Mord und Tatschlag gehören zu einer großen Stadt. Jede Gesellschaft hat ihre Abgründe. Wissen muss man das schon. Dummheit macht blind. Und führt in fatale Spiralen der Ignoranz. 2012 gab es im Stadtgeschichtlichen Museum die beeindruckende Ausstellung "Gangster, Gauner und Ganoven", die die berühmtesten Leipziger Kriminalfälle dokumentierte. Und natürlich die immer professionellere Arbeit der Ermittler.

Henner Kotte ist einer, der sich schon seit Jahren mit diesem Material beschäftigt. Mit skeptischem Blick. Wer seine Kriminalromane kennt, weiß, dass auch seine Ermittler keine Übermenschen sind, keine taffen Fällelöser. Sie wissen, dass sie Teil jener Welt sind, in der Menschen aus dem Raster fallen, Normen brechen und die Leben anderer Menschen zerstören. Auch Polizisten sind nur Menschen. Und alle Häme in diversen Medien, wenn die Ermittler nicht gleich nach dem Auffinden der Leiche auch den geständigen Mörder präsentieren, ist eine Häme der Arroganz. Sie geht davon aus, dass ein Knopfdruck genügt, und schon hat man den Täter.

Aber das würde voraussetzen, Kriminalität wäre eine Ausnahmeerscheinung. Man empfindet sie so. Aber sie ist es nicht. Davon erzählen auch die 18 historischen Kriminalfälle, die Henner Kotte für dieses Jugendbuch ausgewählt und neu erzählt hat. Der Verlag empfiehlt das Buch für junge Leser ab 11 Jahre. Aber vielleicht sollte man es doch lieber erst 14-, 15- oder 16-Jährigen zu Lesen geben. Nicht weil die Jüngeren etwa im deutschen TV nicht mit noch mehr und grausamerer Gewalt konfrontiert wären. Über die Niederungen des deutschen Fernsehens braucht man an dieser Stelle wirklich nicht mehr zu diskutieren.Aber Henner Kotte fordert seine jungen Leser heraus – zum Nachdenken, zum Sich-Hineinversetzen, zum Vergleichen: Was hat die alte Geschichte mit unserer Gegenwart zu tun? Und mit uns? – Das geht schon bei der Geschichte Johann Georg Schrepfers los (“Geister sehen und sterben”), der vor über 200 Jahren die sächsische noble Gesellschaft mit seinen Geisterbeschwörungen verblüffte und die führenden Köpfe des Landes dazu überredete, ihr Geld in ein einmalig tolles Investment zu stecken. Die Schwindler des 18. Jahrhunderts ähneln verblüffend den Hochstaplern der heutigen Finanzkrise – und die Beweggründe, die die reichen Herren zum Mitmachen animieren, sind dieselben, mit denen auch heutige Fonds und Geldhäuser die Narren fingen. Ändert sich der Mensch nicht? Lernt er nichts dazu? Oder sind es immer wieder die selben Leidenschaften, die ihn in die Falle locken?

Wer den Gänsebraten sucht, findet ihn in der Geschichte von Johann Christian Woyzeck, der 1824 auf dem Leipziger Marktplatz enthauptet wurde. Den Braten hat er sich als Henkersmahlzeit gewünscht – und genossen. Und Kotte fragt zu recht: Gibt es solche mit ihrem Leben und ihrem erlernten Beruf Gestrandeten nicht auch heute? Begegnen wir ihnen nicht tagtäglich, wie sie als Obdachlose oder Betrunkene und vom Leben Gezeichnete durch unsere Stadt laufen? Manchmal sich auch auf offener Straße, in der Straßenbahn anfauchen, laut werden, streiten? Das ganze Leben ein einziger Konflikt und die Partnerin in diesem Jammertal nicht nur der einzige Trost, sondern auch das Objekt von Liebe und Hass? Kommt es da nicht genauso, wie es 1821 kam , als Woyzeck – wahrscheinlich betrunken – die Witwe Woost erstach? Ein Fall, der eigentlich anfangs nur die Ärzte interessierte, weil er sie dazu brachte, über das Thema Zurechnungsfähigkeit nachzudenken. Das las der Dichter Georg Büchner in einer Ärztezeitschrift und schrieb jenes Dramen-Fragment, das 1913 erstmals aufgeführt wurde. Seitdem ist Woyzeck ein bekannter Mann. Womit er wohl selbst nie gerechnet hätte.

Der Schritt auf die Bühne und der andauernde Erfolg des Stückes zeigt aber auch: Die verstörende Frage, die drin steckt, beschäftigt auch das brave, gutbürgerliche Publikum. Sonst ginge ja keiner hin. Wo sind die Grenzen unserer Vernunft?

