Manchmal leben Städte von den Legenden, in denen sie eine Hauptrolle spielen. Das ist in Worms wie in kaum einer anderen deutschen Stadt der Fall. Hier nehmen die dramatischen Ereignisse des Nibelungenliedes ihren Anfang, zerstreiten sich die Königinnen, wird der Mord an Siegfried geplant und der Schatz der Nibelungen von Hagen von Tronje im Rhein versenkt.

Und so wird auch ein Rundgang durch Worms gewissermaßen eine Suche nach den Nibelungen, auch wenn natürlich aus der mutmaßlichen Handlungszeit der ursprünglichen Ereignisse aus dem 5. Jahrhundert nichts mehr zu sehen ist im heutigen Worms. Und auch die Ereignisse des Nibelungenliedes selbst, das im 13. Jahrhundert entstanden ist und bis heute als das eindrucksvollste deutschsprachige Epos gilt, lassen sich im heutigen Worms nur schwer rekonstruieren, auch wenn die Forscher sich alle Mühe gegeben haben, die Lokalitäten des 13. Jahrhunderts möglichst genau auszumachen.Und auf jeden Fall stammt der berühmte Dom aus dieser Zeit, auch wenn der Königspalast aus dem Lied wohl eher der benachbarte Bischofspalast war. Denn auch wenn der anonyme Autor Worms gekannt haben muss, hatte er logischerweise das Problem, sein Worms mit dem Worms der Burgunderzeit in Deckung zu bringen. Auch wenn die Geschichte einige historische Kerne hat, war sie dennoch mit 700 Jahren Abstand längst zum Sagenstoff geworden.

Was aber den Liebhaber dieser Dichtung, deren älteste Abschrift im 19. Jahrhundert entdeckt wurde, nicht hindert, in Worms auch wirklich belohnt zu werden für seine Nibelungenneugier. Das beginnt schon mit Station Nr. 2 auf dem von Tomke Stiasny gewählten Rundgang mit dem Nibelungenmuseum, das gleich zwei Sagas thematisiert: das eigentliche Nibelungenlied und dann auch noch, was Richard Wagner draus gemacht hat.

Und auch an späteren Stationen auf dem Weg begegnen einem die Figuren aus dem Nibelungenlied: am Siegfriedbrunnen zum Beispiel (Nr. 6), an der Stadtbibliothek, wo der Sänger Volker von Alzey gewürdigt wird (Nr. 7) oder mit diversen von Jens Nettlich geschaffenen Figuren zum Nibelungenlied wie dem „Streit der Königinnen“ (Nr. 8).

Eigentlich so eine richtig urmenschliche Dramengrundlage: Ein idiotischer Rangstreit, der in Rache, Hass und einem gewaltigen Blutbad endet. Man mag eigentlich nur stehen bleiben und den Kopf schütteln, denn genau so wird ja heute wieder jeder politische Wahlkampf inszeniert. Es geht nie um die Sache oder Inhalte, immer nur um Eitelkeiten und Demütigungen. Würden alle Zeitungsberichte dazu mit Wagner-Musik unterlegt, würde es aus allen Kanälen nur so schmettern und dröhnen.

Wüsste man nicht, dass es in anderen Ländern genauso ist, würde man ja auswandern wollen. Aber es hilft nichts. Das Nibelungenlied sagt alles über uns. Wir haben uns nicht die Bohne geändert. Und Wagners Interpretation hat es auch nicht besser gemacht. Im Gegenteil.

Da fällt sogar ein Luther heraus, der in Worms vor 500 Jahren nicht einmal den berühmten Spruch mit dem „Hier stehe ich …“ von sich gab. So eitel war er nicht. Nicht einmal er. Im Zusammenhang mit dem Heylshofpark, der auf dem Gelände des verschwundenen Bischofspalastes entstand und wo ein Denkmal an Luthers berühmten Auftritt in eben diesem Palast erinnert, zitiert Tomke Stiasny die Worte, die Luther  laut Protokoll wirklich sagte, Worte, die ihn auch als Theologen zeigen, der weiß, dass man sich auch als Forscher irren kann. Selbst dann, wenn man sich auf die Bibel berief. Nur die Bibel galt für ihn als Argument, damit sollten sie ihn widerlegen.

Aber das wollten und konnten die Päpstlichen nicht. Und provozierten in Worms genau das, was sie eigentlich verhindern wollten: die Spaltung der Kirche. Daran erinnert auch das berühmte – vom Dresdner Bildhauer Rietschel geschaffene – Lutherdenkmal (Nr. 23).

Womit man natürlich beim eigentlichen Anlass wäre, warum sich in diesem Jahr vielleicht die Reise nach Worms besonders lohnt. Denn Worms feiert durchaus Luthers Auftritt auf dem berühmten Reichstag, auf dem der Wittenberger Theologieprofessor am Ende für vogelfrei erklärt wurde, mit Verzögerung, wie sich Luthers eigentlicher Vorgesetzter, Friedrich der Weise von Sachsen, ausbedungen hatte.

