Das Land ist verschwunden, die Menschen sind noch da. Die Bilder auch. Mehr als zuvor. Denn Vieles von dem, was in DDR-Zeiten nicht gezeigt und gewollt werden durfte, taucht jetzt da und dort wieder auf. In der ambitionierten Reihe "Bilder und Zeiten" zum Beispiel, die Mathias Bertram im Lehmstedt Verlag herausgibt. Jetzt hat er Christian Borchert einen Band gewidmet.

Borchert gehört – wie auch einige andere der in der Reihe Vorgestellten – zu den Unangepassten, fast Außenseitern, die sich früh schon distanzierten vom offiziösen Betreiben in der DDR-Medienlandschaft. Studiert hat Borchert nach einer fast typisch durchwachsenen Berufskarriere im Fernstudium an der HGB in Leipzig, arbeitete währenddessen als Bildjournalist für die “Neue Berliner Illustrierte”, die stets den Balance-Akt versuchte zwischen einem journalistischen Reportage-Magazin und der gewünschten staatsparteilichen Beweihräucherung. Das bekamen auch die Fotografen zu spüren, wenn sie Fotos lieferten, die den real existierenden Sozialismus nicht so strahlend feierten wie gewünscht. Für Borchert bedeutete das den Weg in die Selbstständigkeit und die Suche nach eigenen Aufträgen.

Ein solches Auftragswerk waren die Familienporträts, die er ab 1982 begann. Dazu reiste er durch die ganze DDR, ließ sich empfehlen und einladen. Denn solche intimen Räume bekommt der normale Fotograf ja selten zu sehen. Er darf ihm sonst verschlossene Räume und Menschen im trauten Kreis dort fotografieren, wo sie sich zu Hause fühlen. Rund 130 Familien besuchte er auf diese Weise, berühmte darunter und viele unberühmte. Der Platz für das Foto, das Borchert stets im selben Format aufnahm, war meist das Wohnzimmer, jener Ort, der die gute alte Stube abgelöst hat und präsentiert, was einer Familie wichtig und schön gilt.In DDR-Zeiten wurden die Familienfotos stets nur in kleiner Auswahl veröffentlicht oder ausgestellt. Einige sind zu Klassikern geworden, die wieder andere Fotografen – wie Gerhard Weber – anregten, ähnliche Besuche in der heimeligen Häuslichkeit der DDR-Bewohner zu starten. Beide knüpften dabei an eine nicht ganz unwichtige Fotografietradition an, die das Interieur der Wohnung und ihre Bewohner als Status-Darstellung inszenierten – und damit zugleich als historisches Zeugnis. Denn es gilt für die Fotografie wie für die klassische Interieur-Malerei: Zeige mir, wie du wohnst, und ich sage dir, welchen gesellschaftlichen Stand du hast.

Das war selbst in der DDR so, auch wenn ganz offiziell die klassenlose Gesellschaft propagiert und Luxus verdammt wurde. Zu Hause in den trauten vier Wänden zeigt eben doch jeder, was ihm wertvoll erscheint, was er gemütlich und schön findet. Naja, und auf welche Mode er bereit ist hereinzufallen. Unübersehbar: Die 1980er Jahre waren das Zeitalter der großen, blumigen Tapetenmuster, die manches Wohnzimmer auf Borcherts Bildern zu erdrücken drohen. Und wer auf sich hielt, der besorgte sich auch noch schwere dunkle Möbel, schwere Couch-Garnituren und entsprechend verschnörkelte Lampen, Uhren, Wandborde und Bilderrahmen. Und da man Wert auf klassische Bildung legte, tauchen auch die bekannten Reproduktionen an den Wänden auf.

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Auffallend oft freilich lichtete Borchert aus Schriftsteller- und Künstlerfamilien ab. Hier geht es etwas anarchistischer zu. Der Berliner Dichter Bert Papenfuß-Gorek lümmelt mit seiner kleinen Familie in der Kuschelecke, Maler wie Gabriele Mucchi und Hans-Otto Schmidt nehmen natürlich auch ihre Arbeit mit ins Bild – die Wohnung ist zugleich Atelier. Man lebt beengt – wie Claudia und Wolfgang Klenkel.

