Auch im Portfolio des Lehmstedt Verlags ist das neu: ein ganzes Buch über eine einzige Straße. Doch die Prager Straße in Dresden ist natürlich etwas Besonderes. Und Leipzig hätte wohl auch so etwas Ähnliches gehabt, wenn die Vorväter die ersten Bahnhöfe etwas weiter draußen hingebaut hätten. In Volkmarsdorf zum Beispiel. Dann wäre die Eisenbahnstraße ganz zwangsläufig zur Prager Straße in Leipzig geworden, zur Prachtstaße zwischen Bahnhof und Stadt.

Es gibt städtebauliche Entwicklungen, die sind fast zwangsläufig. Investoren riechen sie geradezu. Und 1848 waren sie in Dresden schon genauso clever wie heute. Dass der Endbahnhof der Strecke Leipzig-Dresden an der falschen Stelle stand, ahnte man schon. Das wäre in etwa so gewesen, als hätten die Leipziger ihren Dresdner Bahnhof nicht dahin gesetzt, wo heute der Hauptbahnhof steht, sondern beispielsweise nach Reudnitz. Die Entfernung zur eigentlichen Stadt wäre viel zu groß gewesen. Doch als 1848 der Böhmische Bahnhof entstand, von dem aus künftig die Züge nach Prag fahren sollten, wusste man auch im Dresdner Magistrat, dass dieser Standort diesmal der richtige war, direkt südlich der alten barocken Stadt. Auf einmal wurde das Plangebiet greifbar, das künftige Seeviertel.

Nicht nur das neue Viertel, auch die Hauptstraße des Viertels sollten zu einem neuen schicken Entrée für die Stadt werden. Und da man Platz hatte, legte man die Straße schnurgerade an. Alles andere war dann nur noch eine Frage der Zeit. Katrin Nitzschke und Perk Loesch schildern in diesem opulenten Bildband anhand von alten Fotografien und Ansichtskarten, wie sich die neu angelegte Straße ab 1852 mauserte – erst einmal zu einer Prachtstraße, an der gutbetuchte Dresdner mit prächtigen Villen zeigten, was sie hatten und wer sie waren. Erste Hotels tauchten auf und empfingen die Reisenden, die mit dem neuen Verkehrsmittel Nr. 1, der Eisenbahn, am Böhmischen Bahnhof ankamen. Das Dresdner Panorama stand gleich am Wiener Platz, der als großer Schmuckplatz vorm Bahnhof die Ankommenden empfing.
Aber ihren eigentlichen Ruhm erwarb die Straße erst in den vier Folgejahrzehnten, als mit dem Wachstum der Stadt Dresden auch die Bodenpreise stiegen. Binnen weniger Jahre wurde es lukrativ, selbst die gerade gebauten Villen wieder abzureißen und an ihrer Stelle eine geschlossene Straßenbebauung hinzustellen mit gewaltigen Hotelbauten an den Kreuzungen, pompösen Warenhäusern, Cafés, Restaurants und einem Geschäft neben dem anderen. Das ist dann die Dresdner Straße, die später der junge Erich Kästner erlebte – als die faszinierende Schaufensterwelt seiner Kindertage. Als er 1947 wiederkam, war die Straße ein Trümmerfeld und nicht mal mehr zu ahnen, was hier für einen Leben war in vergangenen Zeiten.

Auch diesen Untergang der Straße spart der Bildband nicht aus, nachdem der Leser eintauchen konnte in eine Welt der einstmals zugkräftigen Namen, prächtigen Fassaden, stilvollen Gastlichkeiten, der Kaufhäuser, Kinos und Cabarets. All das ging im Bombenhagel im Februar 1945 unter. Man versteht die Dresdner schon, wenn sie dem nachtrauern. Denn wiederbekommen haben sie es ja nicht. Die Ruinen wurden zwar relativ schnell abgeräumt, nachdem die neuen Machthaber und Planer ihre Visionen für das riesige leere Feld zwischen barocker Altstadt und Hauptbahnhof entwickelt hatten. Jahrzehnte lang prägten Brachen das Bild und machten den Anreisenden zum einsamen Wanderer auf freier Flur. In den 1960er Jahren aber wurden dann die neuen Pläne für die Prager Straße umgesetzt. In einem gewaltigen Kraftakt wurde hier ein Stück Stadtmodell nach den neuesten, europaweit gültigen Standards verwirklicht. Vorbild war ein ähnliches Projekt im ebenfalls bombenzerstörten Rotterdam. Fotografen verfolgten das Wachsen des gewaltigen Appartementbaus, der vier Hotels und des Panoramakinos. Gerade die Weitwinkelaufnahmen zeigen, was für ein gewaltiges Territorium da im Bombenhagel kahlrasiert worden war. Selbst die großformatigen Neubauten wirken darauf wie Spielzeugklötzer.

