Man glaubt ja gar nicht, was man alles studieren kann. Auf ein Studienfach Distributions-Logistik muss man erst einmal kommen. Das gibt es an der RWTH Aachen. Seit 2004 gibt es dort den Deutsche Post Lehrstuhl für die Optimierung von Distributionsnetzwerken. Alles klar? Und ein Leipziger hat ihn inne: der Mathematiker Dr. Hans-Jürgen Sebastian. Denn am Ende geht es immer um Mathematik. Auch bei der Post.

Das ging es wohl auch schon zu Zeiten der Thurn und Taxis. Und auch später noch, als August der Starke in seinem Land Postmeilen aufstellen ließ mit genauen Wegeangaben. Computer oder Navigationsgeräte gab es ja noch nicht. Die Pferde hatten ihre Maximalgeschwindigkeit, die abhängig war vom Straßenzustand, dem Wetter und der Streckenlänge. Aber bevor die Menschen aus dem Verschicken von Briefen eine Computeraufgabe machten, gingen sie intuitiv und praktisch vor, suchten die kürzesten Verbindungen und die besten Knotenpunkte.

Das änderte sich erst im 19. Jahrhundert so langsam, als die Buchhändler in Leipzig zum Beispiel begannen, das Bücherverschicken in Deutschland zu zentralisieren und neu zu organisieren. Das ist der eigentliche Kern des “Leipziger Platzes”, der den Buchhandel revolutionierte. Und ein Stück weit auch die Logistik. Aber auch das noch ohne Computer. Die kamen erst Mitte des 20. Jahrhundert ins Spiel und insbesondere in den USA begannen ein paar clevere Mathematiker, die Logistik neu zu denken und in Distributionsnetzwerken nach Einsparpotenzialen zu suchen. Nicht nur des Geldes wegen, auch wenn das natürlich der wichtigste Wettbewerbsvorteil ist: Wer billiger liefern kann, hat mehr Chancen auf mehr Aufträge. Erst recht, wenn der Markt groß ist und kein Monopol die Konkurrenz verhindert. Wie das in Postsachen in Deutschland bis 1998 der Fall war.

Deswegen unterrichtete Sebastian vorher in Aachen an einem Lehrstuhl, der “Operations Research und Logistik Management” hieß. Denn natürlich geht es nicht nur um Briefe und Päckchen. Jede Einzelhandelskette braucht ein Verteilernetz, jeder Autobauer hat heute weltumspannende Lieferketten, bis irgendwo das endgültige Auto zusammengebaut wird. Jeder Versandhändler braucht zentrale oder dezentrale Lager und ein funktionierendes Bestell- und Liefersystem. Und jeder, der so ein Distributionnetz betreibt, muss über Kosten nachdenken.

Jede Lagerhaltung verursacht Kosten – je kleiner der Bestand, umso weniger. Aber auch jeder gefahrene Lieferkilometer verursacht Kosten. Ist also ein zentrales großes Lager kostengünstiger – oder besser doch viele kleinere Regionalzentren? Oder eine Kopplung aus beidem? Wie viele Knotenpunkte braucht man und wozu? Da taucht das Wörtchen “Hub” auf, das einem Fachleute entgegenschleudern, wenn es um den Frachtflughafen Leipzig-Halle geht, der seit 2007 ein Hub der Post-Tochter DHL ist. Ganz so, als müsste jeder Mensch wissen, was ein Hub ist. Fachleute sind zuweilen sehr kurzsichtig und ignorant. Auch Logistik-Fachleute.

Nicht jeder Logistiker braucht einen Hub. Aber die Post braucht welche, denn das sind Knotenpunkte, an denen Frachten, die gebündelt als Sendung ankommen, neu auf neue Lieferrouten umverpackt werden, das, was die DHL-Mitarbeiter jede Nacht tun. Das ist zwar alles computerisiert. Zahlen verraten, woher die Sendung kommt und wohin sie soll.- Aber das Umladen müssen dann die Jungs in ihren schicken DHL-Anzügen machen. Vom Laster ins Flugzeug oder von Flugzeug zu Flugzeug. Oder vom Flugzeug in den Laster, wenn die Sendung für die Region Leipzig bestimmt ist. Der fährt dann zum regionalen Verteilerzentrum, wo alles für die einzelnen Verteilbezirke sortiert wird – und von da verteilt es sich bis hinunter auf die “letzte Meile”, also den Ort, an dem sich dann Sendung und Empfänger begegnen. Oder auch nicht. Was ja nicht passieren soll. Auch das ist Teil der Algorithmen, mit denen die Gestaltung solcher Distributions-Netze vorausberechnet wird. Zumeist in mehrstufigen Verfahren, denn es geht um hochkomplexe Aufgaben. Nicht nur um die richtige Verortung der Verteilzentren und die Gestaltung der optimalen Routen.
Man muss auch schwankende Bestellungen einberechnen – in Menge und Zeitpunkt. Und Qualitätsanforderungen der Kunden. Oder solche, die man dem Kunden versprochen hat. Zum Beispiel das große Versprechen der Deutschen Post, dass Sendungen innerhalb Deutschland nur einen Tag unterwegs sein sollen. Haben alle Leipziger schon mal gehört. Es wurde ja ganz hübsch erklärt, als in den 1990er Jahren die alten Postämter alle dicht gemacht wurden, die neuen Paket- und Briefzentren entstanden und reihenweise Briefkästen abmontiert wurden. Das hat alles damit zu tun: Routen-Optimierung, das Herstellen von Zeitfenstern, in denen die abgeholten Sendungen im Verteilzentrum eintrudeln und nach Postleitzahl sortiert in die richtige Route eingetaktet werden.

