Ein Jubiläum bringt so Manches an den Tag. Im Wagnerjahr beschäftigt man sich ein wenig intensiver mit der Person und dem Leben Wagners und zwangsläufig mit dem unfertigen, unausgegorenen deutschen 19. Jahrhundert. Auch Nietzsche gehört in den Zusammenhang. Auch er wurde nach seinem Tod einvernahmt, zurechtinterpretiert und reduziert. Er passt nicht. Bis heute.

Almos Csongár hat den Philosophen schon in DDR-Zeiten versucht, wieder in die Diskussion zu bringen. Was durchaus ein Balance-Akt war. Denn die klugen Weltdeuter der einzig echten Arbeiter-und-Bauern-Regierung hatten sich, wie auch in anderen Fällen, einfach die Deutung der NS-Propaganda zu eigen gemacht, nur halt auf den Kopf gestellt: Wenn Friedrich Nietzsche für den “Übermenschen” der Nazi-Interpretation verantwortlich ist, dann ist er auch ein Nazi-Vordenker. Fertig der Lack. Ab ins Vergessen.

Csongár bringt in einem fingierten Gespräch, das er 1974 aufschrieb – und damals natürlich nicht veröffentlichen konnte – Nietzsche mit Marx und Dostojewski zusammen und lässt sie darüber nachsinnen, warum sie eigentlich alle drei das Gleiche wollten, aber dennoch alle irgendwie missverstanden wurden. Das Gespräch hat er in diesem Band mit veröffentlicht. Alle drei haben versucht, der sich gerade etablierenden Moderne eine Neuinterpretation entgegen zu setzen. Für alle drei war die neu heraufziehende Gesellschaft ein sinnentleerter Zustand, in dem nur noch eines regierte: der Markt.

Was ja bei Nietzsche direkt in den Ausruf mündet: “Gott ist tot.” Eine ganze bürgerliche Welt tat seinerzeit entsetzt. Und liest Nietzsche deswegen auch heute nicht mehr. Denn der Spruch ist ja Mehreres in einem: Feststellung, Warnung und Analyse. Denn wenn Gottesdienst zur sinnentleerten Farce wird, wird auch die dargestellte Religiosität zur Farce. Und damit entleert sich auch die herrschende Moral. Die alten Formeln werden zum Etikett für eher unmoralische Maßstäbe. Das komplette 20. Jahrhundert kann davon singen. Nichts verachtete Nietzsche so sehr wie bürgerliche Scheinheiligkeit. Und seine Philosophie war auch ein Versuch, eine neue Moral zu schaffen – eine nach-christliche Moral. Womit er Dostojewski und Marx sehr nah war.

Auch wenn das bis heute in den Interpretationen, die man Nietzsches Werk angedeihen lässt, meist nicht mal angedeutet ist. Der “Übermensch” wird Nietzsche immer wieder übel genommen, auch wenn sich die Übelnehmer selten damit befassen, was er damit nun eigentlich wollte. Woher kam seine Verachtung für die “Masse”, das Herdentier, das auf den Marktplatz zu Hauf strömt, wenn eine Hinrichtung angekündigt wird? – Dabei kennen gerade Propagandisten und Marketingfachleute das Herdentier nur zu gut. Mit seinen Hoffnungen, Wünschen, Ängsten lässt es sich am Ring durch die Manege ziehen.
Von einer aufgeklärten Gesellschaft im Sinne Kants war Nietzsche Deutschland so weit entfernt wie die diversen Deutschlande, die man danach erleben konnte. Das konnten gerade kluge Analytiker wie Elias Canetti (“Masse und Macht”) aus eigener Erfahrung bestätigen. Das gesamte Hitler-Reich wird begreifbarer, wenn man Nietzsche eben nicht den Vordenkern dieses Reiches zurechnet, sondern seinen (Vor-)Kritikern. Nichts hat er so heftig kritisiert wie die “Sklavenmoral”, für die er das Christentum verantwortlich macht. Was ihm zusätzliche Feindschaften einbrachte. Aber das analytische Werk zur Funktion der Missionierung der Deutschen und damit ihrer “Zivilisierung” steht noch aus. Das Christentum wurde den Germanen und Slawen ja nicht verkündet, sondern mit Feuer und Schwert beigebracht. Und wie tief diese Herren-Sklaven-Moral in Deutschland saß, zeigte auch Luther, als er die rebellierenden Bauern als “mörderische Horden” brandmarkte und eine Unterordnung unter die Herren der Zeit forderte.

