Manchmal ist es wirklich nur die Sprache, die uns daran hindert, in den Kulturen fremder Völker uns selbst wiederzufinden, das Vertraute, das allen Völkern gemeinsam ist. Denn alle Menschen müssen für ihren Lebensunterhalt arbeiten, mussten Land urbar machen und miteinander klarzukommen lernen. Wären da nicht ein paar Tiere, die es nur in Südostasien gibt, die Sprichwörter, die Gabriele und Ngen Yos jetzt veröffentlicht haben, könnten manchmal auch aus deutschen Sammlungen stammen.

Aber sie stammen aus dem Sprichwortschatz der Khmer, jenem Volk, das auf eine 4.000-jährige Kulturgeschichte im heutigen Kambodscha zurückblicken kann. Bekanntestes Symbol dieser Geschichte ist die eindrucksvolle Tempelanlage Angkor Wat. In ihren Vorbemerkungen gehen Gabriele und Ngen Yos auf die große Geschichte der Khmer ein, erzählen von den Wurzeln der hier gesammelten Redewendungen, von der Symbolik der Tiere und dem Einfluss des Buddhismus auf die Kultur des Landes.

Eigentlich hätte das Buch schon 1989 erscheinen sollen. Der Kiepenheuer-Verlag hatte alles vorbereitet, auch die notwendigen Gutachten eingeholt, die man in DDR-Zeiten brauchte. Aber dann kam jene umwerfende Zeitenwende, die 1990 auch darin kulminierte, dass ein großer Teil der Jahresproduktion aus DDR-Verlagen in Containern landete.

Denn die mit der D-Mark beglückten DDR-Bürger nutzten die Gelegenheit, endlich all jene Sehnsuchtstitel aus Westverlagen zu kaufen, die vorher fast unerreichbar waren. Das Schicksal blieb diesem Buch erspart – der Verlag brachte es vorsichtshalber gar nicht erst in den Druck. Denn wer hätte in so turbulenten Zeiten die Muße gefunden, in die Weisheit alter Sprichwörter einzutauchen?

Damit aber landeten zehn Jahre Vorarbeit von Ngen Yos erst einmal in der Ablage, denn auch andere Verlage winkten ab. Seit 1970 lebt der gebürtige Kambodschaner in Leipzig, hat hier deutsche Sprache studiert und ein Diplom als Germanist erworben. Und im Grunde hat sich an dem Befund aus dem Jahr 1980 nicht viel geändert: Hierzulande weiß man fast gar nichts über die Kultur und Literatur Kambodschas.

Also setzte er sich zusammen mit Gabriele Yos nun noch einmal über das Material und brachte es in der Borsdorfer Edition Winterwork zum Druck. Über 1.000 Sprichwörter und Spruchweisheiten sind im Buch enthalten, alle in kleine Kapitel geordnet, die im Grunde das ganz normale Leben von Menschen spiegeln – sie erzählen von Mut und Feigheit, Achtsamkeit und Arbeit, Habgier, Geiz und Eigennutz, Güte, Liebe, Familie, dem Umgang mit Frauen, Männern, Mächtigen und Armen, Lügnern und Mönchen. Das volle Spektrum, möchte man meinen.

Und natürlich staunt man. Denn das alles findet man ganz ähnlich auch in deutschen Sprichwortsammlungen. Sammlungen, die zuweilen sehr einfach wirken, ganz so, als seien sie nichts besonderes – jedenfalls keine zugespitzten Aphorismen und Geistesblitze.

Aber die Menschen, die diese Redewendungen benutzt haben (und manchmal noch heute benutzen) wollten niemanden beeindrucken, auch nicht ihre intellektuelle Brillanz ausstellen. Es sind Sprüche, wie sie aus der ganz alltäglichen Erfahrung erwachsen, Teil jener Volksklugheit, wie sie über Generationen entstand, weil schon die Großeltern ihre Erfahrungen gemacht hatten und das, was sie dabei gelernt haben, in eine kurze, handfeste Formel gepackt haben, die man auch Kindern immer wieder sagen kann.

Hoffend, sie übernehmen die Erfahrung einfach und machen nicht dieselben Fehler, aus denen schon die Vorfahren gelernt haben. Lernen mussten, denn zum Erbe des arbeitenden Volkes gehört überall auf der Welt die Machtlosigkeit. „… der Könige Reichtum ist das Heer.“

Aber was ist der Reichtum des einfachen Mannes? – Wissen, heißt es in mehreren Sprichwörtern. Die auch eine sehr patriarchalische Gesellschaft widerspiegeln, obwohl Gabriele und Ngen Yos im Vorwort daran erinnern, dass die ursprüngliche Welt der Khmer eine matriarchalische war: Die Frauen entschieden, wer wen heiraten darf. In den jüngeren Sprichwörtern aber werden Frauen sehr reduziert – jedenfalls auf den ersten Blick – auf ihre Schönheit.

