In seinem Buch „Im Taumel“ hat ja Kersten Knipp gerade die Folgen des „Schicksalsjahrs“ 1919 für Europa aufgearbeitet – ein komplexes und selten wirklich vermitteltes Thema. Die Weimarer Republik wird auch medial fast immer nur auf „die Goldenen Zwanziger“, Hyperinflation und Börsencrash reduziert. Dass sich für Millionen Europäer ihr Leben radikal veränderte, wird selten wahrgenommen. Und noch seltener zum Roman gemacht wie in Thomas Persdorfs zweitem Band der Romantrilogie „Quintus – das Leben eines Hochbegabten“.

Den ersten Band – „Entlang des Großen Krieges“ – gab es 2013, damals noch im Engelsdorfer Verlag. Jetzt ist der in den 1940er Jahren in Leipzig Geborene, der heute in Mainz lebt, nach Aachen gegangen, um Teil 2 zu veröffentlichen: „Das V der Kraniche“. Im Grunde haben wir ja den hochbegabten Quintus und seine Geliebte Amélie am Krankenbett verlassen – bei der Rückeroberung des Zeitungshauses der SPD-Zeitung „Vorwärts“ hatte er sich einen Lungendurchschuss zugezogen und damit fast zwei Jahre Krankenlager und Rekonvaleszenz, in der aus der langen Liebe zu Amélie von Wachen am Ende eine Verlobung wurde.

Und eigentlich könnte auch noch eine Heirat draus werden, denn aus seiner Aufopferung für den „Vorwärts“ erwuchs Quintus ein Job als Redakteur – er hat also endlich wieder ein Einkommen. Doch der Job verschlägt ihn diesmal in die nächste brenzlige Region, nachdem er schon die Weltkriegsjahre immerfort an brisanten Brennpunkten des politischen Geschehens gelandet war.

Auch dieses Büchlein ist wieder gespickt mit Fußnoten und Anmerkungen am Buchende, in denen vor allem kurze Daten zu den im Text erwähnten berühmten Männern geliefert werden, denen Quintus begegnet. Und er begegnet ihnen, weil er keine Scheu hat, auch etwas zu riskieren – in diesem Fall als frisch gebackener Redakteur für den „Vorwärts“, die Parteizeitung der SPD.

Was schon erstaunlich ist: Hätte der „Vorwärts“ 1921 tatsächlich einen Korrespondenten ausgerechnet nach Oberschlesien entsandt? Quintus jedenfalls zögert nicht und fährt hin – und kommt natürlich schon im Zug in Kontakt mit einem der Freikorps, die damals nach Oberschlesien einsickerten, denn Oberschlesien war damals eines von vielen Gebieten in Osteuropa, in denen sich Ländergrenzen verschoben.

Das war eines der zentralen Ergebnisse des Versailler Vertrags, der auch die Wiedergründung alter Nationalstaaten wie Polen in Gang brachte. Was aber nicht ohne Konflikte abgehen konnte gerade in Gebieten wie Oberschlesien, wo Deutsche und Polen seit Jahrhunderten nebeneinander lebten. Um zu klären, welche Landesteile zu Polen kommen sollten, wurden unter französischer Oberaufsicht Wahlen insbesondere in den östlichen Landesteilen durchgeführt, die aber nicht überall wirklich eindeutige Ergebnisse brachten.

Schon vorher gab es militärische bzw. paramilitärische Aktionen von beiden Seiten, deutscherseits heimlich von der Reichsregierung toleriert. Entsprechend kam es zu blutigen und grausamen Scharmützeln und Übergriffen, die aus der Sicht des durchaus parteiischen Quintus vor allem dem polnisch-schlesischen Politiker Wojciech Korfanty und der Duldung durch die Franzosen anzulasten seien.

Der dritte oberschlesische Aufstand allein um die Wahl am 20. März 1921 herum kostete laut Wikipedia 3.000 Menschenleben auf beiden Seiten. Logisch, dass auch Quintus Schneefahl mitten hineingerät in die Kämpfe, was ihm einerseits enorme Leserresonanz in Berlin verschafft, andererseits aber auch die Kündigung durch den „Vorwärts“, denn so militaristische Töne möchte man von seinem Korrespondenten eigentlich nicht haben. Und ein echtes Drama ereignet sich für Quintus, denn seine Verlobte Amélie macht sich auf ins Krisengebiet, um ihn zu suchen – und geht dabei selbst verloren.

Das ist der Punkt, der mit dem Buchtitel „Das V der Kraniche“ zu tun hat, V eben auch für Verschwinden. Man vergisst ja beinah, dass Quintus die ganze Zeit auch immer mit seiner Epilepsie zu kämpfen hat und Amélie mit einer psychischen Belastung aus ihrer Kindheit. Es ist also von vornherein eine Liebe auf sensiblem Grund – auch wenn Quintus dann – gemeinsam mit Amélies Vater – alles daransetzt, die Verschwundene zu finden.

Aber erst am Ende des Bandes klärt sich Amélies Schicksal auf, vorher kehrt Quintus in das quirlige Berlin zurück, wo er wieder freundliche Hilfe findet, um diesmal als Sekretär im Außenamt eine neue Karrieresprosse zu erklimmen – und (er ist ja ein pfiffiges Kerlchen) alsbald mit den namhaften Köpfen der Reichspolitik in Kontakt zu kommen – Rathenau, von Maltzan, von Blücher und von Schleicher, um nur einige zu nennen.

