Eigentlich müsste es in der Schule mindestens eine Projektwoche geben, genau zu diesem Thema. In jeder Schulart. Denn wenn Menschen das verstanden haben, dann hören sie endlich auf von Wahrheit zu reden, ewigen Wahrheiten gar. Oder zu behaupten, sie wüssten, was wahr ist. Denn es gäbe nur eine Wahrheit. Ihre nämlich. Was dann meistens der Anfang ist dafür, dass Menschen sich gegenseitig die Schädel einschlagen.

Manchmal nur verbal. Oder in wissenschaftlichen Scheindebatten, bei denen man Thesen verteidigt, als wären es Bollwerke. Aber Wissenschaftler, die ihre Mission ernst nehmen, wissen um die Vorläufigkeit allen menschlichen Wissens. Und um die Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit. Um die auch schon die klügsten Autoren der Antike wussten. Allen voran Sokrates, dem meist der Spruch „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ in den Mund gelegt wird.

Den er so vielleicht nie getan hat. Aber die Dialoge, in denen Platon Sokrates auftreten lässt, erzählen genau von dieser Haltung: dem unermüdlichen Nachbohren, Hinterfragen, In-Frage-Stellen, mit denen Sokrates die Gewissheiten seiner Gesprächspartner so lange attackierte, bis die auch schon mal, bereit waren, das Gegenteil für richtig zu halten. Obwohl es die ganze Zeit nur darum geht zu klären, was den Befragten eigentlich die Sicherheit gibt, die Dinge so zu behaupten, wie sie es tun.

Gotteslästerung

Wenn aber das, was die Menschen in ihrer Trägheit als Gewissheit und Wahrheit verstehen, so hartnäckig hinterfragt wird, werden sie aggressiv. Dann ist der quälende Nachfrager am Ende schuld daran, dass sie das Gefühl haben, ihre Götter würden in Frage gestellt. Gotteslästerung! Mit diesem Vorwurf mussten kritisch denkende Menschen jahrhundertelang rechnen. Erst die Reformation nahm der Papstkirche im 16. Jahrhundert die Deutungsmacht und die Macht, menschlichen Erkenntnisfortschritt zu verbieten.

Weshalb die moderne Wissenschaft nicht ganz zufällig Ergebnis der Reformation ist. Worauf der Philosoph und Oxford-Professor Anthony Clifford Grayling so nebenbei auch kurz eingeht in diesem Buch, in dem er seine Leser mitnimmt in die Geschichte der Naturwissenschaft, der Geschichtswissenschaft und der Neurowissenschaften.

Auf allen drei Wissensgebieten gab es in den letzten 100 Jahren enorme Erkenntnisfortschritte, wurden die Grenzen des Wissens mit modernen technischen Möglichkeiten immer weiter hinausgeschoben. Beispielhaft in der Astrophysik und der Teilchenforschung. Wir haben uns schon so daran gewöhnt, vom Urknall, von Relativitätstheorie und Kernspaltung zu reden, dass wir glatt vergessen dabei, dass das alles gerade mal 100 Jahre zu unserem Wissensfundus gehört.

Bei Manchen auch nur als Stichwort, weil sie sich die Prozesse dahinter gar nicht vorstellen können.

Denn im Größten (der Kosmosforschung) und im Kleinsten (der Erforschung der Elementarteilchen) sind wir längst in Bereichen, die sich mit dem menschlichen Auge nicht mehr beobachten lassen und wo so verwirrende Fragen auftauchen, wie sie einst Heisenberg und Schrödinger formulierten: Was beobachten wir eigentlich? Und wie sehr verändert der Beobachter eigentlich das Beobachtete? Entstehen die gemessenen Phänomene gar erst durch die Messung?

Das sind Fragen, die unseren Menschenverstand natürlich in Alarmbereitschaft versetzen. Denn der ist für ein Leben in einem engen Spektrum konstruiert – als Jäger und Sammler im Wald und auf der Heide. Da ist Mammut Mammut und Speisevorrat für den Winter. Tiger ist gefährlich. Felle halten warm usw.

Wie entsteht Bewusstsein?

Wären wir dabei geblieben, würden wir heute noch durch Wälder streifen, Nüsse sammeln und ab und zu vielleicht, wenn mal wieder Waldbrand ist irgendwo, auch ein gebratenes Stachelschwein bekommen. Doch irgendetwas ist da geschehen – vor 40.000 Jahren vielleicht, vielleicht auch vor 300.000 Jahren, vielleicht sogar noch früher.

