Es lebe der Aphorismus. Der Aphorismus ist böse. Er gehört verboten. Wegen Widersetzlichkeit. Die Gedanken sind frei, singt es in einem noch gar nicht so alten Volkslied. Volker weiß, was die Herren gern zulassen möchten, was laut gedacht werden darf. Es gibt keine Herren mehr. Natürlich nicht. Wer baut die Großflughäfen? Wer hat das Geld zum Steuerhinterziehen? Und wer kassiert die Revolutionen, wenn sich Volker ausgetobt hat?

Volker heißt natürlich nicht Volker, sondern Reinhard, ist studierter Philosoph, wenn man das noch so nennen darf, wenn bei Volker auch Karl Marx, Hegel und Feuerbach mit zum Studienprogramm gehörten. So einer blieb natürlich nicht Hochschullehrer, als sich das Blatt wendete, sondern durfte als Handelsvertreter seine Brötchen verdienen, sich die Schuhsohlen ablaufen. Mancher wird da zum Menschenfeind. Ein Philosoph nimmt so etwas als Gelegenheit zum Schärfen der eigenen Zunge. Denn wenn man das erst einmal begriffen hat mit der Dialektik, dann wird das Denken wieder schön.

Dann entpuppt sich unsere Sprache als Denkfabrik und Nudelmaschine der frappierenden Widersprüche. Wider-Sprüche. Hegel hätte sich schwarz geärgert. So hat er das nie gemeint. Denn Preußen ist doch, dialektisch betrachtet, der beste aller Staaten. So war es. Bis 1989. Da marschierte Preußen kleinlaut ins Aus der Geschichte, auch wenn es so nicht mehr hieß und die preußischen Beamten, Sachbearbeiter und Staatssekretäre nur ihre Uniformen wendeten und in neuer Dekoration in neue Ämter kamen. Eifrigst bemüht, dem Bürger seinen Staat auszutreiben.Ein ganzes Kapitel widmet Reinhard Lochner, der das Aphorismen-Schreiben einfach nicht lassen kann, der Gesellschaft, dem Staat und dem Recht. 15 Kapitel hat sein Buch. Und er kann seinen eigentlichen Lehrmeister nicht verleugnen: Georg Christoph Lichtenberg. Es ist dieselbe Abgeklärtheit den lieben Mitmenschen und ihren Illusionen gegenüber. Kein Wunder, dass die Deutschen nach Lichtenberg lieber romantisch wurden: So viel Nüchternheit beim Betrachten der Welt ist nicht auszuhalten. Zumindest nicht, wenn man sich seine Illusion über sich selbst bewahren möchte.

Oder mit Lochner gesprochen: “Wir können eher fremde Unzulänglichkeiten respektieren als unsere eigenen.” Deswegen reden wir lieber über die der anderen. Schrittfolge eins – immerhin geht’s ja um Dialektik: “Man erkennt einen Menschen leichter an dem, wozu er schweigt, als an dem, was er sagt.” Synthese: “Nur ein aussichtsloser Kampf ist ein lohnenswerter Kampf.” Man ahnt nicht immer gleich, wohin es einen führt, wenn man drauflos denkt. Vor Überraschungen darf man nicht gefeit sein, wenn es um Aphorismen geht, sonst sind es keine. Wo andere 600 Seiten brauchen, um zu erklären, wie sie von A nach B kommen wollen, braucht ein Aphoristiker nur drei Zeilen. Das Ergebnis hat etwas, was nicht loslässt: “Freiheit ist nicht das Privileg einer Gesellschaft, sondern eine Denkweise.” Schreibt Lochner so hin, als wäre es ein Bonmot. Ist es aber nicht. Die Logik unserer Sprache ist zuweilen messerscharf.

Aber was fängt man damit an, wenn die Illusionäre schon aufschreien, wenn sie nur die Messerspitze sehen: Huch, Sie haben da eine Waffe! Gehen Sie fort!

Was sagt man dazu? – “Der Weg zu neuen Horizonten ist mit alten Illusionen gepflastert.” Schreibt Lochner. Das ist ein Thema, das ihn in diesem Band besonders umtreibt. Auch für ihn scheint die schöne Zeit der Träume vorbei zu sein wie für all jene, die sich auf den Montagsdemonstrationen so mit Worten quälen. Denn dass eine Menge schief läuft, ist unübersehbar. Die neueren Parteien führen sich so selbstherrlich und selbstgerecht auf wie die eine alte. Eine Menge Lümmel lümmeln in den Parlamenten und lügen ihrem Wahlvolk ins Gesicht. Lächelnd. Als würde es keiner merken. Ein kleiner Schritt zur Seite: “Man spricht von der Gründung, nicht von der Bildung einer Partei.” Schöne Grüße an die jüngsten Wellenreiter auf dem Feld der Parteigründung. Da genügt ein Professor und ein Beutel voller Sprüche.

Verpönt ist weiterhin: Parteienbildung. Einige der Sprüche, die Lochner zum Thema Parteien findet, sind gepfeffert und bitter. Wo kommt man hin, wenn man sieht, wie Demokratie benutzt und missbraucht werden kann? Zu einer frustrierenden Wahrheit, die ihre Mahnung in sich trägt: “Die tiefste Ursache für das Scheitern der Demokratie ist die Demokratie.” Nicht die Diktatur, wie Lochner weiß. Diktaturen schleichen sich in der Regel ganz demokratisch ein. Und sie herrschen am vollkommensten, wenn sie “nicht als solche wahrgenommen werden”.Diesmal ist Lochner aber auch bekennender Pessimist. Er hat wohl zu viel genossen vom medialen Politikaufguss der letzten Zeit. “Die meisten Politiker waren ganz normale Menschen, bevor sie auf die schiefe Bahn geraten sind.”

Es gibt also scharfe Kost mit Lochner. Die nicht immer gerecht ist. Aber das will er auch gar nicht. Dazu ist er viel zu beschäftigt, den Stein umzuwälzen. Denn eine Frage ist ja auch: Was macht ein Geschäft wie die Politik mit den Politikern?

Oder noch ein bisschen weiter gedacht: Was macht sie mit den Menschen, wenn sie tagtäglich dem Geschäft ausgesetzt sind und sehen, dass Politik vom großen Geld noch viel abhängiger ist als der kleine Mann? Lochner: “Politiker handeln im Namen des Volkes. Wünschen wir ihnen gute Geschäfte.” So spricht einer, der sich schon abgewandt hat. Und damit ist Lochner nicht allein. In seinem Pessimismus steckt der Zynismus.

Wird man im Leben hienieden zum Zyniker? Oder sind es unsere Illusionen, die uns immer mehr erwarten lassen, als von unsereinem zu erwarten ist? Immerhin nimmt Lochner nicht nur die Politiker aufs Korn, auch die Komponisten, die Bücherschreiber, die krillige Verwandtschaft. Tatsächlich kommt er in der Mitte des Buches auf den Punkt: “Die Geschichte ist eine lange Versuchsreihe, um den Teufel mit Beelzebub mit dem Teufel mit Beelzebub auszutreiben.”

In der guten alten Regel landen wir immer wieder auf dem Holzweg und sind ganz scheußlich überrascht, wie wir da nur hingeraten konnten. Lag’s an der Führung, der vermaledeiten? – “In Zeiten großer Entscheidungen schlägt die Stunde der kleinen Geister.” – Oder lag’s an unserem üblichen Selbstbetrug? – “Der Mensch kann aus der Geschichte lernen, die Menschheit nicht.”

Wer nicht gar zu frustriert aus der Lektüre aussteigen möchte, der liest dieses Kapitel mit dem Titel “Die Geschichte, ein ältestes Gewerbe der Welt” zum Schluss.

“Frei Heraus”, Reinhard Lochner, Lychatz Verlag 2014, 19,95 Euro

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