auch, dass ein Nein als undankbar empfunden worden wäre.

Und seine Soldaten fragte sowieso niemand, ob die mit dem größenwahnsinnigen Franzosenkaiser nach Russland marschieren wollten. Trotzdem hat der Russlandfeldzug Folgen gehabt – auch und gerade auf die sächsische Geschichte von 1813 ff. Denn es sind die Sachsen, deren Überlaufen bei der Völkerschlacht bis heute gern bespottet und erzählt wird. Dass mit ihnen auch hessische und andere Kleinverbände die Seiten während der Schlacht wechselten, spielt nie eine Rolle. Denn es scheint so zwingend und logisch: König August I. hielt bis zuletzt an der Seite Napoleons aus, am 19. Oktober 1813 verabschiedete sich Napoleon noch von ihm persönlich im Königshaus am Markt in Leipzig. Wünschte ihm viel Glück.

Und weil er so lange “auf der falschen Seite” aushielt, wurde Sachsen dann eingedampft – die Preußen steckten sich die Beute ein. Beim Wiener Kongress stand die Existenz Sachsens sogar zeitweilig ganz in Frage.Reinhard Münch, der schon mit fundierten Quellenarbeiten zur Völkerschlacht auf sich aufmerksam machte, hat mit diesem kleinen Buch versucht, die Quellen zur Teilnahme der sächsischen Truppen am Russlandfeldzug 1812 aufzuarbeiten. Und dabei einige Fragen geklärt, die die Gelehrten 200 Jahre lang beschäftigten. Denn auch das ist Geschichtsschreibung: Sieger-Tamtam. Wer immer den Zugriff auf die Interpretationsgeschichte hat, versucht seine Sicht der Dinge durchzudrücken. Mit fetten Memoiren, Schlachtenbeschreibungen aus Siegerperspektive und entsprechenden Anekdoten über den Gegner oder die ungeliebten Verbündeten. Das geht – wie im Fall des sächsischen Oberkommandierenden Generalleutnant von Gutschmid – bis ins Persönliche.

Doch Münch kann sein kleines Buch mit einer Ehrenrettung beginnen. Denn Gutschmid starb zu Beginn des Feldzugs wohl eben nicht durch die ihm nachgesagte Trunksucht, sondern wahrscheinlich durch Läusefleckfieber, übertragen durch die Kleiderlaus. Anders als in den meisten Kriegsfilmen zu sehen, ist Krieg eben nicht einmal dann eine saubere und hygienische Angelegenheit, wenn die Truppen noch gar nicht auf dem Schlachtfeld sind. Die große Menschenballung, die Schwierigkeit, immer für genügend Verpflegung und sauberes Wasser, ordentliche Unterkünfte und Gelegenheit zum Wechseln und Waschen der Kleidung und der Körper zu schaffen, sorgten in den gloriosen Zeiten der Selbstherrscher eigentlich immer dafür, dass Tausende Soldaten von Epidemien hinweggerafft wurden.

Tausende Teilnehmer des Russlandfeldzugs fanden schon im Sommer 1812 in Litauen den Tod. Aber erst der Fund eines Massengrabes mit 2.000 Toten im Jahr 2001 brachte die Historiker auf die Spur dieses Ereignisses. Und machte einmal mehr deutlich, wie wenig von dem, was tatsächlich passierte, in den Geschichtsbüchern steht.

Der Knobloch-Spruch gilt weiter: Misstraut den Grünflächen.

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Dass der Großteil der sächsischen Truppen nicht mit dem Hauptheer nach Moskau marschierte, bescherte der Truppe kein schöneres Schicksal als dem Rest. Sie operierten zwar im Hinterland der Armee und waren über Wochen von den Nachrichten über die tatsächlichen Ereignisse völlig abgeschnitten, doch als endlich klar war, dass Napoleon ein gewaltiges Debakel erlebt hatte, gerieten auch die sächsischen Verbände in den dramatischen Rückzug, erlebten die Härten des Winters und waren in Kalisch am 15. Februar 1813 schon fast wieder zurück auf polnisch-sächsischem Territorium, als sie von einer Übermacht russischer Truppen fast völlig aufgerieben wurden.

