Als Zeichner ist der 1933 in Leipzig geborene Gerd Pötzschig kaum bekannt. Die Kunstfreunde haben ihn als Schöpfer farbenlodernder Bilder vor Augen und als Maler beeindruckender Stadtlandschaften. Aber so leicht festlegen lässt sich Pötzschig nicht. Die Kunstwissenschaftlerin Rita Jorek hat sich jetzt einmal sein umfangreiches Archiv mit Grafiken angeschaut. Denn Pötzschig betrachtet die Welt nun einmal immer mit den Augen des Künstlers.

Und so hat er sein Zeichengerät immer dabei, auch und erst recht auf großen Reisen. Denn was man unterwegs sieht, sieht man nur einmal, das ist Pötzschig nur zu bewusst, der an der HGB Leipzig sein Handwerk gelernt hat. Aber das Schauen hatte er schon vorher verinnerlicht.

Denn wenn man die Bilder in der Welt finden will, muss man einen Blick haben für das Besondere, das sich im Aquarell oder in der Zeichnung einfangen lässt. Möglichst schnell, um den besonderen Moment tatsächlich festzuhalten. Auch um später dann im Atelier daraus lodernde Bilder zu machen.

Viele Zeichnungen in Pötzschigs Archiv sind auch solche Vorlagen für später in Öl ausgeführte Bilder. So gesehen, ist Joreks Suche in diesem gewaltigen Bilderfundus auch eine Rekonstruktion, die sichtbar macht, wie Pötzschig mit wenigen deftigen Strichen die Idee für spätere Bilder festhält und das Bild eigentlich sogar schon im Kopf hat. Doch endgültig Gestalt nimmt es erst an, wenn er es auf der Leinwand in Farbe taucht.

Künstler ohne Schule

Und trotzdem haben all diese kleineren grafischen Arbeiten einen Eigenwert. Einige sind auch ganz klassisch bis ins Detail durchgearbeitet, entsprechen also auch dem Erwartungshorizont vieler Sammler. Und gleichzeitig machen auch diese Arbeiten – Radierungen zumeist – sichtbar, dass Pötzschig das Einzigartige sieht in einem scheinbar ganz alltäglichen Thema. Und ganz verzichtet hat er auf diese präzise Abbildung des Gesehenen auch nie.

Tatsächlich sieht man auch in seinem grafischen Werk, wie vielseitig er ist und dass dieser Künstler sich nicht festlegen lässt. Schon gar nicht auf eine Schule. Das macht ihn für die Kunstwissenschaftler schwer zu greifen. Wohin steckt man den Burschen, wenn er in keine Schule passt?

Da ist Pötzschig nicht der einzige Künstler aus Leipzig, dem das so geht. Aber vor seinen Bildern bleibt man stehen und taucht ein. Als hätte er tatsächlich einen von Leuchten und Tiefe erfüllten Moment nicht nur festgehalten, sondern geöffnet, sodass man als Betrachter hineintauchen kann, Lust bekommt, in die Tiefe des Bildes zu gehen und zu schauen, was dort noch so alles wartet.

Die Welt ist plastisch, jeder Ort hat ein Geheimnis. Und das muss man erst einmal lernen, auch so zu zeichnen.

Mit den Augen des Malers

Mit seinen Kreide-Grafiken von der Kleinmesse, die Pötzschig 1956 zeichnete, hat er sich diese Welt eröffnet und sich ganz bewusst gelöst vom klassisch feinen Zeichnen, das er an der HGB damals gelernt hat. In Zeiten, als eine keineswegs kunstsinnige Partei definierte, was „sozialistischer Realismus“ zu sein hatte. Also eine Art Stoppschild für aufmüpfige Künstler. Aber Pötzschig gehötr zu denen, die sich davon nicht stoppen ließen. Eine Partei kann nicht vorschreiben, wie ein Maler zu schauen hat.

