Ist der Ferne Osten weiser als der Westen? Sind die östlichen Philosophien und Religionen klüger und friedlicher oder menschlicher? Oder sind sie gar eine "echte Alternative", wie Raffaele Mirelli meint, der dieses Büchlein zusammengestellt hat? Die Antwort lautet wohl: Nö. So ein richtig herzhaftes europäisches Nö. Was nicht an den Büchern der Weisen Asiens liegt. Die sind allemal lesenswert.

Die Frage ist nur: Was liest man heraus? Was kann man herauslesen? Die wichtigsten sind zwar seit Jahrzehnten, manchmal auch seit Jahrhunderten in teilweise drastisch abweichenden Übersetzungen und Interpretationen auf dem europäischen Buchmarkt zu finden – von Laotzes “Tao Te King” über die Gespräche des Konfuzius bis zu den Reden des Buddha. Ganz so alt, wie der Philosoph Mirelli sie in seinem kleinen Vorwort macht, sind sie auch nicht. Etwas anders schon. Denn weder in China, Indien noch Japan scheinen die Philosophen und Religionsstifter ernsthaft auf die Idee gekommen zu sein, sie müssten auch die Macht ergreifen und ihre Denkgebäude zur Staatsreligion machen. Etwas, was die Zivilisation in Europa und dem Nahen und Mittleren Osten bis heute überschattet.

Es ist eine kleine, aber sehr entscheidenden Gewichtsverschiebung, die die Europäer bis heute aus dem (seelischen) Gleichgewicht bringt. Religion und Philosophie sind fein säuberlich getrennt, Staat und Religion nicht wirklich. Obwohl gerade die ersten beiden historisch aufs engste zusammengehören. Und deshalb stimmt auch das Wort von der “Alternative” nicht. Denn im Ursprung waren auch die Philosophien Europas und des Nahen Ostens Wege auf der Suche nach einem Gleichgewicht. In der arabischen Welt genauso wie im Denkkosmos der Griechen und Römer. Erst die monotheistischen Staatsreligionen haben daraus eine scharfe Trennung gemacht, so dass selbst die wenigsten Gläubigen noch sehen, wie sehr auch das Christentum im Ursprung eine Lehre des Lebens im Gleichgewicht mit Natur und Welt war.

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Da das aber so ist, haben Europäer die philosophischen Schriften des Fernen Ostens immer mit einer europäischen Brille gelesen. Und sich in der Regel herausgepickt, was ihnen vertraut vorkam. Anders geht auch Mirelli nicht vor. Kann er auch gar nicht. Denn um den Schlüssel etwa zum “I Ging” oder zur “Bhagawadgita” zu finden, muss man sich mit ihrer Entstehung und ihrem Kontext beschäftigen. Dasselbe trifft auf die Schriften zu, die man Laotze und Konfuzius zuschreibt. Vieles, was man so gern als Lebensweisheit hineinlesen möchte, ist die in Regeln gegossene Weisheit des kaiserlichen Untertanen und Beamten, der gern ohne Ärger mit seinem Vorgesetztes ein Leben in Gleichmut und Erfüllung leben möchte. Gesammelt und entstanden sind diese großen alten Schriften in der Regel zeitgleich zu den Arbeiten der griechischen und römischen Philosophen.

