Gustav Lüder lebt in Hildesheim. Vielleicht hat die mittelgroße Stadt in seinem Buch ein bisschen Ähnlichkeit mit Hildesheim. Aber das muss nicht sein. Das, was der 84-Jährige hier erzählt wie eine Novelle aus der deutschen Provinz, könnte ebenso in einer mittelgroßen Stadt in Sachsen, Hessen oder Rheinland-Pfalz stattfinden. Aber irgendwie kommt es selbst Großstädtern erstaunlich vertraut vor.

Es geht um ein Neubauprojekt in einem bislang naturbelassenen Areal. Alles schon vom Stadtrat beschlossen, wenn auch knapp, mit einer Stimme Unterschied. Und diese Stimme kam ausgerechnet aus der Fraktion, die den Deal, der einen großen Schweizer Konzern zum Zuge kommen lässt, zuvor aufs heftigste bekämpft hat. Erste Gerüchte zu Mauscheleien und Korruption machen die Runde. Gerüchte, denen die neue Stadtbaudezernentin Dr. Maria Leber gern auf den Grund gehen möchte. Doch schon das erste Gespräch mit dem verantwortlichen Stararchitekten der Stadt läuft aus dem Ruder. Der fühlt sich verleumdet und reagiert mit Drohungen. Dasselbe passiert bei der ersten Nachfrage in der Fraktion des “Umfallers”. Schnell steckt die Dezernentin in einem Wirbel von Gerüchten, Drohungen, Mutmaßungen. Der noch zusätzlich Brisanz gewinnt, als sie sich in einen verheirateten Unternehmer des Ortes verliebt.

Sofort ist auch die etwas piefige Moral der kleinen Stadt gefragt, droht die Dezernentin nun auch noch als Ehebrecherin an den Pranger gestellt zu werden. Und Günther Hahne, ihr Freund, lernt seine scheinbar so treuen Freunde auf einmal von einer anderen Seite kennen – und lernt auch ihren freundlichen Gesten zu misstrauen. Gibt es geheime Absprachen hinter den Kulissen? Wer hat ein Interesse an dem neuen Bauprojekt? Wer hängt alles mit drin? Der OBM der kleinen Stadt ist nicht die geringste Hilfe. Er will nur Harmonie und Ruhe in seinem Laden – und ja keine Skandalgeschichte, die nach außen dringen darf.Akribisch zeichnet Lüder das Bild einer sich abzeichnenden Korruptionsaffäre. Und damit ein Stück Alltag aus der deutschen Provinz, wo Stadträte und Verwaltungen um jedes auch nur einigermaßen attraktive Großprojekt werben, den Investoren die roten Teppiche ausrollen und dabei auch das Tafelsilber opfern. Oft genug sind heimische Aufträge und Arbeitskräfte das große Erpresserargument. Und es kostet schon eine Menge politische Integrität, um sich dabei nicht käuflich zu machen. Das ist zwar verboten. Aber das verstärkt nur den Druck auf die Akteure, ihre Beziehungen heimlich einzufädeln und Vorteilsnahmen bestmöglich zu verschleiern. Wie auch in diesem Fall. Was haben die Leute zu verbergen, die der Dezernentin keine klaren Aussagen machen wollen? Warum tauchen auf einmal Drohschreiben und versteckte Mutmaßungen auf? Wie weit sind diese Leute bereit, die Reputation der Stadt, der Dezernentin und ihres Liebhabers an den Pranger zu stellen und zu zerstören? Wer streut überhaupt die Gerüchte?

Auch die Leipziger werden so Manches wiedererkennen. Solche Dinge passieren überall nach dem selben Muster, da und dort noch professioneller kaschiert und gemanagt. Selten dringen die wirklichen Geldflüsse und die Namen der Akteure an die Öffentlichkeit. Nur der Wähler wundert sich immer wieder, wie große Prestigeprojekte durchgewunken werden, obwohl die Stimmung der Stadt eben noch komplett dagegen war.