Ein Zufall, ein Unfall, irgendetwas, das im Gehirn des frühen Menschen etwas anrichtete, was ihn aus der Bahn warf und anfangen ließ, sich über die Dinge in der Welt Gedanken zu machen, Geschichten zu erfinden und am Ende sich auch noch seiner selbst bewusst zu werden. Womit schon eines der größten Rätsel benannt ist, an dem sich die Forscher seit gut 30 Jahren die Zähne ausbeißen: Wie entsteht das Bewusstsein eigentlich in unserem Gehirn?

Wenigstens sind sich die meisten inzwischen einig, dass es im Gehirn entsteht und nicht in der Milz oder im Herzen. Auch das ist ein Fortschritt, den Grayling im Teil III seines Buches zu „Das Gehirn und der menschliche Geist“ recht ausführlich schildert.

Denn er ist ja nicht nur erfahrener Professor, der weiß, dass die meisten Studenten mit sehr lückenhaften Vorstellungen von der Welt und von der Wissenschaftsgeschichte in den Vorlesungen auftauchen, sondern auch Autor von 30 weiteren Büchern. Auch bei den eigentlich interessierten Leserinnen und Lesern muss er davon ausgehen, dass sie über die Geschichte der Menschheit wenig wissen.

Was natürlich auch Gründe hat, zuallererst den Grund, den er zum Aufhänger seines Buches gemacht hat: Wir haben mittlerweile so viel Wissen angehäuft, dass es niemanden mehr gibt auf der Erde, der überhaupt noch einen Überblick über alles Wissen hat. Einen sogenannten Universalgelehrten.

Goethe könnte seinen „Faust“ heute gar nicht mehr schreiben, denn der könnte nicht mal behaupten, er habe nun, ach, alles studiert. Das wäre eine glatte Lüge. Doch je mehr wir wissen, so stellt Grayling nüchtern fest, umso mehr wird uns bewusst, was wir alles noch nicht wissen. Mit dem Wissen wuchs auch unser Wissen über unser Unwissen. Und es traten ein paar uralte Probleme zutage, die wir als Menschen nie wirklich ausschalten können.

Der Nadelöhrblick auf die Welt

Denn wir haben keinen direkten Zugang zur Welt, wie sie ist. Das liegt an unseren Sinnesorganen, über die wir in den letzten 300 Jahren auch eine Menge gelernt haben. Vieles davon bestätigte zum Beispiel einige höchst eindrucksvolle Gedanken der griechischen Philosophen. Man denke nur an Platons Höhlengleichnis. Auch wenn Platon noch keine Ahnung davon hatte, wie unsere Augen funktionieren und dass das Bild, das wir uns von der Welt machen, eine Konstruktion in unserem Gehirn ist.

Das ist eine vorzügliche Konstruktion für jedes Tier, das in freier Wildbahn lebt und blitzschnell reagieren muss, wenn sich die äußeren Eindrücke verändern. Aber auch unser Bewusstwerden über uns und unsere Welt baut auf diesen Konstruktionen auf. Flapsig formuliert, ist unser Bild von der Welt, eine Ein-Bildung. Die aber recht gut funktioniert. Was wir als Welt wahrnehmen, entspricht in der Regel auch dem, was wir sehen, anfassen, hören und riechen können.

Wie schwierig es freilich selbst mit den modernsten Methoden ist, herauszufinden, was da in unserem Gehirn tatsächlich passiert, wenn wir Dinge wahrnehmen, Emotionen verspüren, sehen, denken und uns etwas aus-denken, darüber erzählt das gesamte Kapitel zu den Neurowissenschaften. Das nicht ganz zufällig am Ende der drei Themenkomplexe kommt, denn es erklärt in gewisser Weise, warum sich auch die Naturwissenschaftler so schwertun mit dem Schaffen wirklich stimmiger Modelle der Welt.

Denn das vergessen auch viele Lehrer in den einschlägigen Fächern meist zu erwähnen, dass das, was wir heute als Wissen über Physik, Chemie, Biologie, Kosmologie usw. verstehen, vor allem Modelle sind, gebaut aus Thesen. Thesen, die möglichst präzise beschreiben, wie die Dinge höchstwahrscheinlich sind. Aber: Sie müssen jederzeit unabhängig überprüfbar sein, verifizierbar und falsifizierbar. Wir machen uns nun einmal ein Bild von der Welt, stellen Vermutungen darüber an. Und das Faszinierende an Wissenschaft ist, dass sie Modelle und Techniken entwickelt hat, wie wir diese Vermutungen überprüfen können.

