Anfangs denkt man: Das ist wieder so eine blöde Geschichte von einem dieser Berliner Faulpelze, die mit Studieren nicht fertig werden und sich mit prekären Jobs durchs Leben schlagen - Paketfahrer zum Beispiel. Aber je mehr sich diese seltsame Geschichte einer Päckchenauslieferung nach Hamburg entfaltet, umso mehr fühlt man sich an einige der ganz großen Autoren der klugen Science Fiction erinnert.

Natürlich gibt es auch die doofe Science Fiction. Die verstopft ungefähr 99 Prozent der Science-Fiction-Regale. Da wird geballert und gebeamt, gewarpt und getasert, gekaisert und robotert, dass kein Auge trocken bleibt. Und die physikalischen Gesetze werden verbogen, bis man sich die Schwarte nur noch verzweifelt vor den Kopf schlagen kann. Simple physiologische und psychische Gesetze gehen dabei genauso über die Bordwand. Scheinbar alles kein Problem. Da der Müll von Hollywood in der Regel auch noch mit einer Menge Bumms und Knall verfilmt wird, ist jener Zustand, den Stanislaw Lem einst zur Science Fiction auf Erden diagnostizierte, bis heute erhalten: Die alten Cowboy- und Ranger-Pistolen leben fröhlich weiter – unbeleckt von allem, was tatsächlich Science sein könnte.

Die wirklich kluge Science Fiction, die tatsächlich in die Fußstapfen der Wells, Orwell und Huxley getreten ist, die bemüht sich heute heftig darum, dass auf dem Cover nichts von Science Fiction steht und das Buch möglichst nicht im Irrenhaus der ballernden Raumschiffe landet. Man denke nur an die freundlich unauffällige Weise, mit der der Heyne Verlag die Bücher von Philipp K. Dick im Markt platziert. Und da wäre man schon angelangt bei jenem Vorbild, das ein wenig aus der Geschichte hervorblinzt, die Tobias Herre hier geschrieben hat, als Tube Gründungsmitglied der Lesebühne LSD.

Im Leben jenseits der Scheinwerfer eben kein Paketbote, sondern Programmierer. Er kennt die Welt hinter den Pixeln. Und er hat sich mit jenen Dingen, über die auch die Piraten heute in der Regel nur laienhaft fabulieren, ernsthaft beschäftigt. Denn wer hinter der Informationsfreiheit im Netz nicht die Macht sieht, die jemand erlangt, der Zugriff auf alle Datensätze hat, der hat nichts begriffen. Der kann vorn auf der Oberfläche seine Freiheit feiern – hinter den Algorithmen aber machen die wirklich dicken Fische ihre Geschäfte, sichern sich die Zugriffe, unterlaufen Gesetze, eignen sich an, was ihnen nicht gehört, und bestimmen die Spielregeln. Das ist schon heute so. Wer das Lied von den “Social Media” geigt, ist der Geiger eines fremden Herrn und tanzt nach fremder Pfeife. Die Namen der Moloche sind bekannt.

Ist nur die Frage: Ist es schon so schlimm, wie es William Gibson in seiner Idoru-Trilogie schildert? Oder kommt das noch, steht uns das kurz bevor?
Was bei Herre anfangs wie eine jener flockigen Geschichten aus dem prekären Leben eines Berliner Postboten beginnt, taucht schon nach wenigen Seiten ein in die Welt der Daten und der gar nicht so simplen Frage nach dem Recht an der eigenen Persönlichkeit. Dass Herre sich ein paar mehr Gedanken macht über diese Dinge, merkt der Leser spätestens, wenn sich sein Paketbote Anselm Hagen bei der Benutzung der ersten Teleport-Station von Berlin nach Hamburg zu vervielfältigen beginnt. Ein “Fehlerchen” im Algorithmus der Maschine ist schuld – weil Anselm kein Geld mehr auf dem Konto hat, wird die Teleportation abgebrochen – der neue Anselm in Hamburg ist aber schon materialisiert. Es gibt nun also zwei. Wenig später gibt es fünf, weiter hinten im Buch sogar 501 Anselms. Das ist also ein bisschen wie in der “Siebenten Reise” von Ijon Tichy.

