Solche Geschenke wünscht sich so Mancher. Zum eigenen Geburtstag: ein Buch zum 90. Selbst geschrieben. Sigrid Lichtenberger hat es getan. Und es ist auch ein kleines Geschenk für ihre Geburtsstadt Leipzig. 1923 wurde sie hier als Tochter eine Pelzhändlers geboren. Hier wuchs sie auf, ging zur Schule, studierte. Und ging dann in den Westen, wie so viele, für die der Osten nach 1945 keine Zukunft mehr war.

Aber woran erinnert man sich mit 90? – Sie will keine detaillierte Biografie schreiben, schreibt die Autorin. Das hat sie sowieso schon mehrfach gemacht. 2005 zum Beispiel mit “Mein Ich im Gefüge der Zeit – Jung sein in den Jahren 1923 bis 1945”. Sie hat ihren Ruhestand aufgefüllt mit Unruhe, schreibt Buch um Buch und hat sich im hohen Alter, ausgelöst durch eine Aufgabe in ihrer Schreibgruppe, auch noch auf die Spurensuche gemacht in ihrer Heimatstadt Bielefeld, wo sie seit 1953 lebt. Wissend darum, dass eine Stadt zwar Heimat sein kann, aber nicht immer auch jene Gefühle auslösen kann, die die Stadt der Kindheit auslöst.

Und das ist nun einmal Leipzig, das Sigrid Lichtenberger nach 1990 wieder besuchen konnte. Selbst das ja schon wieder ein Stück Geschichte. Da müssen sich auch Leipziger den Kopf zerbrechen, um sich zu erinnern: Wie sah Leipzig eigentlich 1990, 1991 noch aus? Ramponiert von der Zeit, nicht wiederzuerkennen, wenn man das Leipzig vor den Bombenstürmen des Weltkrieges gekannt hat. Und die Bombenstürme hat Sigrid Lichtenberger ja als Studentin miterlebt, zitternd mit den anderen, die in den Keller geflüchtet waren. Am Ende ist ihr Institut, das Physikalische, völlig zerbombt. Die Stadt ein Trümmerhaufen.
Als sie nach 1990 durch die Innenstadt geht, fehlen ihr die hohen Häuserschluchten von einst. Der “Sachsenplatz” macht die Stadt fremd. Bis sie auf die geretteten winkligen Reste der Stadt trifft, die sie kannte. Ein Zuhause-Gefühl aus lauter Flicken. Seitdem war sie noch mehrfach da, hat ihre Kindheitsorte in Gohlis rund um den Schillerhain besucht, hat an mehreren Buchmessen teilgenommen und ihre Bücher vorgestellt.

Ihr Buch ist ein geistiger Spaziergang im Garten der Erinnerung, der Versuch, die Bilder zu fassen, die auftauchen. Was bleibt, wenn man mit 90 zurückdenkt? Was war wichtig? Die Hungerzeit nach dem Krieg hat sich tief eingegraben, der Versuch, mit Zähne-Zusammenbeißen im Westen, in Hannover, wo sie an der Technischen Universität studiert, Fuß zu fassen.

Der Vater wird auf die perfide Art der neuen Machthaber enteignet, wird selbst zum Bittsteller. So lieben es ja die Machthaber immer wieder. Doch er überlebt das nicht lange. Erst die Mutter wechselt dann zu ihrer Tochter nach Bielefeld, wird zum Teil des jungen Haushaltes, der sich sogar ein Haus baut. Die Träume vom Eigenheim, die heute noch immer in den Köpfen vieler Politiker rumoren, sind die Träume dieser jungen Nachkriegsgeneration. Die auch lernte, sich nicht unterkriegen zu lassen. Lichtenberger versucht sogar herauszufinden, warum sie so überhaupt keine Erinnerung an die Politik der ersten Jahre hat. Hat sie keine der Zeitungen gelesen, die sie ausgetragen hat? Oder war der Kampf um das täglich Brot so wichtig, dass alles andere keine Rolle spielte? – Ihr erstes selbstverdientes Geld gab sie für zwei Kilo Kirschen aus.

Was bleibt sonst noch? – Frisch sind augenscheinlich noch die letzten, vorsichtigen Lieben. Man wird ja skeptischer im Alter, weiß, dass Menschen mit ihren verschiedenen Partnerschaftserfahrungen auch gebrannte Kinder sind. Da tastet man sich langsamer vor, unterdrückt auch die Schwärmerei. Und verzichtet am Ende wohl doch lieber, wenn man das Gefühl bekommt, dem anderen nun doch zu nah auf die Pelle zu rücken. Man braucht ja die Partnerschaft nicht mehr als Beweis, ein richtiger Mensch zu sein, diese Bestätigung durch die Liebe.

Die Liebe ist ja doch da. Nur die Momente, in denen man ihr begegnet, verwandeln sich. Manchmal ist es ein gutes, sehr persönliches Gespräch, in dem man sie erleben kann, manchmal das Wissen um die Kinder und Enkel da draußen in aller Welt. Denn mittlerweile bleiben ja auch die jungen Generationen nicht mehr da, suchen ihr Glück anderswo in der Welt. Natürlich wird das Buch auch nachdenklich an solchen Stellen. Doch die Autorin hadert nicht. Im Gegenteil, sie bleibt bei ihrem prägnanten, sehr lebendigen Stil. So leicht und genau schreiben selbst etliche der deutschen Erfolgsautoren nicht.

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Ohne Gestern kein Heute
Sigrid Lichtenberger, Pendragon-Verlag 2013, 9,90 Euro

Hier geht eine sehr aufmerksam mit der Sprache um, will nicht blenden und nicht brillieren. Und auch nicht bedrücken. Immerhin ist das Leben im hohen Alter ja nicht mehr ohne Kratzer. Ein falscher Schritt auf vereister Straße kann zu einer Ochsentour durch Krankenhaus und Rehabilitation werden. Wo man sich über die stillen Engel freut, die auch noch ein persönliches Wort, eine freundliche Geste übrig haben und ihren Schützlingen das Gefühl geben, tatsächlich gemeint zu sein, selbst wenn die Übungen weh tun.

2009 bekam Sigrid Lichtenberger den Bielefelder Kulturpreis in der Sparte Literatur. Wohl auch für ihre neugierigen Erkundungen in ihrer Wahlheimat. So genau, wie sie mit Worten umgeht (und ihrem Vorkommen in unterschiedlichen Zeiten), geht sie auch mit den Details ihres Lebens und ihrer Erkundungen um. Manche lässt sie in der Schwebe, will es gar nicht bis zu Ende erzählen, weil das nicht wichtig ist, weil nicht jede Begegnung auch eine Bilanz braucht. Das Gestern, das Erlebte, ist in der Gegenwart aufgehoben. Man trägt es mit sich. Und Sigrid Lichtenberger ist augenscheinlich eine, die es leicht mit sich trägt – und auch leicht erzählt. Eine rechte Erholung, wenn man sich an der sonst so bedeutungsschwangeren deutschen Erinnerungsliteratur überlesen hat.

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