Derweil ließ er Luther ja auf die Wartburg entführen, wo der von Einsamkeit und Völlerei Geplagte ja dann das Neue Testament übersetzte. Noch so ein Sargnagel für die alte, nicht reformierbare Papstkirche. Fortan konnte jeder in Deutschland, der lesen konnte, selber lesen, was im Buch der Bücher stand. In Luthers eindrucksvoller Sprache.

Es gibt tatsächlich was zu feiern in diesem Jahr. Und das lohnt sich in Worms erst recht, weil die über 2.000 Jahre alte Stadt auch noch zeigen kann, dass ein friedliches Zusammenleben der Religionen über Jahrhunderte möglich ist, wenn man die Macht nicht den Fanatikern und Fundamentalisten überlässt.

Mit dem Jüdischen Viertel (Nr. 29), der Synagoge (Nr. 30), dem Jüdischen Museum im Raschi-Haus (Nr. 31) und dem Jüdischen Friedhof „Heiliger Sand“ (Nr. 19) sieht man in Worms etwas, was die meisten deutschen Städte nach dem Wüten der Nationalsozialisten nicht mehr zeigen können.

Aber Worms erinnert auch an ein anderes Wüten, an das Wüten der Franzosen im Pfälzischen Erbfolgekrieg 1698, als sie nicht nur das Heidelberger Schloss zerstörten, sondern Worms komplett verwüsteten und brandschatzten, womit fast alle historischen Bauten auch aus der Zeit des Reichstags 1521 verloren gingen.

Der Nibelungenturm, den man am Ende noch auf der Rheinbrücke sieht, hat dann freilich mit den Nibelungen oder der Zeit des Nibelungendichters nichts zu tun, auch wenn er trotzig aussieht wie eine mittelalterliche Burg. Er ist gerade einmal 120 Jahre alt und erzählt vom damaligen Faible eines von Wagner und Mittelalter begeisterten Bürgertums für das Trutzige und Heldenhafte, das es so bereit machte für zwei trutzige und ebenso idiotische Kriege.

Das Hagendenkmal an der Rheinpromenade ist zwar jünger, stammt von 1932. Aber es ist regelrecht erleichternd nach all der Nibelungerei, wie der besonnene Hagen den ganzen goldenen Krempel in den Rhein schmeißt. Das ganze blendende Zeug, das die Menschen zu Narren und Tollköpfen macht und auch noch Macht verleiht. Dazu braucht es nämlich keinen „Ring der Macht“ wie bei Tolkien, sondern nur jede Menge Dukaten, mit denen man sich arme Schweine kaufen kann, die man dafür bezahlt, dass sie anderen armen Schweinen den Schädel einschlagen. Das hatten wir ja gerade bei Seume.

Aber spätestens hier unter diesem lustvoll ausholenden Hagen weiß man, auch das hat sich nicht geändert. Geschichte wird zu ziemlich großen Teilen von Machtgierigen, Rachsüchtigen und in ihrer Eitelkeit Gekränkten gemacht. Ohne diese Typen gäbe es deutlich weniger Kriege, Hungersnöte und gebrandschatzte Städte. Und weniger „Helden“ natürlich in Liedern und Geschichtsbüchern.

Womit man wieder beim gegenwärtigen Wahlkampf wäre und der geradezu fanatischen Sehnsucht deutscher Kommentatoren nach einem „Sieger im Strahlenkranz“, der sich die Bundeskanzlerschaft mit Heldenpose holt. Eine Kolumne in einer großen Zeitung bewahrt nun leider nicht vor anstudierter Dummheit.

Den Ländern und Völkern geht es meistens viel besser, wenn keine Helden oder Heldinnen regieren. Sondern Menschen, die fähig sind, Fehler einzusehen und zu korrigieren. Wobei ja das Nibelungenlied das allerbeste Beispiel ist dafür, was passiert, wenn man nur lauter Heldinnen und Helden hat, die unfähig sind, auch nur einmal „Entschuldigung!“ zu sagen

Man lernt erstaunlich viel, wenn man sogar nur lesend durch Worms spaziert. Schöne Freisitze erwähnt Tomke Stiasny leider nicht. Aber die muss es auch in Worms geben. Spätestens an der Rheinpromenade, wo man den Frieden genießen kann. Das tut man viel zu wenig in dieser Zeit. Denn es ist ein ganz besonderes Glück, in weniger heldenhaften Zeiten geboren zu sein. Das vergisst man viel zu oft, wenn einem mal wieder neue Heldengestalten schmackhaft gemacht werden.

Tomke Stiasny Worms an einem Tag, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2021, 6 Euro.

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