Erst wenn man genauer hinschaut, dorthin, wo es um die Verwaltung des Hauses, der Vorräte und der Familie geht, wird klar, dass auch die kambodschanischen Männer nicht anders sind als die deutschen. Sie wissen ganz genau, dass es die Frauen sind, die die Fäden zusammenhalten und jeder Mann gut beraten ist, auf seine Frau zu hören, wenn es ums Planen, Verwalten und Bewahren geht. Was auch an der ganz traditionellen Arbeitsteilung liegt, die im noch ländlich geprägten Kambodscha auch noch in der Zeit dominierte, als die zugrunde liegenden Sprichwortsammlungen entstanden – in den 1950er und 1960er Jahren.

Männer tun also gut daran, ihre Frauen zu achten und sich eben keine Lieb- und Buhlschaften zuzulegen und damit alles zu riskieren, nicht nur den Hausfrieden. Und sie tun gut daran, die alten Warnungen vor Lügnern, Aufschneidern und Betrügern zu beherzigen und eben nicht einfach denen nachzulaufen, die große Reichtümer und Macht versprechen. Gar ihr kärglich Verdientes zu verspielen.

Um diese Klugheit geht es immer wieder, gerade im Umgang mit anderen Menschen – die Klugheit, private Konflikte nicht nach außen zu tragen, lieber zu schweigen und sich Zeit zum Nachdenken zu lassen, wenn man gefragt ist, und schon gar nicht die Zunge unbehütet reden zu lassen. Denn verletzende Worte sind tödlicher als ein Speer. Sie sorgen nicht nur für Unfrieden – sie zerstören auch Nachbarschaften und Freundschaften. Und machen einsam.

So gelesen werden die Sprichwörter wie eine Mahnung in einer geradezu entfesselten Gegenwart, in der die Menschen sich – auch und gerade mit Worten – gehen lassen. Und vielleicht gerade deshalb einsam sind. Als wenn die uralten Regeln eines auskömmlichen Miteinanders nicht mehr gelten würden.

Aber sie gelten noch immer. Es steckt – auch wenn die Sprüche oft simpel klingen, so, als hätte man das alles schon tausendmal selbst so gesagt – jede Menge Weisheit darin. Ganz einfache Weisheit – jene Weisheit, die noch im kleinsten Dorf das Zusammenleben möglich macht und hilft, das Gesicht zu bewahren. Denn der Mensch ist fehlerhaft. Auch wenn nicht jeder zum Dieb oder Faulpelz wird. Aber ein einziges losgelassenes Wort des vorschnellen Urteils – und die Atmosphäre im Dorf ist vergiftet, ein Mensch ist gebrandmarkt und wird auf einmal gemieden. Und: Die Sprüche zeigen auch die ganze Widersprüchlichkeit des Lebens.

Denn alles kann auch umschlagen. Auf den Verleumder zum Beispiel. Die Welt der Khmer kennt nicht die Respektlosigkeit unserer entfesselten Zeitgenossen, die glauben, auch noch stolz darauf sein zu dürfen, wenn sie andere Menschen aburteilen und beleidigen. Auf einmal wird in diesen scheinbar so simplen Sprüchen das ganze Dilemma der heutigen Zeit sichtbar, in der so viele von uns glauben, schon Gutes zu tun, wenn sie nichts tun.

„Es ist besser, zu handeln und aus den Fehlern zu lernen, als untätig zu sein und recht zu behalten.“

Es steckt eine Menge Gelassenheit aus Erfahrung darin, manchmal bildhaft gemacht mit Bezügen zu den großen und gefährlichen Tieren – die es ja in Kambodscha wirklich gibt: versuche nicht, dem Krokodil das Schwimmen beizubringen, lass den Elefanten nicht das Zuckerrohrfeld bewachen …

Wahrscheinlich wird jeder Reisende in Kambodscha sich erst einmal wundern, dass sein Gegenüber nicht gleich antwortet, sondern erst einmal überlegt. Vor allem deshalb, weil er es verinnerlicht hat, dass man sich selber Gutes tut, wenn man den anderen nicht beleidigt: „Wer noch nicht genau verstanden hat, sollte nicht die Brauen hochziehen!“