Die im Dunkeln sieht man nicht. Sie wollen auch nicht gesehen werden. Sie suchen sich ihre Verbündeten und scheuen Transparenz und Öffentlichkeit. Ein ganz aktuelles Thema, das auch friedliche Stadtgesellschaften, Familien und Partnerschaften zerreißt. Denn wer bewahrt sich Anstand und Ehrlichkeit, wenn in der Waagschale Millioneninvestitionen und viele versprochene Arbeitsplätze liegen? Und wer hat als simpler Stadtrat die Kompetenz, so ein Projekt zu hinterfragen?

Auch das ein Leipziger Thema, wo ein ehrenamtliches Wahlgremium kontrollieren soll, was eine voll bezahlte Verwaltung da ausgeheckt hat. Wer lässt sich schon die ganzen Verträge zeigen, hinterfragt die Zahlen und die Verheißungen? Wer hat die Kraft, sich gegen den sanften Druck aus dem Hintergrund zu wehren? Haben die Wähler überhaupt Leute gewählt, die das Zeug dazu haben? Oder ist die Schwäche der gewählten Personen auch ein Ausdruck für die Schwäche der Wähler?Lüder lässt seine Geschichte offen. Seine beiden Helden haben genug zu tun, ihre Liebe zu schützen und das Kind, das sich da ankündigt. Denn die Gerüchtemacher suchen sich ja immer die menschlichen Schwächen und größten Verletzlichkeiten der Angeprangerten aus, sie wühlen alte Geschichten hervor und bringen die Aufklärer schnell in die Defensive, frei nach dem Motto: Wer hat denn hier die größten Fehler? – Auch das ein uraltes Rezept, angewendet in der kleinen und der großen Politik. Wenn es immer aufgeht, bleibt nur noch eine Politikerkaste übrig, die so hartgesotten ist, dass ihr kein Skandal mehr etwas anhaben kann.

In der Provinz nimmt das Alles sehr schnell sehr persönliche Züge an. Und Lüders Liebespaar muss immer wieder aufs Neue entscheiden, was es sich zutraut, wo es in die Offensive gehen will oder wo es aus Selbstschutz lieber Schweigen bewahrt. Das Eigentliche im Leben überlagert sich mit dem Uneigentlichen. Die Streitfronten selbst bleiben diffus – genauso wie die Drohungen.

Maria und Günther tun sich nicht leicht, ihre Liebe gegen immer neue Anfeindungen zu behaupten. Doch sie entscheiden sich nicht für das Prinzip Hollywood, bei dem dann immer nur die Liebe allein gewinnt und das Böse auf der Strecke bleibt. Sie sind keine Superhelden. Und am Ende sorgt ein Selbstmord dafür, dass die Fäden ins Dunkel nicht weiter erkundet werden. Wo kein Zeuge, da kein Richter. Das Großprojekt wird gebaut. Und das flaue Gefühl, dass dabei mit faulen Tricks gearbeitet wurde, bleibt.

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Die Dezernentin
Gustav Lüder, Engelsdorfer Verlag 2014, 18,00 Euro

Lüders Geschichte endet, wie normalerweise Krimis nicht enden: Die Dunkelmänner sind nicht ertappt. Aber seine Dezernentin will nicht wirklich aufgeben. Vielleicht braucht das Zeit. Aber es ist auch die Frage, ob es selbst in so einer Stadt und einer solchen Position gelingt, “stets einen sauberen Weg zu beschreiten, den eines Tages ohne jeden Arg auch ihr Kind zu gehen vermöge.”

Ist das nun eine Moral oder schon der Anfang für eine neue Geschichte? Oder der Zwiespalt einer Gesellschaft, in der die Meisten wissen, dass der Korruption viele Türen offen stehen, menschlicher Anstand aber schnell am Pranger steht?

Die Illustrationen im Buch stammen von Katja Enders: www.katjaenders.de

Die Website des Verlages: www.engelsdorfer-verlag.de

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