Es wird wieder. Es wird wieder Frühling. Die Temperaturen steigen, die Sonne scheint. Und die Zeitungen sind voller Bilder vom japanischen Kirschblütenfest. Die Abende werden wieder länger. Was tun? Sich langweilige Serien im Fernsehen begucken? Oder doch lieber eine Karaffe mit Reiswein füllen, ein paar Sushi-Happen und ab an den großen Küchentisch - zum Memory-Spiel mit Hiroshige?

Der Verlag erklärt nicht weiter, wer Herr Hiroshige eigentlich ist, das kleine Faltblatt merkt nur an, dass seine kleinformatigen Farbholzschnitte zum Beispiel in London, Boston, New York, St. Petersburg und Washington zu finden sind. Entstanden sind sie in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Hiroshige zählt zu den drei Meistern des japanischen Farbholzschnittes – was ihn zu seiner Zeit nicht reich machte und auch nur ein bisschen berühmt. Und das auch nur, weil die Europäer die Faszination der japanischen Kunst entdeckten. Eigentlich zum zweiten Mal nach den großen Entdeckungsreisen. Aber in der Edo-Ära (1603 bis 1867) machten es die Japaner ein wenig wie die Chinesen: Sie schlossen ihr Land ab, die Europäer mussten 250 Jahre lang draußen bleiben. So konnte sich die alte japanische Kultur samt der traditionellen Feudalstruktur erhalten. Bis 1854, bis der US-Admiral Matthew Perry mit vier Kriegsschiffen in den Hafen segelte und damit die Öffnung Japans zum Handel mit den USA zwang.

Die Abschottung hatte Japan übrigens nicht geschadet. Alle Quellen erzählen von einem wachsenden Wohlstand. Doch Wohlstand heißt eben nicht auch kriegerische Stärke. Die Japaner waren den mit Cowboy-Methoden anrückenden Amerikanern nicht gewachsen. Das erinnert ein wenig an das heutige Europa und die Methoden, mit denen das Freihandelsabkommen TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) durchgeprügelt werden soll. Der Vorteil der Amerikaner war immer: Sie grübeln nicht lange, sondern handeln. Schicken vier Kriegsschiffe, machen Rabatz, fertig der Lack. Und die anderen müssen sich fügen.Für Japan bedeutete die Öffnung natürlich eine sprunghafte Modernisierung, die das Land 50 Jahre später erstmals unter den wichtigsten Industrienationen der Erde platzierte. Es bedeutete aber auch den Verlust jener alten Kultur, die zur gleichen Zeit die europäischen Künstler so faszinierte. Die Sammler natürlich auch, sonst wären ja Hiroshiges Bilder nicht so schnell nach Frankreich gelangt, wo geradezu eine Welle der Japanologie ausbrach. Auch die experimentierfreudigen Maler der Moderne wie van Gogh, Gauguin und Toulouse-Lautrec griffen die faszinierenden Bildideen des japanischen Farbholzschnitts auf. Manchmal griffen sie auch die japanischen Motive auf, aber noch stärker wurde die Bildwirkung, wenn sie die japanische Bildwahl auf europäische Motive anwandten.

Das Memory, das der E. A. Seemann Verlag jetzt vorlegt, zeigt 36 Motive auf 72 Kärtchen. Es sind jeweils Bildausschnitte aus Hiroshiges Arbeiten, die den Blick des Betrachters auf die besondere Motivwahl lenken, die den Reiz dieser Bilder ausmacht – auf Blüten und Baumformen, Brücken und Landschaftsinszenierungen. Der Holzschnitt zwingt zu klareren Linien und klugem Umgang mit Farbflächen, kommt also der japanischen Bildtradition sogar sehr entgegen. Die schwebende Leichtigkeit der Bilder entsteht bei Hiroshige gerade durch seinen feinfühligen Umgang mit den Farben für Meer, Himmel, Berge, für Abend- und Morgenstimmungen. Da und dort wird das quirlige Leben der Japaner sichtbar, zeigt er Fischer, Ausflügler, Märkte. Seine Personen tragen noch die traditionellen Gewänder, die auch die klare Trennung der Berufsbilder und Stände zeigen. Es ist noch eine stabil scheinende Gesellschaft, in der jedem sein Platz zugewiesen ist. Eine Ordnung auch mit klaren Bezügen und Symbolen. Immer wieder taucht der Fuji auf, der über Stadt und Land zu thronen scheint als Symbol einer immerwährenden Ordnung.

Man ahnt, warum diese exotisch anmutenden Bilder in Westeuropa so eine Faszination auslösten, warum dieser detaillierte Blick auf Blüten, Vögel, Fische so gern aufgenommen und reflektiert wurde.Dieses alte Japan mit seiner Kaiserstadt Edo ist verschwunden, aus Edo wurde Tokio, aus Japan ein Land, das Veränderungen viel schneller aufnimmt als jedes Land im Westen. Die Exotik der kleinen Bilder ist so erst recht in die Ferne gerückt, erzählt von einem verschwundenen Zustand. Dabei sind die Details auf Hiroshiges Bildern sehr genau zu verorten. Die Titel verraten, was er da von welchem Blickpunkt aus festgehalten hat. Es sind die klassischen Bildmotive des damaligen Japan – vom Irisgarten in Horikiri bis zur großen Brücke von Atake.

Da und dort haben die Relikte im heutigen Japan überdauert – wie Einsprengsel in einer von der Moderne getriebenen Welt. Etliche Bildmotive stammen aus Hiroshiges Serie “100 berühmte Ansichten von Edo”, entstanden kurz nach jenem Jahr 1854, als auch den Künstlern Japans so langsam dämmern musste, dass die alte Edo-Zeit unbarmherzig zu Ende ging und das Neue, das die US-Amerikaner mitbrachten, das Land geradezu umstülpen würde. Ein wenig wirken Hiroshiges Bilder auch so, ein bisschen wehmütig, sehr akribisch im Versuch, etwas einzufangen, was schon den Hauch der Vergänglichkeit trug. Neben den Motiven, die die Unendlichkeit von Zeit und Raum zu symbolisieren scheinen, wirken die Bilder, die das Treiben auf Brücken, Flüssen und Märkten zeigen, schon wie eine Vorahnung dessen, was da kommen würde, der erste Tick der Beschleunigung.

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Hiroshige-Memo
Seemann Henschel Verlag 2014, 9,90 Euro

Trotzdem darf man dieses Memory langsam spielen, auch ein bisschen grübeln und versuchen herauszubekommen, welches Motiv nun auf den Kärtchen zu sehen ist, denn wenn man sie erst einmal gemischt hat, wird es schwer, herauszubekommen, welches Bild nun den Pflaumengarten in Kamada zeigt und welches den Berg Utsu. Also ein richtiges Merke-Spiel für alle, die ihr Gedächtnis ein bisschen üben wollen, japanische Kunst lieben und auch noch ein bisschen was lernen wollen über ein fernes, sichtlich verschwundenes Inselreich namens Edo.

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