Das klingt so vertraut, auch wenn es gute Mütter und Großväter vielleicht etwas anders gesagt haben. Die Natur gibt andere Bilder. Die Erfahrungen sind überall dieselben. Wer nicht reich ist, lernt frühzeitig, achtsam zu sein – mit dem Werkzeug, dem Küchengeschirr, dem Feld, den Tieren und all den Menschen, denen er jeden Tag in die Augen sehen muss. Aber wie wappnet man sich gegen Fakenews und falsche Gerüchte? „Glaube niemals mehr als das, was ist.“

Und so begegnet einem auch diese uralte Warnung: „Wer hoch hinaus will, fällt tief hinab …“ ein Spruch, der gleich weitergeführt wird: „… wer unbesonnen redet, schadet seinem Ansehen.“ So fremd ist einem dieses Leben gar nicht. Es geht um Achtsamkeit und Maßhalten, oder auch: das richtige Maß finden für sein eigenes Leben. Denn wer langsam geht, kommt nach Hause. „Rennen ist vergeblich, bedächtig gehen ist besser.“

Es ist die Weisheit der Armen, der Menschen, die genau wissen, dass das Wohlergehen der Familie davon abhängt, dass man sein Feld bestellt, die Ernte einbringt und mit den Nachbarn auf gutem Fuß steht. Und natürlich eine Frau daheim hat, auf deren Rat man hören kann. Da und dort gibt es auch Sprüche zum Reichtum. Aber so richtig attraktiv erscheint pekuniärer Reichtum gar nicht. Viel wertvoller sind der Reichtum an Güte und der Reichtum an Wissen. Das, was einen Menschen tatsächlich zum Herrn seines Tuns macht und ihm Achtung verschafft vor den Mitmenschen, weil er Rat zu geben weiß. „Was wir den anderen antun, dasselbe tun die anderen uns an.“

Vielleicht sollten wir uns wieder bewusst werden, dass all unser Wohlstand uns nicht wirklich reich macht. Eher gaukelt er uns eine Macht vor, die wir nicht haben. „Einen guten Freund erkennt man erst in der Not.“

Das gilt in Kambodscha genauso wie im besorgten Sachsen. Es tut gut, wieder diesem nur auf den ersten Blick scheinbar einfachen Wissen zu begegnen, von dem unsere Eltern und Großeltern noch so vieles parat hatten. Es hat seine Gültigkeit nicht verloren. Im Gegenteil. Es glänzt wie ein Schatz, wenn man es neben das wilde Gelärme der heutigen Zeit legt.

Und es erinnert einen daran, wie sehr gerade die Mühseligen und Beladenen über Jahrtausende bemüht sein mussten, sich aus dem Zoff der Mächtigen herauszuhalten und wenigstens in der Welt, in der sie lebten, den Frieden zu bewahren, wissend, wie wertvoll ein friedliches Miteinander ist.

Man lernt ein wenig die Seele Kambodschas kennen. Und bekommt gleichzeitig ein Buch in die Hand, in dem man immer wieder blättern und sich erden kann.

Und man stolpert, egal, wo man blättert, über so einfache wie erhellende Einsichten: „Die beste Erziehung ist die Erziehung zur Selbstkritik.“

So kann man anfangen. Es dämpft den eigenen Hochmut. Und man hat einen offeneren Blick für die Weisheit der anderen.

Na gut: Den Mächtigen von 1989 hätte das auch nichts genutzt, so wenig wie den Übermütigen von heute. Aber es gibt mehrere Kapitel zu Weisheit und Klugheit, in denen die uralte und stets vergessene Warnung steckt: Wähle nicht den Prahlhans zum Herrn, sondern lieber den Nachdenklichen, der auch seine Mitmenschen achtet: „Wie klug du auch sein magst, achte die Klugheit anderer!“

Vieles klingt so erstaunlich aktuell. Und ist es auch. Man merkt es freilich nur, wenn man sich auch nur für ein paar Momente aus dem Geplapper der Gegenwart ausklinkt und vergegenwärtigt, wie viel Weisheit in den Sprichwörtern der Völker steckt.

Gabriele und Ngen Yos Der Bambusspross wird zum Bambusstamm, Edition Winterwork, Borsdorf 2020, 11,90 Euro.

Die neue Leipziger Zeitung Nr. 81: Von verwirrten Männern, richtigem Kaffee und dem Schrei der Prachthirsche nach Liebe

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