Eigentlich alles Personal aus dem großen deutschen Drama, das bis jetzt noch kein großer Autor wirklich als Romanstoff für sich entdeckt hat. Vielleicht aus Scheu vor der starken nationalen und erzkonservativen Orientierung der meisten Akteure, jenem riesigen Widerspruch, der schon dadurch entstanden war, dass erzkonservative Politiker und Generäle aus der Kaiserzeit jetzt das Führungspersonal einer Republik waren, die in großen Konferenzen um ihre Zukunft und ihre Rolle nach dem verlorenen Krieg ringen musste.

Kann man solche Leute als klug und emotional beschreiben? Kann man. Sollte man wohl auch. Denn sie bestimmten wichtige Jahre der deutschen Geschichte, stellten wichtige Weichen, waren aber selbst oft nur Getriebene – denn die Siegermächte des 1. Weltkriegs hatten ihre eigenen Vorstellungen, wie die neue Ordnung in Europa auszusehen hatte. Und sie gingen dabei oft genug auch nicht wirklich feinfühlig vor.

Aber das verstört einen eigentlich nicht mehr, wenn man sieht, mit welcher Selbstgefälligkeit und Beratungsresistenz heute wieder die Mächtigen in der Welt agieren. Dass sie allesamt irgendetwas aus der Geschichte gelernt hätten, kann man nicht unbedingt sagen.

Was übrigens auffällt in Persdorfs Geschichte: Er versucht die übliche Schwarz/Weiß- bzw. Rot/Schwarz-Malerei zu vermeiden und an seinem wandelbaren Quintus Schneefahl wenigstens ein paar der vielen Facetten sichtbar zu machen, die das Leben und die Politik in den frühen 1920er Jahren bestimmten. Samt der durchaus nicht eindeutigen Frage, wo einer wie Quintus in dieser durcheinandergewirbelten Gesellschaft nun seinen Platz findet. Oder seine Liebe.

Persdorf greift – berechtigterweise – in etlichen Kapiteln auch zu sehr deftigen Pinseln. Es ist kein verkopfter Roman geworden. Und auch kein so fein ziselierter, wie man ihn etwa von Thomas Mann erwartet hätte. Eher einer, der mit einer gewissen Lust am Ausmalen versucht, eine Zeit lebendig werden zu lassen, die heute gern und oft zitiert wird – aber meistens nur in ihren überspitztesten Plattitüden.

Tatsächlich ist es wohl eher so, dass die Geschichtsschreibung der kurzen Weimarer Republik eigentlich bis heute zu kurz gekommen ist, weil sie hinter dem ganzen Klamauk um die „beiden deutschen Diktaturen“ verschwunden ist. Mitsamt ihren durchaus ernst zu nehmenden politischen Köpfen und ihren Versuchen, aus dem selbstverschuldeten Schlamassel etwas Tragfähiges und Zukunftsfähiges zu machen. Dass dabei zwei zentrale Gestalten – Erzberger und Rathenau – schon früh von Attentätern ermordet wurden, gehört zur Tragik dieser Zeit.

Und es erschüttert auch Quintus, der diese Männer ja auch aus eigenem Erleben kennengelernt hat. Oder den Persdorf die Berühmten hat kennenlernen lassen – bis hin zu den durchaus dramatischen Ereignissen in Rapallo. Was in den Zeitungen steht, lässt oft vergessen, wie sehr Politik auch von Gesten und Emotionen gemacht wird, von Machtdemonstrationen und Hinterzimmerkabalen, von denen es auch in diesem Buch einige gibt.

Quintus darf manchmal dabei sein, manchmal erfährt er es von Augenzeugen. Da hat Persdorf durchaus seine historische Büchersammlung durchstudiert. Man hat es mit einer durchaus spannenden Personage zu tun, die hinter dem Schattenbild des „Kampfes der Extreme“ meist verschwindet.

Selbst im sächsischen Geschichtsunterricht wird das Ungleichgewicht sichtbar:

Zehn Unterrichtsstunden sind im Gymnasium dem Themenkomplex „Versuche der Zukunftsgestaltung in Europa nach dem Ersten Weltkrieg“ gewidmet, aber 22 Stunden dem Lernbereich „Deutschlands Weg von der Demokratie zur Diktatur“. Als wäre die Weimarer Republik nur dazu da gewesen, den Nationalsozialisten den Weg zu bereiten. Und genau so wird ja heute wieder diskutiert.

Und dass der Unfug schon in den Köpfen der Lehrplangestalter steckt, zeigen dann die Themen für die Wahlpflichtkurse im Gymnasium: „Justiz und Rechtsprechung in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus“, „Gesellschaftliche Situation von Frauen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus“ und „Kunst und Kultur in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus“.

So bereitet man in den Köpfen der Kinder ein Denken vor, das den Nationalsozialismus als logische Folge der Demokratie betrachtet. Denkt darüber überhaupt noch einer nach in sächsischen Amststuben? Oder hält man das dort für die Logik der Geschichte?

Quintus Schneefahl jedenfalls erlebt eine andere, deutlich vielschichtigere Geschichte. Auch wenn offen ist, wo er am Ende landet.

Thomas Persdorf Das V der Kraniche, Shaker Media, Aachen 2018, 14,90 Euro.

Entlang des Großen Krieges: Die Lieben und die Ratlosigkeit des Studienabbrechers Quintus Schneefahl

Entlang des Großen Krieges: Die Lieben und die Ratlosigkeit des Studienabbrechers Quintus Schneefahl

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar