Carlos Steiner hätte sein Büchlein auch „Trostbüchlein“ nennen können, ein Trost- und Anspornbüchlein für alle, die sich beim Weintrinken nicht mehr von all den süffelnden und bedeutsam tuenden „Experten“, „Kennern“ und Wichtigtuern einschüchtern lassen wollen. Denn dieses elitäre Getue ist wirklich nichts anders als eine miese Show, mit der anderen die Freude am Wein vergällt werden soll. Wie es halt oft ist, wenn Leute sich das Clownskostüm des „Experten“ umhängen.

Wir sind zwar allesamt ziemlich gläubig, wenn jemand als Kenner von irgendwas auftritt. Auf den Bildschirmen der tv-vernarrten Nation wimmelt es ja von lauter selbst- und fremdernannten Experten, die meist von Tuten und Blasen wenig Ahnung haben, aber mit gewichtiger Miene daherreden, angehimmelt von naiven Mikrofonträgern, die im Studium gelernt haben, Experten für Heilige in der Wüste zu halten.

Selberdenken ist nicht mehr so gefragt. Wird auch ungern bezahlt.

Aber Carlos Steiner hat Recht: Man kann auf diese Süffelnasen komplett verzichten. Man braucht sie nicht zum Weintrinken und -genießen. Was man braucht, ist einfach das Vertrauen in die eigenen vier Sinne. Oder sieben. Meistens reichen vier: Augenschein, Geruch, Geschmack, Tastsinn. Denn bei Wein (und seinen vielen Sorten) geht es nur um eines wirklich: Er muss dem Trinkenden ein Genuss sein. Und die Geschmäcker sind nun einmal verschieden.

Man sollte nicht unbedingt zu den billigen Weinen ganz unten im Supermarktregal greifen, rät Steiner. Aber in den oberen Etagen bieten auch die Supermärkte schon Qualitätsweine an. Es ist nur an Jedem selbst, herauszufinden, welcher Tropfen aus welcher Region ihm besonders mundet.

Da muss man sich nicht unbedingt durchs ganze Regal trinken. Steiner gibt auch ein paar wichtige Tipps, in welche Geschmacksgruppen sich die bekanntesten Rebsorten einteilen. Was ja auch bedeutet: Wenn man erst einmal seine eigene Vorliebe herausgefunden hat, hat man schon einmal anhand von Rebsorten und Herkunftsregion eine gute Orientierung, wo man suchen und vielleicht sogar seinen absoluten Lieblingswein finden kann.

Ein paar bewährte Trauben sind quasi die Supertrauben, die große Teile des Weinmarktes dominieren – Riesling, Chardonnay, Cabernet Sauvignon, Pinot Noir und Nebbiolo spielen diese Rolle der bewährten Superstars. Einige sind – man merkt’s ja schon am Namen – eher in alten Weinländern wie Frankreich und Italien zu Hause. Aber natürlich hat sich der Weinbau längst über alle gemäßigten Regionen der Erde ausgebreitet. Man bekommt Wein aus den vertrauten Trauben längst auch aus Südafrika, Australien oder den USA.

Aber diese vielen Weinregionen aufzulisten fängt Steiner gar nicht erst an.

Er lädt die Leser lieber ein, die deutschen Weinanbaugebiete in aller Kürze kennenzulernen – samt den dort hauptsächlich angebauten Rebsorten. Das geht vom kleinen Ausnahme-Gebiet Ahr über die großen Berühmtheiten Baden, Franken, Mosel-Saar-Ruwer, Pfalz und Rheinhessen bis in die Region, der sich Carlos Steiner besonders verbunden fühlt: Saale-Unstrut und Sachsen.

Beide ostdeutschen Regionen haben auch 28 Jahre nach der Einheit noch einen gewissen Exoten-Status, was daran liegt, dass heimischer Weinbau in der DDR-Zeit in die Nische verdrängt war, die Produktion war entsprechend gering. In den Konsum-Regalen dominierten die Billigimporte aus Südosteuropa.

Aber daran hat sich nach 1990 viel geändert – auch weil die Winzer natürlich bemüht waren, ihre Region im durchaus konkurrenzreichen Konzert der deutschen Weinregionen gut zu platzieren. Inzwischen hat sich herumgesprochen, dass es hier echte Qualitätsweine gibt. Und noch etwas kann Steiner anmerken: Die Region hat Zukunftspotenzial. Denn der allgemeine Klimawandel bedeutet ja, dass sich auch die Klimazonen verschieben. In traditionellen Weinanbaugebieten wird es wohl bald zu trocken und zu heiß. Dafür rücken Mittel- und Nordeuropa mit der Zeit in den Bereich guter klimatischer Verhältnisse für den Weinanbau.

Natürlich ist das noch ein wenig hin. Noch bekommt man herrliche Tropfen aus dem Süden. Und wenn man den Wein nach seinem Geschmack gefunden hat, hört auch das Getue auf. Da kann man der Schnapsnase, die einem den Weinkenner vorspielt, einfach die Schulter zeigen und erklären, dass man seinen Weingeschmack schlichtweg nicht teilt.

Man kann auch auf viele andere, falsch tradierte Sprüche verzichten – vom Wein, der „atmen muss“ bis zum Wein, der Zimmertemperatur haben muss. Das mit der richtigen Temperatur erklärt Steiner natürlich, genauso wie die Sache mit der Bevorratung. Nur ein Bruchteil der Weine wird wirklich erst durch lange Lagerung etwa Besonderes. Die meisten Weine sind für den baldigen Genuss bestimmt. Deswegen ist ein Weinkeller ganz nützlich – aber man sollte sich nicht unbedingt Vorräte für 100 Jahre anlegen.

Der Rest ist dann Genuss. Und nur deshalb ist der Wein ein klein wenig etwas Besonderes unter den Getränken: Seine Vielfalt erfährt man tatsächlich, wenn man ihn mit Ruhe und den vier beteiligten Sinnen genießt. Wirken lassen ist wohl der zentrale Ratschlag, und der Hinweis hilft, auch sonst eher selten benutze Sinne in Anspruch nehmen. Etwas, was ja in unserer von Geschmacksverstärkern verdorbenen Nahrungswelt viel zu selten geschieht.

Da beginnt eigentlich erst der Genuss. Oder einmal so formuliert: Kaum ein Getränk ist so ein kraftvolles Kontra zur To-go-Kultur von heute. Nur echte Säufer laufen mit Weinbuddel durch die Gegend. Der sinnenfreudige Mensch genießt seinen Lieblingswein entspannt an einem ruhigen Ort. Auf Terrassen in Weinbergen zum Beispiel. Denn alle vorgestellten Weinregionen sind auch beliebte Ausflugsregionen. Und zwei haben wir direkt vor der Nase.

Carlos Steiner Der kleine Weinkenner, Buchverlag für die Frau, Leipzig 2018, 5 Euro.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Gibts auch ein Kapitel zur Ökologie im Weinbau? Denn der konventionelle gehört zu den Zweigen der Landwirtschaft mit dem schlimmsten Gifteinsatz.
Wenn man sich den Luxus eines guten Weins gönnt, sollte es wenigstens Bio sein, besser noch darüber hinaus. Aber das füllt vielleicht ein eigenes Buch.

Schreiben Sie einen Kommentar