Kriminalromane leben ja von dieser aufklärerischen Frage. Und die meisten Fälle – auch die Leipziger – erzählen nicht von Vernunft, sondern von menschlichen Abgründen. Auch gesellschaftlichen. Ein junges Liebespaar, das seine Liebe nicht leben darf, bringt sich im nahen Sellerhausen um. Eine Geschichte, wie sie auch heute noch passiert. Eine Zeitungsnotiz, die den Schweizer Novellen-Autor Gottfried Keller zu seiner bekannten Novelle “Romeo und Julia auf dem Dorfe” inspirierte.

Ein verkrachter Lehrer, der seine eigentliche Rolle im Leben nicht gefunden hat und sich mit Diebereien versucht, über Wasser zu halten. In Leipzig wird Karl May beim Pelzdiebstahl erwischt und landet für Jahre hinter Gittern, wo er endlich Zeit hat, sein Talent zu entwickeln. Der kleine Pelzdieb Karl May steckt im erfolgreichsten sächsischen Romanautor. Der kleine Dieb lebt den Traum vom edlen Helden. Da kann man nachdenken. Und Henner Kotte regt mit kurzen, liebevollen Sätze dazu an, stupst seine Geschichten vor sich her wie ein Kater die jungen Kätzchen: Nun lauft mal, zeigt mal, was in euch steckt.Kotte bedankt sich auch, was nicht jeder Autor tut, bei jenen, die einige der erzählten Geschichten erst recherchiert haben. Bei Otto Werner Förster zum Beispiel, der die Schrepfer-Geschichte selbst wie ein Kriminalpolizist aufgerollt hat, denn was da 200 Jahre lang kolportiert wurde, konnte so nicht stimmen. Eine ganz ähnliche Geschichte ist die um den Reichstagsbrand 1933, der noch im selben Jahre am Leipziger Reichsgericht verhandelt wurde. Hier war es der bulgarische Kommunist Georgi Dimitroff, der die zusammengeschusterte Anklage auseinandernahm und die neuen Mächtigen düpierte. Nur Marinus van der Lubbe half das nicht – er wurde hingerichtet. Wohl auch, um auch den letzten möglichen Zeugen aus der Welt zu schaffen.

Aber selbst der Leipziger Hochverratsprozess von 1872 kommt in diesem Band vor – und erinnert fatal an einige heutige Dresdner Prozesse, in denen sich die Akten stapelten und die Anklage eher aus parteilichen Gründen erfolgte. Aber wer gibt das schon zu, dass Macht auch korrumpiert und neue Ängste schürt? Das war unter Bismarck genauso wie heute. Oder wie wäre es mit dem Geld und seiner Magie, dieser Besessenheit von immer höheren Renditen, die ganze Banken zu Zockerbuden macht? Die Leipziger erlebten 1901, wie schnell eine geachtete Bank in so einem Strudel verschwindet. Die Zutaten: ein willfähriger Aufsichtsrat, der nichts mitbekommen hat, ein hochgeehrter Geschäftsführer, den alle für eine solide, verantwortungsvolle Person halten, ein Herr Schmid, der mit einer tollen neuen Idee gewaltige Gewinne verspricht, dafür aber Geld braucht und mit Rendite lockt …

Hat irgendwer daraus gelernt? – Das Jahr 2013 sagt: Nein. Die paar Regeln, die der menschlichen Gier im Bankensektor Zügel anlegten, wurden in den 1990er Jahren alle geschliffen. Denn warum sollten sich von Gier Besessene gefallen lassen, dass ihnen irgendein Staat Grenzen setzt bei ihren Pokerspielen? – Der Markt gehört liberalisiert, nicht wahr? Der Mensch ist ein rationales Wesen, nicht wahr?

Wer freilich treuer Krimi-Leser ist, weiß, dass es so nicht ist. Und seit der Militzke-Verlag vor 20 Jahren anfing, die Tatsachen-Bücher von Hans Pfeiffer wieder aufzulegen, ist auch die Regalecke mit den “True Crime”-Büchern gewachsen. Jeder kann nachlesen, wie Kriminalisten arbeiten und die Motive der Täter entschlüsseln, die von scheinbar cleveren Ganoven, aber auch die von Trieben und Wahn besessenen Unholden, die trotzdem wie brave Nachbarn aussehen. Das Verbrechen braucht nicht wirklich eine Maske. Es wohnt nebenan. Es gehört zu unserer Welt. Und 14, 15 Jahre sind ein ganz gutes Alter, in dem man sich ernsthaft mit dieser Tatsache beschäftigen sollte.

Ist nur die Frage: Wo findet man das Buch, wenn es der wissende Buchhändler nicht zu “True Crime” gestellt hat? – Der Titel selbst verrät nicht, was drin steckt. Und mit dem “Woyzeck” beschäftigen sich in der Schule erst die höheren Klassen in Deutsch und in Ethik. Vielleicht steht’s ja unter Jugendbücher (und hoffentlich nicht bei den Gespenstergeschichten für die Elfjährigen).

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