Ein Ereignis, das Münch als Schlüssel interpretiert für alles, was dann folgte. Denn kurz vorher, am 30. Dezember 1812, hatten die Generäle Yorck und Diebitsch für Preußen und Russland die Konvention von Tauroggen abgeschlossen. Aus den Preußen (die sich ja ebenfalls an der Grande Armee Napoleons beteiligen mussten), waren Verbündete der Russen geworden. Und es zeichnete sich ab, was beim Wiener Kongress eines der größten Geschacher werden sollte: Die Russen wollten mehr vom polnischen Kuchen und brachten die Preußen zum Verzicht, weil sie ihnen den anderen großen Happen – die Hälfte Sachsens gönnten.

Sächsische Reiterei war auch bei Borodino dabei. Münch hat etliche Augenzeugenberichte der Zeit zu Rate gezogen, nicht nur die von Offizieren, sondern auch von einfachen Muschkoten, die die ganzen 5.000 Kilometer zu Fuß marschiert sind, die in den Gefechten “tapfer aushielten”, wie das so schön heißt in den schön-blumigen Erinnerungen der Offiziere, die in der Regel die Einzigen waren, die ihre Erinnerungen überhaupt aufschrieben. Und die dabei so unwichtige Dinge wie die Fourage, die Wasserbeschaffung, den Zustand der Uniformen, das Sterben auf den Lazarettwagen und auch die Läuse meistens wegließen.Von den 20.000 Sachsen, die mit Napoleon nach Russland zogen, sind mehr als die Hälfte nicht wiedergekommen. Dass August I. dem schlachtenlüsternen Kaiser gleich wieder neue, gut ausgebildete Truppen versprechen konnte, lag an Napoleons Schachzug, alle Offiziere, die den Rückzug aus Moskau ohne Truppen mitmachten, in einem Corps eiligst mit zurückzuführen. Darunter war auch jener General Thielmann, den Münch in diesem Buch noch “umstritten” nennt. In “Des Königs Butterkrebse” zeichnet er die Gestalt ja bekanntlich deutlich differenzierter.

Und wenn Münch so weitermacht, könnte es passieren, dass er mit der Zeit das Material für eine ganz originäre sächsische Geschichte in der Napoleon-Zeit zusammenbekommt – facettenreich, komplex und so differenziert, dass sich vielleicht tatsächlich einmal jemand hinsetzen kann, diesen Teil der Geschichte aus ihrem Klebeverband von Vorurteilen herauszulösen. Schluss mit all den Lächerlichkeiten von “immer auf der falschen Seite” oder “zu lange an Napoleons Seite ausgeharrt”. Wenn die einfachen Soldaten im Schlamm verrecken, sind die wichtigsten Absprachen in den Hinterzimmern der großen Spieler längst getroffen worden.

Und umgeschrieben gehört wohl auch die Rolle all der großen Strategen. Dafür gehört – wie Didier Raoult und seine Kollegen, die das Vilniuser Massengrab untersuchten, vermuten – eine ganz andere Bewertung all der hygienischen und epidemischen Zustände beim Marsch dieser gigantischen modernen Armeen, deutlich stärker gewichtet. Die größten Verluste hat die Grande Armee wohl eben nicht durch Verwundung oder Frost erlitten, sondern durch die Seuchen, die durch die Feldlager fegten.

Was Münch übrigens auch mehrfach andeutet. Unter anderem auch mit dem Hinweis darauf, dass die ersten Spezialisten, die in den sächsischen Marschkolonnen fehlten, die Chirurgen waren. Man hatte nicht genug mitgenommen, um den Ausfall während des Feldzugs zu kompensieren.

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Auf dem Weg zur Völkerschlacht
Reinhard Münch, Tauchaer Verlag 2012, 9,95 Euro

Münch hat auch einen Verwandten Johann Wolfgang von Goethes im sächsischen Kontingent entdeckt. Und er erwähnt nicht ohne Grund den Tod des Regimentskommandeurs Oberst Johann Carl von Rayski, Vater von fünf Kindern, der am 26. Januar 1813 in Gefangenschaft starb. Sein Sohn Ferdinand, 1806 in Pegau geboren, wurde einer der berühmtesten Maler der napoleonischen Kriege. Weltberühmt wurde sein Gemälde “Die Grenadiere im Schnee”, das den Einband des kleinen Buches ziert.

Ein Bericht über die Untersuchung des im Text erwähnten Massengrabes findet sich hier: www.wissenschaft.de/wissenschaft/news/260116.html

Auch auf dem Rückweg der napoleonischen Truppen aus Russland starben tausende Soldaten in und um Vilnius. Darüber berichtete 2004 “Die Zeit”: www.zeit.de/2004/38/Grande_Armee

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