Irgendwann gibt es die Rezepte aus der Küche von Gudrun Dietze bestimmt als großen dicken fetten Sammelband. Dass man mit regionalen Rezeptbüchern Erfolg haben könnte, das war auch im Buchverlag für die Frau 1993 schon klar. Immerhin gab es ein großes Nachholbedürfnis im Osten, wo die Sache mit den Regionen eher nicht gewollt war. Was nicht heißt, dass die regionalen Küchen im Osten nicht lebendig waren.

Sie haben in Familienkochbüchern und Rezeptsammlungen überlebt, wurden von Mutter zu Tochter vererbt, samt Familiengeheimnis. Gerade in den kleinen Dörfern und Flecken war die Hoheit über Koch- und Backgeheimnisse auch die informelle Hoheit über das Dorf. Wer den kleinen, geheimnisvollen Kniff nicht kannte, gehörte nicht dazu. Wer den falschen Kniff kannte, weil sie oder er drei Dörfer weiter geboren wurde, musste sich erst mal bewähren unter den strengen Augen der Eingeweihten.

So lang ist das noch gar nicht her. Und wie löst man das? – Das Geheimnis heißt: Transparenz. Man veröffentlicht die Geheimnisse und zeigt allen Interessierten, was die lokale Küche tatsächlich aufregend, spannend oder einfach verführerisch macht. Dass das dann zwölf Bände ergeben würde, ahnten 1993 wohl weder Verlag noch Autorin. Und dass die Nummer 1, “Thüringer Festtagskuchen”, zum Bestseller werden würde, den es mittlerweile in 30. Auflage gibt, wohl auch nicht.

Aber das Rezept ist gut: Wer Augen und Sinne der Leser(innen) erreicht, braucht sich um den Verkaufserfolg eigentlich nicht zu sorgen. Erst recht nicht, wenn eine der lustvollsten Küchen der Republik das Hauptthema ist. Und das ist die Thüringer Küche nun einmal. Meist sogar zu lustvoll, eigentlich mal erfunden für ein Volk von hart arbeitenden Berg- und Forstleuten, die die mit Sahne und Butter zugegebenen Kalorien schon mit der nächsten Schicht wieder abgeschindert hatten.
Deswegen gibt es bei vielen Rezepten von Gudrun Dietze auch die freundlichen Hinweise, wo man die Kalorien reduzieren oder ersetzen kann. Einen der besten Tipps schmuggelt sie gleich zu Beginn des Buches ein: Kuchen so zu backen, dass sie sich problemlos zu geometrisch sauberen Würfeln schneiden lassen. Das hilft beim Portionieren und man muss nicht verzweifeln, wenn die Hausfrau oder der Gastgeber dazu auffordern, nun doch auch mal von allen Sorten zu kosten.

Das wird bei den “Torten für Genießer”, die Gudrun Dietze ab Seite 54 serviert, schon schwieriger. Denn bei Torten geht es ja bekanntlich nicht um Schnittfestigkeit, sondern um Fülle. Aber auch da nicht unbedingt um die verwendete Sahnemenge. Denn lustvolle Torten leben heutzutage auch von der lustvollen Verwendung von Früchten – drin und drauf, farbenfroh und glitschig … sorry … das war jetzt die sächsische Küche. Locker, leicht und fruchtig heißt es bei Gudrun Dietze. Wem also nichts mehr einfällt, was man mit Johannisbeeren, Ananas, Erdbeeren, Mango, Birnen oder Rhabarber anfangen könnte, hier findet er neue Vorschläge für fruchtige Tortenlust.

Ist nur die Frage: An wem probiert Gudrun Dietze das alles aus? Hat sie da eine Freiwilligenbrigade, die immer am Wochenende anrückt, um die Back-Projekte zu vertilgen? Immerhin hat die Meisterin jetzt schon an die 1.000 Rezepte veröffentlicht. Und auch das Vorwort zu diesem Buch klingt nicht so, als wäre sie da auch nur auf der Mitte der Distanz angekommen. Apropos Mitte: Die liegt in diesem Buch auf Seite 70, also ein klein bisschen nach der Hälfte, wie das so ist mit der richtigen Mitte. Was wohl auch ein wenig über die Thüringer Küche erzählt: Zuerst wird genascht (Kuchen und Torten), und dann kommt der herzhafte Teil. Der sich auch in diesem Fall als ein moderner, abwechslungsreicher und vielseitiger erweist. Mit Brokkolicreme-, Bier- und Bärlauchsuppe geht es los und entfaltet sich über einen lustvollen Umgang mit Spargel und Paprika zu deftigen Grüßen aus Weimar (Weimarer Zwiebelsuppe), zu Gemüsepfannen, Schleifchengerichten und Gemüsetorten.

Zwischendrin auch ein paar gute alte Bekannte, die von Zeiten erzählen, als auch die Thüringer genügsam sein mussten – Bockei zum Beispiel, Wurstsalat oder Gabelfrühstück. Das sind dann die schnell gezauberten Gerichte, bei denen Gudrun Dietze das Wörtchen “früher” verwendet, was ja eben gleich war, als auch Thüringen zur planwirtschaftlichen Mangelwirtschaftszone gehörte. Beweis dafür, dass clevere Frauen (und Hausmänner) auch in kargen Zeiten versuchen, aus dem Verfügbaren ein Esserlebnis zu machen.

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Neue Köstlichkeiten
Gudrun Dietze, Buchverlag für die Frau 2013, 12,90 Euro

Aus einer noch viel älteren Mangelzeit berichten der Aschkloß auf Seite 86 und der Arme Ritter auf Seite 115, den auch die Sachsen kennen. Gedruckte Beweise für eine der ältesten Küchenerkenntnisse: Not macht erfinderisch. – Die Thüringer werden wissen, was sie an ihren Frauen haben und was dann passiert, wenn die Notzeit vorbei ist und die Gudsten anfangen, mit Sardinen, Lachs und Spitzpaprika zu experimentieren. Und man darf sich durchaus die Frage stellen, in welcher Situation eine namhafte Kerstin auf die Idee mit den schnellen Hackfleischnudeln kam. Musste es wieder mal schnell gehen und die ganze Rasselbande saß schon am Tisch und hat auf die Teller getrommelt? – Es war wohl so. Und getröstet waren sie wohl alle erst, als Kerstin dann auch noch was aus dem letzten Kapitel serviert hat: Himbeerwölkchen oder Scheiterhaufen oder Quarkspeise auf Himbeerspiegel.

Der Rest steht im nunmehr 12. Gudrun-Dietze-Koch-und-Backbuch. Für alle, die jeden Tag so einen Hunger haben wie die Thüringer.

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