Es war 1988 so gut wie unmöglich, diesem Lied zu entkommen. Aus jedem Radio tönte es: "Ooh - ich sehe Schatten an der Wand. Oooh - sie erzählen mir aus einem neuen Land." Ein neuer Stern war aufgegangen am deutschen Pop-Himmel. Der Name: Julia Neigel, die sich damals lieber Jule nennen ließ - und gerade mal 22 Jahre alt war. Gesegnet mit einer energiegeladenen Stimme, die jede Rakete aus dem Kraftfeld der Erdanziehungskraft hätte katapultieren können.

Fünfzehn Jahre später – nach zahllosen Höhen und noch mehr Tiefen – ist der Neigel-Akku leerer als leer, sind ihre Zuversicht, Lebensfreude und Selbstvertrauen restlos aufgebraucht. Ihre persönlichen “Schatten an der Wand” zwingen sie auf die Knie: “Ich weiß nicht mehr, wer verrückt und wer normal ist. Jetzt ist es soweit, es wird dunkel, und das schwarze Loch der Angst verschlingt mich. Wie mechanisch nehme ich die Tabletten aus der Schublade, insgesamt 80, monatelang gehortet, und löse sie in Wasser auf. Ein Zeitgefühl habe ich nicht mehr. (…) Eine milchige Flüssigkeit im Glas – mehr ist es nicht. Ich leere es in einem Zug und lege mich hin. Das Bitter brennt noch lange auf meiner Zunge, ich falle und schlafe …”
Im Dezember 2003 steht Julia Neigel – die vermeintliche Powerfrau, die einzigartige Rockröhre mit sibirischen Wurzeln – seelisch am Abgrund, sie kann nicht mehr. Dass sie kurz darauf, bildlich gesprochen, in einem Sicherheitsnetz landet statt zerschmettert auf der Talsohle, hat sie ihrer Mutter zu verdanken, die ihr mit mütterlichem Instinkt das Leben rettet: “Kind, das kannst Du mir doch nicht antun.”

Hätte diese autobiographische Selbst-Abrechnung, diese Lebens-Bilanzierung als fiktive Geschichte in einem Groschenheft gestanden, man hätte es wohl schnell beiseite gelegt. Und es als zu weltfremd, zu holzschnittartig, zu billig schwarz-weiß abgetan. Denn wie kann es sein? Wie kann es sein, dass eine so kraftvoll wirkende Person sich so zermürben lässt? Dass sie sich in privaten wie künstlerischen Dingen so lange und so selbstzerstörerisch von den Fassaden vermeintlich wohlwollender Menschen blenden lässt? Doch offensichtlich haben auch musikalisch erfolgreiche Künstler mit zwei Millionen verkauften Tonträgern – “Ausgesorgt für alle Zeit”, denken da viele Zeitgenossen – keine Sorglos-glücklich-Garantie in der Tasche.

Es ist eine spannende Lebensabschnitts-Beichte, mit durchaus seelentherapeutischen Motiven – für die Autorin und für die Leserschaft. Beeindruckend in ihrer Offenheit, ebenso fesselnd wie feinfühlig formuliert dank des als Co-Autoren beteiligten Leipziger Journalisten Arno Köster. Ein Buch, das das Interesse an und die Neugier auf den Mensch Julia Neigel wachsen lässt.

Zeitsprung: “Rock’n’Roll-Arena in Jena ‘Für eine bunte Republik Deutschland’, 2. Dezember 2011 nachmittags, vor rund 50.000 Zuschauern. Julia Neigel und ihre Band sind als erste dran bei diesem Konzert-Festival gegen rechte Gewalt: “Freude pur, ich darf wieder vor so vielen Menschen auftreten, und sie (…) empfangen mich mit einer Wärme und Liebe, die ich lange nicht mehr erlebt habe. Ich lasse mich fallen und lege eine Performance hin, die alle mitreißt. Der Funke springt über. (…) Ich kann es noch, ziehe die Musiker mit, und wir fallen in einen gemeinsamen Rausch. (…) Als ich von der Bühne gehe, brülle ich erstmal weiter, die Energie ist noch nicht raus aus meinem Körper. (…) Bis ich einigermaßen runterkomme, soll es Abend werden.”

Julia Neigel ist wieder auf die Beine gekommen: als Persönlichkeit, als Mensch, als Künstlerin. Wohl nicht nur, jedoch auch dank der Unterstützung solcher Freunde wie Udo Lindenberg und Peter Maffay. Das ist gut so. Ich drücke die Daumen, dass diese sympathische Frau diesmal ihre legendären persönlichen “Schatten an der Wand” dauerhaft aus ihrem Leben verbannen kann.

Julia, lass bald wieder von Dir hören!

“Neigelnah”, Julia Neigel; Arno Köster, Gütersloher Verlagshaus 2012, 19,99 Euro

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