Welches Wissen ist vertrauenswürdig?

Wir kommen so zu immer besseren Modellen der Welt. Aber nie zur Wahrheit. Grayling formuliert das Problem mit der Wahrheit so. „Wahrheit ist der Begriff für ein Ideal, auf das die Forschung mit allen Kräften hinarbeitet und an dem wir das Maß an Vertrauen messen, das wir zu unseren Erkenntnissen und unseren Thesen haben.“

Das heißt: Im Lauf der Zeit entstehen immer besser abgesicherte Erkenntnisse der Welt, wie sie wohl ist. Was etliche Zeitgenosen ja nur zu gern ignorieren, wenn sie der mühsamen und umfangreichen Arbeit der Wissenschaft einfach ihre Meinung entgegen setzten und dann so tun, als wäre ihre Meinung genauso belastbar wie die umfangreichen Forschungen der Wissenschaften. Eine nicht ganz unwichtige Frage in einer Zeit, in der Glauben und Ignoranz höchst gefährlich werden können.

Denn dann bestimmt Irrationalität unser Handeln, werden Emotionen zu Meinungen und „Wahrheiten“. Und wir bekommen eine Welt, in der die Mehrheit der Menschen sich von Emotionen leiten lässt, nicht von Rationalität. Man denke nur an die Klimafrage. Was Grayling durchaus skeptisch sein lässt, ob es diese Menschheit schaffen wird zu überleben. Denn sie steckt ganz offensichtlich mehr Energie und Geld in zerstörerische Waffensysteme und einen destruktiven fossilen Wohlstand, als alle Kräfte auf die Lösung ihrer Überlebensprobleme zu richten.

Wen kümmern denn die Enkel?

„Sollten wir aber der Meinung sein, wir heutigen Menschen würden in gewissem Sinne einen Endpunkt repräsentieren – und davon scheinen viele Diskussionen über die Vergangenheit unreflektiert auszugehen -, so würden wir uns täuschen.

Denn vermutlich wird sich die Menschheit, wenn sie ihre nahe Zukunft überlebt, weiterentwickeln, und Generationen einer fernen Zukunft werden uns und unsere Zeitgenossen für nicht sehr fortgeschritten halten, da Krieg, soziale und wirtschaftliche Ungerechtigkeit, Stammesdenken, Rassismus, Sexismus, Armut und ideologische Spaltungen nicht nur weiterhin existieren, sondern wieder auf dem Vormarsch sind“, schreibt Grayling im zweiten großen Teil seines Buches, in dem er sich damit beschäftigt, wie wir uns unsere Geschichte als Menschheit zeichnen.

Ein Kapitel heißt dann „Das ‚Hineinlesen‘ in die Geschichte“. Denn auch vielen Historikern war es bis in die jüngste Vergangenheit nicht bewusst, wie sehr sie die Geschichte, historische und archäologische Funde mit dem Blick des heutigen Menschen gesehen und damit interpretiert haben.

Ein Thema, mit dem sich ja auch die Historikerin Silvia Ferrara beschäftigt hat: Wie sehr lesen wir unsere Sicht auf die Welt in die faszinierenden Artefakte unserer Vorfahren hinein? Sind die Höhlenmalereien in Lascaux und Chauvet tatsächlich religiös zu verstehen, Teil von Höhlenkulten und Naturmagie? Oder nicht im Gegenteil nur der winzige Rest der Kunstwelt der Menschen von vor 25.000 Jahren, der nicht von Wind und Regen wieder vernichtet wurde?

Und waren all die Stonehenges und Woodhenges tatsächlich rituelle Opferplätze, als die sie lange interpretiert wurden? Lasen da die Archäologen nur die jüngere Sicht auf Religion in die viel älteren Fundstätten hinein, weil das so schön bequem und nahe liegend war? Wobei ja Ferrara auch darauf hinwies, wie sehr die frühe Kunst mit der Fähigkeit der damaligen Menschen zum Geschichtenerzählen, also mit Sprache und Bewusstsein zusammenhängt.

Übersteigt unser Universum unsere Vorstellungskraft?