Das Pech der Europäer ist nur, dass die alten Papyrii der Griechen und Römer zum größten Teil in den Bränden der Zeit verloren gingen. Von den meisten großen Philosophen der Antike sind oft nur noch Zitate und Sprüche in anderen Werken überliefert. Oft ist den Autoren von Zitatensammlungen gar nicht mehr bewusst, wie ähnlich sich die philosophischen Denkwelten des alten China und der europäischen Antike tatsächlich waren – und wie ähnlich die Karrieren der Autoren. Konfuzius war Staatsminister (wie 2.300 Jahre später ein gewisser Herr von Goethe), Siddhartha Gautama alias Buddha stammte aus einem nordindischen Adelsgeschlecht genauso wie Platon aus einer der vornehmen Familien Athens stammte. Oder wie wäre es mit Marcus Annius Catilius Severus, dem berühmten Mark Aurel, dessen Lebensweisheiten wie ein Zwilling neben die Gespräche des Konfuzius passen?Die Autoren der großen Schriften – oder die Leute, denen man sie später zuschrieb oder in den Mund legte, wurden immer erst durch spätere Jünger zu diesen ätherischen Heiligen gemacht, die heute so glänzen wie Edelsteine. Und die Europäer in ihrer nun ein paar Jahrhunderte anhaltenden Suche nach neuen Lebensregeln in einer immer furioser fortschreitenden Welt haben diese Idealisierungen immer wieder gern widerspruchslos übernommen. Seit dem 18. Jahrhundert kennt man die immer neuen Wellen einer Verklärung der östlichen Weisheit.

Gelitten hat es immer an der Oberflächlichkeit. Man hat sich die hübschen Spruchperlen herausgesucht. Aber man hat es nicht mal fertig gekriegt, den Vers eines ebenso spiritistischen Denkers der europäischen Neuzeit zu bedenken: “Du musst dein Leben ändern.” Rilke hieß der Bursche, auch so ein Suchender, der – anders als Hermann Hesse, der sich ins Fernöstliche hinwegphilosophierte, recht heimatlos zwischen einer fast mönchischen Religiosität und dem Hadern mit dem Nicht-Glauben-Können herumtrieb. Aber zumindest das wusste er und lebte es auch: Wer sich von den Zwängen und Alternativlosigkeiten nicht treiben und ohnmächtig machen lassen will, der muss tatsächlich sein Leben ändern. Sein eigenes, nicht das der anderen.

Und damit ist er natürlich auf der Höhe der schönsten und besten Sprüche, die die Denker Indiens, Chinas und Japans im Lauf von 2.500 Jahren so vom Stapel gelassen haben. Und wer sie in diesem Büchlein findet, kann die Botschaft nicht leugnen. Der Rilke-Vers in der Variante von Mahatma Ghandi: “Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt.” Oder in der Variante des Konfuzius: “Auch eine Reise von tausend Meilen fängt mit dem ersten Schritt an.” Oder auf unsere Gesellschaft bezogen (die so uneins mit sich ist, dass man sich die Haare raufen könnte): “Es gibt keinen Weg zum Frieden. Der Frieden ist der Weg.” Auch das stammt von Ghandi und entlarvt jede waffenexportierende Nation als eine verlogene.

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Weisheiten aus dem Fernen Osten
Mirelli Raffaele, Buchverlag für die Frau 2013, 5,00 Euro

Natürlich geht es auch um Ängste, um Liebe, um Mut und Lernen. “Wo man nehmen will, da muss man erst richtig geben”, zitiert Mirelli Laotze. Es wird ihm wichtig gewesen sein. Er lebt ja in einer Gesellschaft, in der das Nehmen regiert, die permanente Angst, zu kurz zu kommen, zu wenig abzubekommen vom großen Kuchen. Hinter der Angst lauern Gier und Geiz. Und man merkt die von Panik besessene Seele: Wenn ich das nun nicht kriege?! – Das ist dann eine Hatz, die zum Nachdenken über das wirklich Wesentliche keine Zeit mehr lässt. “Angst kommt aus der sehnsüchtigen Vorstellung, nicht zum Universum zu gehören”, wird Swami Vivekananda zitiert. Es sind diese kleinen, stillen Schritte ein Stück beiseite, die sehen lehren.

Die fernöstlichen Weisen waren genau solche Sucher wie unsere bärtigen europäischen Klugscheißer. Und haben mit ganz ähnlichen Phänomenen zu tun gehabt. Denn wenn die asiatischen Herrscher und Staaten weiser gewesen wären als ihre europäischen Pendants – wozu hätte es noch diese Philosophen gebraucht, die nun seit über 2.000 Jahren die Suche nach dem Gleichgewicht predigen? Gern zitiert, selten gelebt. Hier wie dort. Man könnte zum Einsiedler werden.

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