36 Motive, 72 kleine quadratische Kärtchen mit ganz, ganz kleine Ziffern. Was wäre ein Memo-Spiel, wenn es nicht ein paar Finessen aufbieten würde, die die Sache ein bisschen spannender machen. Ein Treppenhaus, das man übersieht, wenn man gedankenlos ins Grassi-Museum spaziert, ein bemaltes Gartenhaus im Waldstraßenviertel, eine Spielplatzeisenbahn im Zoo. Leipzig zum Neuentdecken.

Natürlich stecken auch andere Motive in diesem Memo zum 1.000-jährigen Jubiläum der Ersterwähnung Leipzigs. Quasi als Festmarken, an denen auch der flüchtige Leipzig-Besucher seine Erinnerung festmachen kann. Den Hauptbahnhof-Promenaden etwa (“Schnell noch ein Souvenir ergattert …”), dem Herrn Bach, der Nr. 6 im Spiel oder dem Herrn Goethe (Nr. 13). Zwischendurch hat sich der Verlag alle Mühe gegeben, nicht die üblichen Postkartenmotive zu liefern, an denen man schon seit 100 Jahren übersehen hat.

Das zwingt auch den fröhlichen Souvenir-Käufer dazu, sich ein bisschen anders zu erinnern an diese Stadt. Beim Zoo hat man zwar die Elefanten und Giraffen gesehen. Aber die quietschbunte Lok auf dem Spielplatz? (“Hatten wir die Kinder überhaupt mit?”). Den Portikus des Bayrischen Bahnhofs gab’s in den letzten Jahren immer nur hinter lauter Baumaschinen und Beton. Das Bildchen im Memo zeigt ihn noch mit Grün davor. Das Foyer der Universitätsbibliothek ist immer schön – aber war’s auch Teil der gebuchten Stadtbesichtigung? (“Ich glaub, wir haben da was verpasst.”)Die Autoren des Memo-Spiels zu “1.000 Jahre Leipzig” haben sich Mühe gegeben, den Blick der Betrachter zu lenken, haben andere Perspektiven gewählt, Details hervorgehoben. Weil der Verlag die Autoren nicht verrät, erfährt man nicht, wer so mit listigem Blinzeln die alten Sichtweisen aufgebrochen hat und den Spielern zeigt, dass es eine Stadt voller Eindrücke und Einsichten ist, die man für gewöhnlich nicht wahrnimmt, weil man so aufs Bekannte und Erwartete fixiert ist.

Wie gesagt: Zwischendurch taucht’s trotzdem auf – Goethe etwa als schmucker Student auf dem Naschmarkt oder das Gohliser Schlösschen in strenger Mittelachse. Aber den Festsaal im Schlösschen verpassen die Meisten, weil sie die angebotenen Führungen nicht nutzen. Er ist auf Kärtchen Nr. 14 zu sehen.

Nicht jedes Kärtchen zeigt ein Foto. Manchmal wird auch ein bisschen mt alten Bildern gespielt. Etwa in Sachen Völkerschlacht, die mit dem “Heldentod des Majors von Krosigk bei Möckern” von Richard Knötel auftaucht. Da muss man schon mal im Lexikon nachschauen, wer der “berühmte Historienmaler” Richard Knötel eigentlich war? Den “Heldentod” des preußischen Majors jedenfalls hat er nicht miterlebt, den hat er sich ganz heroisch ausgedacht nach den Heldenbilderwartungen des wilhelminischen Kaiserreichs. Muss man da extra ein Lexikon daneben legen, wenn man dieses Memo spielt? – Muss man nicht. Kann man aber. Denn auch da ergibt ja ein Bruch in der Bild-Erwartung. Und das Nachschlagen bringt zum Nachdenken: Wie sehr ist unser Bild von Geschichte eigentlich verzerrt von den nachgestellten Historienschinken der Maler, Filmer und Möchtegerndichter?

Ist Gustav Königs Bild von der “Leipziger Disputation Luthers mit Eck” aus dem Jahr 1847 nicht ein ganz ähnlicher Trug? – Solche Historiendarstellungen waren beliebt im 19. Jahrhundert. Geschichte erscheint darauf von theatralische Dramatik, die Akteure sind in dynamischer Pose zu sehen. Dagegen sind die Fotos der Gegenwart fast von majestätischer Ruhe. Die Leipzig-Silhouette in der Abenddämmerung, das Opernhaus in rotem Licht, das abendliche Bildermuseum. Die Nikolaikirche gibt es als stillen, andächtigen Blick in den Chorraum von heute und auf einer ganz alten Zeichnung von 1592: “Abnahme des Turmknopfes der Nikolaikirche”. Ein alter Kupferstich, der noch zeigt, wie groß der Nikolaikirchhof einmal war.

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1.000 Jahre Leipzig
Seemann Verlag 2014, 9,90 Euro

Aber auch in diesem Memo gibt es die Standards für alle, die solche Ankerpunkte brauchen: Völkerschlachtdenkmal, Thomanerchor, Thomaskirche, Sighard Gille. Wieder so ein Hoppla-Bild, mit dem der eigenwillige Blick der Autoren sichtbar wird. Ein Blick noch zum Elstermühlgraben, wo das Waldstraßenviertel ein klein wenig nach Venedig aussieht. Wer hat gewonnen? Wer hat seine Bilderpaare als Erster beisammen?

Die Erklärungen zu den 36 Bildchen liegen wieder im Beipackzettel. Wer will, lernt also was dabei, während er seinen Spielpartnern die Kärtchen vor der Nase wegschnappt.

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