Und besonders faszinierend werden Graylings Warnungen vor den falschen Interpretationen dessen, was wir messen und wahrnehmen, wenn er in die Welt der Elementarteilchen abtaucht, welche die meisten von uns ja als „Planetenmodell“ in der Schule kennengelernt haben. Und eng verbinden mit der Vorstellung richtiger kleiner Teilchen (wie Tennisbälle), die da um den Kern aus Protonen und Neutronen kreisen.

Nur ist auch das wieder ein Bild aus unserer für uns beschreibbaren Menschenwelt, das aber nicht wirklich mit dem übereinstimmt, was da auf atomarer und subatomarer Ebene tatsächlich vor sich geht. Und das ist ja nun einmal die Ebene, auf der fassbar werden könnte, aus welchem Stoff unser Universum tatsächlich besteht.

Mit allen daran hängenden, verblüffenden Fragen. Da berührt sich das Winzigste mit dem Gewaltigsten, die Teilchenforschung mit der Astrophysik. Inzwischen haben wir ja eine Vorstellung nicht nur vom Alter unseres Universums, sondern auch von der gewaltigen Menge von Galaxien. Jüngste Entdeckungen bestätigten Einsteins Relativitätstheorie immer wieder aufs Neue. Andere aber säen neue Zweifel: Gibt es doch noch Phänomene, die Einsteins Theorien nicht erfassen?

Möglicherweise ja. Die Kosmologen erleben dasselbe, was es auch die Forscher in anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen erleben: Sie kommen an die Grenzen dessen, was die bisher von genialen Köpfen erdachten Theorien erklären. Und statt im Sinne des seligen Dr. Faust irgendwann einen Haken dahinter machen zu können, weil wir jetzt alles herausgefunden haben über die Welt, tauchen immer neue und andere Fragen auf.

Was ist eigentlich Bewusstsein?

Was letztlich nun einmal damit zu tun hat, dass wir als Spezies in dieser Welt leben und immer nur den Ausschnitt erfassen können, der uns mit unseren irdischen Möglichkeiten erfassbar ist. So faszinierend unser zu Bewusstsein gekommenes Gehirn auch ist (wobei die Neurologen immer noch streiten darüber, was Bewusstsein eigentlich ist), so sehr spüren wir die Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit immer wieder, auch dann, wenn es uns mit ausgeklügelter Technik und immer neuen Experimenten gelungen ist, die uns von der Natur gesetzten Grenzen der Erkenntnis zu überschreiten und weitere Teile der Wirklichkeit in Modellen zu erfassen.

Aber da ist noch etwas, und das merkt Grayling am Ende auch noch mahnend an. Er nennt es auch gleich „Graylingsches Gesetz“. Denn auch im Umgang mit den so gewonnenen Erkenntnissen geht der Mensch gern irrational vor.

Das Gesetz besagt, „dass alles, was getan werden KANN, auch getan werden WIRD, wenn es für diejenigen, die es tun können, von Vorteil ist. (Die logische Konsequenz ist, dass Dinge, die getan werden können, NICHT getan werden, wenn sie für diejenigen, die sie verhindern können, mit Kosten verbunden wären – was erklärt, warum keine ausreichenden Maßnahmen zur Rettung des Planeten vor dem anthropogenen Klimawandel, zur Ausrottung von Krankheiten in armen Regionen der Welt und dergleichen mehr ergriffen werden.)“

Auch das ist eine Erkenntnis: Wie irrational Menschen handeln, wenn sie nur einen Vorteil dabei sehen. Selbst dann, wenn sie wissen, dass es katastrophale Folgen hat und künftige Generationen das alles ausbaden müssen.

Für neugierige Menschen, die sich sowieso schon für Geschichte und wissenschaftliche Entwicklungen interessieren, wird das Buch eine lesenswerte Begegnung mit ebendiesen sein. Samt Graylings liebevollen Hinführungen zu jenem Nadelöhr, durch das wir versuchen, die Gesamtheit der Welt zu begreifen.

Und dem, was wir wirklich wissen können. Was dann auf die wichtigsten Grundbedingungen von Wissenschaft verweist, die ihre Erkenntnisse immer wieder in Zweifel zieht und sie stets nur als augenblicklichen Stand des Wissens begreift.

Anders als Leute, die mit breiter Brust herumrennen und behaupten, sie hätten die Wahrheit.

A.C. Grayling „Die Grenzen des Wissens“, Hirzel Verlag, Stuttgart 2023, 34 Euro.

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