Und da kommt der Nachtflugbetrieb in Leipzig ins Spiel. Denn Lkw haben auch auf Autobahnen ihre Maximalgeschwindigkeit. Wenn sie bis spätestens 5 Uhr am nächsten Knotenpunkt eintrudeln sollen, aber erst 21 Uhr losfahren, haben sie nur einen Fahrradius von 7 Stunden oder etwa 450 Kilometern. Das reicht nicht. Selbst im kleinen Deutschland nicht. Deshalb braucht man, um die wichtigsten Knoten (“Hubs”) im Zeitfenster von 21 bis 5 Uhr zu erreichen, eine nächtlich fliegende Transporterflotte. Und natürlich eine Handvoll Hubs in Deutschland. Leipzig ist einer davon. Und mittlerweile für DHL der größte. Hier sind auch die internationalen Flugrouten eingetaktet.

Sebastian erlaubt also auch ein bisschen einen Einblick in die Denkweise der Deutsche-Post-Tochter DHL. Und warum die unbedingt nachts fliegen muss. Müsste sie wohl nicht, wenn die Deutschen zufrieden wären mit einer zweitägigen Lieferzeit. Dann könnten die nächtlichen Verbindungen nämlich auch wieder mit der Bahn gefahren werden. Was natürlich nicht die Logistik-Mathematiker in Aachen entscheiden. Die können es berechnen. Und sie können auch die möglichen Einspareffekte berechnen, die optimalen Routen und Knotenpunkte.

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Das Buch ist voll davon. Und wer Distributions-Logistik studiert, der bekommt es mit wirklich schönen komplexen Rechenaufgaben zu tun. Die sich natürlich bei jedem andersgearteten Distributionsnetz neu stellen. Autozulieferer brauchen eine andere Distribution als Reparaturdienste, Hausmeister oder Lebensmittelketten. Und aus mathematischer Sicht ist das alles sehr aufregend. Vor allem, wenn Rechnungen zeigen, dass die menschliche Logik gar nicht alle versteckten Potenziale erkennen kann.

Und wenn Logistiker mit diesem Material argumentieren, kommt natürlich vom Rest der Welt nichts drin vor. Es ist reine, ehrliche Optimierung. Die hat ihre Konsequenzen. Bei der Post war es der Abbau Tausender Arbeitsplätze, die nun nicht mehr gebraucht wurden. Und es war die Schaffung der DHL-Flotte und der Hubs. Umweltkosten sind da noch nicht drin, menschlich gestaltete Arbeitsbedingungen auch nicht. Es gibt ja auch in Leipzig Logistiker, die dann auch noch bei Lohn und Arbeitszeiten weiter “optimieren”.

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Optimierung von Distributionsnetzwerken
Hans-Jürgen Sebastian, Edition am Gutenbergplatz Leipzig 2013, 24,50 Euro

Andere sind froh, dass es mittlerweile komplexe Rechenprogramme gibt, mit denen sich solche Distributionsnetze simulieren lassen, bevor auch nur ein Fahrzeug angeschafft wird. Was ja auch eine Frage ist: Was für ein Fahrzeug? Für welche Tonnage und mit welcher Fahrleistung? – Manche machen trotzdem erst mal los und finden dann heraus, dass der Verteilerstandort falsch liegt. Ist auch bei sächsischen Lebensmittelmärkten schon vorgekommen. Auch das hat Folgen, denn jeder Standort bietet Arbeitsplätze und braucht Investitionen in Infrastrukturen.

Sachsen ist voller einst hingeklotzter Distributionszentren, die am falschen Ort vom richtigen Geld gebaut wurden. Und die Betroffenen verstehen die Welt nicht mehr. Und so lernt man hier: Erst rechnen, dann bauen. Und vor allem: Mit den Menschen vor Ort reden. Die wollen auch gern wissen, was warum geschieht.

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