Nur dass Anselm Hagen nicht in einem Sternenschiff zur Beteigeuze reist, sondern auf Erden herumläuft, ein mysteriöses Päckchen gleich mehrfach abliefert, die Schliemanz-Koch AG aber nun ein kleines Problem hat: Die zu viel ausgelieferten Personen müssen wieder weg. Und da Tobias Herre sich auch mit diesem seltsamen Vorgang des Teleportierens etwas eingehender beschäftigt hat, erfährt der Leser so beiläufig, dass man den Segnungen der modernen Technik durchaus misstrauen sollte. Denn die Frage ist ja so abwegig nicht: Was passiert mit dem menschlichen Original, wenn per Datentransfer in Hamburg ein originalgetreues Duplikat erzeugt wurde? Die originalen Bestandteile wurden ja nicht nach Hamburg transportiert.

Dr. Festus, der in diesem Buch auch den Erzählrahmen vorgibt, erklärt einem der Anselms recht ausführlich, worin der eigentliche Vorteil dieser Art des Transports besteht – man spart sich ja Riesenschiffe und Massentransporte. Die Daten passen ja durch jede Telefonleitung. Und das Original muss logischerweise ausgelöscht werden. Mouliniert, wie es bei Herre so schön heißt.

Ein Vorgang, der den Passagier der Schliemanz-Koch AG auf einmal zu einem Objekt macht. Und Anselm tiefe und erschreckende Einblicke in die ethischen Dimensionen des Ganzen nehmen lässt. Verständlich, dass die Schliemanz-Koch AG der Öffentlichkeit keineswegs genau erklären will, wie ihre Teleportation im Detail funktioniert.

Fast scheint sich das Buch nach und nach aufschaukeln zu wollen in einer wilden Jagd der mit dem geheimen Staatsdienst liierten Schliemanz-Koch AG auf jeden einzelnen Anselm Hagen und dessen schnellstmögliche Moulinierung. Doch gerade da, als ein großer Unfall (mit 501 Hagen Anselms) auf der Autobahn nach Hamburg die Geschichte endgültig enden zu lassen scheint, landet Anselm unverhofft auf einer einsamen Insel in der Südsee.

Die Frage ist nur: Wie kam er da hin?

Die Frage wird beantwortet. Genauso flott, wie Herre auch die ganze wilde Geschichte bis hierher erzählt hat. Jetzt in kleinen, sehr ironischen Szenen, in denen auch die eben noch von Anselm versetze Marie endlich eine wesentlichere Rolle bekommt. Auf der Suche nach ihrem Anselm begegnet sie Dr. Festus selbst und erfährt nun aus berufenem Munde, welche Weiterungen die Technik der Teleportation tatsächlich bietet. Denn wer Menschen komplett digitalisieren kann, der kann sie nicht nur neu materialisieren, der kann noch ganz andere Sachen mit ihnen anstellen. Und der sitzt an einem ganz langen Hebel, wenn es darum geht, die Rechte an einem Körper, an einer Person und deren Leben völlig neu zu definieren.

Oder, was wahrscheinlicher ist: sie dem Produkt- und Markenrecht einzuverleiben. Und da ist es kein Schritt mehr, dass eine Firma, mit der man derart ins Geschäft kommt, auf einmal alle Paragraphen für sich hat, mit den ihr gehörenden Daten und Körpern tun und lassen zu können, was ihr gefällt. Es ist schon erstaunlich, welche Logik hier auf einmal wirkt – wie vertraut einem diese Art Denken mittlerweile ist. Und das Beklemmende an der durchaus flott und fabulierfreudig erzählten Geschichte ist gar nicht mal die mehrfache Moulinierung all der Anselms – sondern das Selbstverständliche daran, die gar nicht mehr verstörende Verwandlung eines Menschen in ein Datenpaket, das nun auf einmal einer Firma gehört.

Oder gehört es Dr. Festus, der die Geschichte nur erzählt hat und am Ende eine CD mit den Daten von Anselm Hagen in der Hand hält?

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Das Fehlerchen
Tube Tobias Herre, Verlag Voland & Quist 2012, 17,90 Euro

Ein Buch mit vielen Schichten. So abgründig wie die Gegenwart, in der die einen so tun, als könnten alle Daten einfach so allen gehören – und die anderen sich schon die Patente auf Keimzellen und DNS-Variationen gesichert haben. Ein echtes Tube-Buch auch, sehr ironisch, zuweilen fröhlich-flapsig erzählt, so dass die durchaus frappierende Einblicke in die Welt der Schliemanz & Co. umso schwärzer wirken. Ein bisschen wie der Moment in der Teleport-Station, wenn der fröhlich teleportierende Kunde begreift, dass sich unter ihm gerade der Boden der Kabine geöffnet hat. Unten wartet die Moulinette. Aber wer kommt eigentlich in Hamburg an?

www.surfpoeten.de/tube

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