Das sitzt tief im deutschen Denken. Und daher kommt auch Nietzsches Spruch “gut deutsch sein heißt sich entdeutschen”. Wenn dieses Land aus seiner fatalistischen Unterwürfigkeit, aus seiner Sklavenmentalität heraus wolle, müsse es sich öffnen, über das nationalistisch Kleinkarierte hinauswachsen. Missgunst, Neid und Schwäche ordnet Nietzsche diesem ganz speziellen deutschen Untertanengeist zu. Und weil man auf Erden nicht den Mumm hat, mit Rückgrat zu leben, schafft man sich die Wunschreiche im Imaginären – was ja bekanntlich schon Heine mit spitzer Zunge geißelte. Der “Übermensch” ist kein Supermann jenseits der Herdenmoral, irgendein durch seine Sendung über die Herde Erhobener. Für Nietzsche ist er “das Seil über den Abgrund”, der Mensch, der eben nicht mehr mit der Herde latscht, sondern handelt und die Verhältnisse ändert. Und zwar aus eigenem Antrieb – und nicht durch irgendeine Partei befohlen.

Das ist genau er Punkt, an dem die Satrapen des Sozialismus immer gescheitert sind und die Panzer geschickt haben: Den Individualismus, den selbstbewussten Menschen hielten sie immer für einen Feind der Gesellschaft, die sie behaupteten aufzubauen. Aber für Csongár war genau das der Punkt, an dem die sozialistischen Funktionäre ihre Glaubwürdigkeit verloren. Man kann keine neue Gesellschaft aufbauen, wenn man die Menschen zu Untertanen erzieht. Csongár, Jahrgang 1920, geht sogar noch weiter. Er interpretiert die Ereignisse von 1989/1990 als direkte Folge dieser langen Übung in Untertänigkeit. Dazu, die alten Satrapen aus der Regierung zu fegen, reichte es noch. Aber den Mut, tatsächlich aus eigener Kraft das Ruder in die Hand zu nehmen und mit den Händlern aus dem bräsigen Westen auf Augenhöhe zu verhandeln, hatten die friedlichen Revolutionäre dann nicht.

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Das Buch vereint Artikel und Essays, die vor allem in den vergangenen 23 Jahren an verschiedener Stelle erschienen. Deswegen gibt es auch mehrere Beiträge zum direkten Zeitgeschehen, zu Diskussionen um Erwin Strittmatter, Christa Wolf, Diskurse zu Franz Fühmann und Günter Kunert. Dabei wird Csongár stellenweise sehr kritisch, weil er auch in der Gegenwart die Neigung selbst einst kämpferischer Zeitgenossen sieht, sich dem “Mainstream” anzupassen, den Kopf einzuziehen und sich “den Verhältnissen zu beugen”. Oder den “Sachzwängen”, wie das im neueren Polit-Sprech so heißt. Was dann natürlich das lähmende Gefühl erzeugt, irgendjemand “da oben” macht das alles und man könne eh nichts dran ändern. Aber die Wahrheit, die Nietzsche eben auch aussprach, ist: Wer so sein Nichtstun begründet, steckt im alten Muster, das es den Herrschenden in Deutschland immer so leicht gemacht hat, sich durchzuwursteln. Der denkt ganz untertänig.

Und so nebenbei nimmt Csongár mit Verweis auf Nietzsche auch die sogenannte “Moderne” auseinander, das, was einige Leute so gerne für eine Kunstrichtung halten. Aber wenn Kunst sich nur noch nach ihrem Marktwert bemisst, wo bleiben dann die Maßstäbe? Wird nicht alles beliebig und jeder beliebige Händler kann jeden Müll zu Kunst erklären und teuer verkaufen, wenn er nur genug Dummköpfe findet, die mitspielen? – Übrigens ein Gedanke, der so bei Marx ja noch nicht vorkommt, obwohl er sich intensiv mit der Frage beschäftigt hat: Was passiert eigentlich mit den Menschen in einer Gesellschaft, die alles zur Ware macht und alles nur noch nach dem Marktwert beurteilt? – Das lässt die Kunst nicht außen vor. Kunst ist augenscheinlich, was sich teuer verkauft. Man staunt schon, wie modern drei kluge Köpfe des 19. Jahrhunderts sind, wenn man sie aus den Vereinnahmungen löst.

Almos Csongár “Herdenmoral. Gut deutsch sein heißt sich entdeutschen”, Patchworld Verlag, Berlin 2013, 19 Euro

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