Fertig wurde das Ganze nie. In den 1970er Jahren ging der DDR schlicht die Luft aus. Die Bauressourcen wurden dringend für den landesweiten Wohnungsbau gebraucht. Die neue Prager Straße blieb in gewisser Weise Fragment. Ein durchaus eindrucksvolles Fragment, das mit seinen Ladengeschäften, Restaurant und den ambitionierten Brunnengestaltungen durchaus Eindruck machte – auch in der internationalen Architektengemeinde. Doch die Mittel, das Ganze fertigzubauen und zu vollenden, fehlten. Erst nach 1990, als die Prager Straße im Vorjahr kurzzeitig auch mal zu einem Schauplatz der Friedlichen Revolution geworden war, konnten nun neue Investoren ihre Pläne umsetzen.

Das waren dann freilich nicht mehr die alten Pläne mit ihrer städtebaulichen Vision der 1960er Jahre. Das Bedauern der beiden Autoren über das, was in der Folgezeit geschah, ist unüberlesbar. Der Platzcharakter änderte sich mit der Anlage neuer, wesentlich lebloserer Brunnen deutlich. Die Plastiken verschwanden. Da und dort fügten Architekten gelungene neue Baukörper in die Straßenstruktur, die jetzt aber wieder bewusst auf die Maße der alten Prager Straße von 17 Metern eingeengt wurden. Der “sozialistische” Boulevard der 1970er Jahre war über 60 Meter breit. Mancher Neubau aber zeigt dem Passanten sehr aufdringlich, dass es schlicht um möglichst viel Verkaufsfläche am teuersten Einkaufspflaster Dresdens ging. Andererseits wurden alte Straßenverläufe, die 1945 verlorengegangen waren, wiedergewonnen, wenn auch oft nur als Nebenplätze der großen Einkaufscenter.

Mehr zum Thema:

Die Reformation und die Fürsten: Auch Dresden macht die Reformation in Sachsen erlebbar
Man kommt nicht unbedingt auf den Gedanken …

Eine prachtvolle Stadt im Glanz des Jahres 1900: Dresden in kolorierten Ansichtskarten
Was man für Leipzig machen kann …

Versuch einer barocken Stadtbesichtigung: Dresden an einem Tag
Manchmal braucht man so ein handliches Buch …

Eine Luftreise über eine (beinah) verschwundene Stadt: Über den Dächern von Dresden
Es gibt Menschen …

So erzählt diese Straße auf erstaunlich komplexe Weise von den gesellschaftlichen Umbrüchen der letzten 150 Jahren, zeigt den Wandel der Einkaufskultur und macht auf einzigartige Weise sichtbar, wie eine alte Prachtstraße tatsächlich komplett verschwinden kann, um denn in völlig anderer Form wiederzuerstehen. Heute ist der 600 Meter lange Boulevard wieder ein unterhaltsamer Übergang vom Bahnhof zur Innenstadt. Der Verkehr wurde komplett in die benachbarte St. Petersburger Straße verlegt. Manchmal kommt auch die Flut herein – wie 2002, als die Weißeritz ihr Bett verließ.

Aber da Nitzschke und Loesch die Leser auch in die heute versteckten Ecken der Straße einladen, ist das Buch natürlich auch ein kleiner Führer ins sonst Übersehene. Man kann die Trauer um das Verlorene verstehen. Aber man merkt auch beim Lesen, dass es andere Leute und andere Visionen sind, die heute den Takt solcher Straßen bestimmen und damit auch, wie unsere Großstädte heute an einigen Stellen aussehen.

Bestellen Sie dieses Buch versandkostenfrei im Online-Shop – gern auch als Geschenk verpackt.

Die Prager Straße in Dresden
Katrin Nitzschke; Perk Loesch, Lehmstedt Verlag 2014, 19,90 Euro

Natürlich hat Leipzig in gewisser Weise auch so eine Art kleiner Prager Straße. Und damit ist nicht die frühere Reitzenhainer Straße gemeint, sondern der Brühl, der stellenweise ein ganz ähnliches Schicksal hatte wie die Prager Straße.

Aber jetzt gibt es erst einmal diese ganz spezielle Einladung zur Dresdner Stadtbesichtigung, die man bestenfalls sogar auf dem Turm des Neuen Rathauses beendet, wo man dann die Übersicht hat über das Ganze.

www.lehmstedt.de

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar