Es geht den Hamburgern wie den Leipzigern. Manchmal sieht die Stadt richtig alt aus. In den Ferien zum Beispiel, wenn alle Familien wegfahren nach Spanien, Schweden, Japan, England, Mexiko - weg sind sie. Und einer wie Tobi, der daheim bleiben muss, hat auf einmal niemanden mehr, mit dem er spielen kann. Das ist frustrierend. Das weiß jedes Kind. Auch in Frankreich, wo Anne-Kathrin Behls Buch jetzt den "Prix Chronos" bekommen hat.

Durch ihre Geschichte vom frustrierten Tobi fahren zwar noch ein paar Autos mit Hamburger Kennzeichen. Aber seit Kurzem wohnt und arbeitet die junge Illustratorin in Leipzig. Und Kinder wie Tobi gibt es auch hier. Irgendwie jedenfalls, denn Anne-Kathrin Behl lässt ihre Helden als Tiere auftreten. Tobi selbst ist ein kleines Stinktier im Superman-Outfit. Draußen auf der Straße radeln Flusspferde und Waschbären, verkauft ein Krododil “Frisches Obst! Frisches Gemüse!” Und als Tobi seinem Ball mal ein bisschen Bewegung gibt, landet der auf dem Schoß eines Ziegenbocks. Eines alten natürlich. Herr Geißmann heißt er. Um die Ecke werden Krückstöcke für 99 Euro verkauft und die Party im Restaurant “Zur alten Eiche” beginnt natürlich erst ab 30+.Eigentlich ist Anne-Kathrin Behls Geschichte so eine Art moderne Fabel, bei der der Held der Fabel (Tobi) durch die Begegnung mit der Wirklichkeit eines Besseren belehrt wird. Denn alten Leuten sieht man natürlich nicht an, was sie im Leben einmal waren. Sie sehen ja aus der Perspektive eines Kindes alle gleich aus. Irgendwie. Laufen mit Gehhilfen und Krückstöcken herum. “In dieser Stadt sind alle mindestens eine Million Mal so alt wie ich”, beschwert sich Tobi bei Herrn Geißmann.

Und erfährt dann, was man in diesem Alter eigentlich gar nicht glaubt: Dass auch Herr Geißmann mal jung war und als Pilot lauter Bekanntschaften in aller Welt hatte. Da staunt Tobi natürlich. Erst recht, als sich Frau Hornhilde gar als einst berühmte Sängerin entpuppt, die ihre Fan-Post noch immer am Herzen trägt. Und Herr Graubart kann es nicht lassen, als er Frau Hornhilde beim Erröten ertappt. Er entpuppt sich als ehemaliger Detektiv. Die Geschichte, wie er einen legendären Tortendieb erwischte, gibt es dann gleich mal als kleinen Comic-Strip.

Wahrscheinlich sind all das Geschichten, die einen Nerv der Zeit berühren: Kinder wachsen immer öfter ohne Großeltern auf, leben in großstädtischen Kleinfamilien und die Welt, die sie kennen lernen, ist eine Welt, die keine langen Geschichten mehr kennt. Keine Oma-Geschichten. Die Welt der ganz Alten ist so weit fort, dass Kinder wie Tobi tatsächlich erst mal einen Schlüssel brauchen, um in den alten Menschen ihr jüngeres, lang verschollenes Ich zu entdecken. All das, was er noch vor sich hat, haben die Alten schon hinter sich. Und sie verbinden aufregende Gefühle damit und befriedigen damit auch den Wunsch der Kinder nach dem Geschichtenerzählen.

Und andersherum wecken sie natürlich auch Tobis Phantasie: Was will er denn selbst einmal werden? Die Pointe wird hier nicht verraten. Auch wenn sie natürlich den Bogen schlägt von Tobis Langeweile über die Lebensentwürfe der drei Alten hinaus. Denn natürlich weiß man dann, wenn man in seiner alten Haut steckt, was man tatsächlich alles erlebt hat und dass dabei so einiges war, was den Spaß wert wer. In der Frage nach dem Altwerden steckt also auch die kleine Frage nach dem Sinn im Leben: Muss man ihn erst finden oder findet er sich von ganz allein? Oder entsteht er einfach, wenn Menschen den Mut haben, das zu verwirklichen, was in ihnen steckt? Der eine wird Pilot und findet seinen besten Freund in Neuseeland, der nächste wird Detektiv, oder es wird die nicht ganz einfache Karriere einer Sängerin.

Zumindest in der Mischung, die Anne-Kathrin Behl hier angelegt hat, ist Leben auch eine spannende Wahl zwischen lauter gar nicht langweiligen Möglichkeiten. Ein Thema, das Kinder natürlich auch beschäftigt, auch wenn sie gern dazu neigen, das Abenteuerlichste, was sie so täglich sehen, als Wunsch zu nennen – Feuerwehrmann, Eisenbahner, Fußballstar und dergleichen.

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Tobi und die Alten
Anne-Kathrin Behl, Atlantis Verlag 2014, 14,95 Euro

So gesehen ist es natürlich auch eine offene Geschichte, wie Franzosen sie mögen. Eine Geschichte, die ein wenig von der notwendigen Neugier erzählt, die man zum Leben braucht: Geh einfach raus, frag die Leute, mal sehen, was sie erzählen.

Vielleicht braucht das gar keine Pointe. So wie die meisten Geschichten im Leben. Manche Pointen merkt man sich ja ganz gut, weil es dabei richtig gescheppert hat. Aber die wirklich das Herz bewegenden Dinge sind meist ganz ohne Pointe ausgekommen. Und erst hinterher weiß man dann, dass es was Schönes war. Das kann man dann weitergeben, wenn ein kleiner gelangweilter Bursche kommt und nichts Rechtes mit sich anzufangen weiß.

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