Unverhofft kommt die ganze Widersprüchlichkeit der Wohnwelt in diesen 1980er Jahren ins Bild, als gerade junge Familien sich in zuweilen prekärsten Wohnungen einrichten mussten. Die Sehnsucht in die weite Welt steht dann oft im Wandbord – als Karaffen-Service oder Steingut-Sammlung aus Ungarn, Bulgarien, Rumänien. Kinder bekam man 10 Jahre früher als heute – so erwischt Borchert auch schon kleine Studentenfamilien mit Kind in ihrem winzigen Zuhause auf Zeit. Aber auch die scheinbar so einfachen Leute hat er besucht – die Verkäuferinnen, Schlosser, Küchenhilfen und Kraftfahrer. Man sieht die Rüschendeckchen auf den Tischen, die rankenden Grünpflanzen an der Wand, die zuhauf produzierten Lampen, die “zeitloses Design” in jede Wohnung brachten.

Und selbst die Familien aus den Dörfern des Landes finden sich wieder – in Alltags- und Arbeitskluft zumeist, die Frauen in Dederon-Schürze. Aber der Fernseher darf nicht fehlen, liebevoll mit Häkeldeckchen und Plasteblume garniert. Und damit keiner etwas Falsches denkt, flimmert auf dem Bildschirm die “Aktuelle Kamera”.Borchert ist mit seinen Fotos ein beeindruckendes Bild der Zeit gelungen. Mit ihren zuweilen skurrilen Vorstellungen von Einrichtung. Ein Blick in eine vergangene Zeit, der selbst westdeutsche Fotografen verblüffte, weil einiges davon auch an ähnliche Interieurs aus der alten Bundesrepublik erinnert – um zehn Jahre zeitversetzt. Und wie sehr es Borchert gelungen ist, die Zeit einzufangen, beweist die Gegenüberstellung im hinteren Teil des Bildbandes. Denn einige der von ihm porträtierten Familien hat er 1993 nach zehn Jahren noch einmal besucht und an gleicher Stelle fotografiert: Die Kinder sind groß geworden, die Haare der eben noch jungen Erwachsenen grau. Dafür sehen sie besser gekleidet und nicht mehr so steif aus. Jetzt ist die Familie kein Ort mehr, den man unbedingt schützen muss, sondern einer, den man gern zeigt, weil nun auch die Wohnung Veränderung darstellen darf. Die alte Schrankwand ist entsorgt und durch ein neues Teil aus dem Möbelhaus ersetzt. Manche haben sich überhaupt erst einmal Möbel zugelegt, manche Familie passt auch kaum noch aufs Bild. Und wo eben noch Elektroingenieur Z. die Familie überragte, überragen ihn zehn Jahre später seine drei Söhne.

Aus vielen Familien scheint die alte Steifheit verschwunden, man gibt sich gelöster.

Borchert hat sich mit seinen Fotos ganz als Dokumentarist seiner Zeit verstanden. Und es ist gelungen. Manches wirkt beklemmend vertraut in diesen Bildern. Und Mathias Bertram muss schon extra darauf hinweisen, dass Borchert in den 1980er vor allem intakte Familien nach dem DDR-Ideal Mama, Papa, Kind(er) fotografierte. Die meisten scheinen es auch über die nächsten zehn Jahre gemeinsam geschafft zu haben. Nur da und dort sieht man, dass doch wieder neue Konstellationen entstanden sind. Aber bei Familie denkt man ja auch im Jahr 2014 meist nur an das Intakte – die Folgen einer von Mobilität und Flexibilität besessenen Gesellschaft werden meist ausgeblendet. Hätte sie Borchert noch gezeigt, wenn er sein Projekt noch einmal in Angriff genommen hätte? – Das muss offen bleiben. Im Juli 2000 ist er, gerade 58-jährig, bei einem Badeunfall in Berlin verunglückt.

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Familienporträts
Christian Borchert, Lehmstedt Verlag 2014, 19,90 Euro

So kann man wie bei so vielen Geschichten über diese Zeitenwende nur blättern und sich erinnern und da und dort die neckische Frage stellen: Wie ging das hier nur weiter?

Das Leben hält ja nicht an, wenn einer auf den Auslöser drückt. Hernach geben sich alle die Hand, wechseln die Kostüme und leben ihr Leben weiter, bei dem keiner weiß, was daraus wird. Nur wenn zufällig ein schüchterner Fotograf wie Borchert vorbei kommt, wird der Moment festgehalten. Und nur das Gefühl beim Betrachten sagt einem dann: So war es wohl. Lang ist das her.

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