Und die Kenner und Freunde von Pötzschigs Bildern begriffen es und liebten seine Bilder immer dafür, dass er ihnen das Sehen zeigte, die Lust am Erschauen einer erfüllten Welt. Das war auch im eingezäunten Ländchen möglich. Man musste nur den Mut haben, mit eigenen Augen zu sehen und sich auch vom Allergewöhnlichsten beeindrucken lassen – von einem Hinterhofspielplatz, einem Holzlager, einem alten Leiterwagen … Wer mit den Augen des Malers schaut, sieht, dass die Welt malerisch ist.

Und dass es sich lohnt, auch an miesen Wettertagen einfach die Augen offenzuhalten und das athmosphärisch Erlebte in sich einzusaugen, aus dem unsere Welt nun einmal besteht. Sie ist nicht flach und nicht stereotyp. Selbst wenn sich scheinar kein Lüftchen rührt, passiert Unerhörtes. Und Ungesehenes sowieso, weil sonst keiner hinschaut. Außer der Maler, der Zeichner, der Mann, der im kahlen Baum noch das Abenteuer des nächsten Frühjahrs sieht.

Den Moment festhalten

Wobei Rita Jorek ihre Auswahl tatsächlich mit den Grafiken beginnt, die den jungen Künstler zeigen, wie er sich in den 1950er Jahren sein Handwerk erobert und das präzise, klassische Zeichnen übt. Auch für seine Professoren, die sehr wohl wussten, dass intensive Naturstudien die Schüler lehren, wie man das Gesehene in Bilder verwandelt. Ganz akribisch, ganz genau.

Erst wenn man das verinnerlicht hat – und die Leipziger Hochschule war darin immer anspruchsvoll -, dann bekommt man auch die Lockerheit, die Pötzschigs spätere Arbeiten zeigen, das Gesehene eben nicht in stundenlanger akribischer Feinarbeit abzubilden, sondern in expressionistischer Wucht. Raum und Stimmung mit wenigen, genau gesetzten Strichen festgehalten. Vieles auf Vorrat für die intensiven Stunden im Atelier.

Vieles aber auch gültige Skizze, die für sich selber steht und erzählt, was geschah. Was der Betrachter bemerkte und festhielt. Sodass auch dem ungeübten Zuschauer nun als Bild deutlich wird: Es gab etwas zu bemerken und festzuhalten.

Das Beiläufige zeigt sich in seiner Besonderheit, in Licht und Schatten. Die man auch lernen muss zu beherrschen, denn sie schaffen erst die Tiefe im Bild, die Einladung, man könnte gleich diese Gasse in Buchara hinuntergehen oder sich mit dem Künstler auf die Veranda setzen. Italien kommt ins Bild, Sosopol und Mariza. Landschaften, die Pötzschig bereiste, immer den Skizzenblock dabei. Denn man weiß nie, was man zu sehen bekommt. Aber was man zu sehen bekommt, das sollte man festhalten.

Was wirklich wichtig ist

Und zwar nicht einfach mit einer Kamera, die das Schauen nicht ersetzen kann. Sondern mit dem Stift, der aufs Blatt bannt, was wirklich wichtig ist. Und was das Auge bannt. So gesehen ist der Band eine Einladung, mit Pötzschig das Bilder-Sehen zu erfahren.

Und gleichzeitig ist es eine Lebensreise, die einen Einblick gewährt in Pötzschigs großes Grafik-Archiv, in das bis jetzt noch nicht viele Leute Einblick nehmen durften. Und aus dem auch eher selten etwas in Ausstellungen zu sehen war. Dabei haben Pötzschigs Zeichnungen einen Eigenwert, deutlich über die Skizze für ein späteres Bild hinaus, wie Jorek betont.

Wer Gerd Pötzschig so noch nicht kannte, lernt ihn nun auch auf diese Art auch als Grafiker kennen. Und wird sicher auch Lust darauf bekommen, mal wieder mit Skizzenblock und Stiften loszuziehen, gespannt darauf, was man zu sehen bekommt, wenn man nur die Augen aufsperrt und die Welt als großes, erstaunliches Bild betrachtet.

Gerd Pötzschig „Aquarelle, Zeichnungen, Radierungen“ Sax-Verlag, Beucha und Markkleeberg 2024, 29,80 Euro.

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