Das nennt man wohl konsequent, wenn die Heldin der Geschichte am Ende die Graphic Novel (die 2022 auf deutsch erschien) selbst ins Englische übersetzt. Denn in „Rude Girl“ ist Priscilla Layne die Heldin, das Rude Girl Crystal, das rebelliert. Am Ende aber trotzdem eine akademische Laufbahn einschlägt, wo sie dann Birgit Weyhe begegnet, der auf einem Kongress amerikanischer Germanist/-innen gerade der Vorwurf der kulturellen Aneignung gemacht wurde.

Die Fronten sind schroff, oft völlig unübersichtlich. Oft geht es den Kombattanten mehr um Rechthaberei, Verurteilung und Ausgrenzung als um ein wirklich vielfältiges Bild vom Menschen und seinen vielen Kulturen, die sich schon immer gegenseitig befruchtet und durchdrungen haben. Oft entsteht die Faszination von Kunstwerken gerade erst dann, wenn Einflüsse aus anderen Kulturen übernommen und produktiv – jawohl – angeeignet werden.

Denn wenn das Künstlerinnen und Künstler nicht mehr tun, werden wir erst recht blind für den Reichtum der Anderen. Und Birgit Weyhe, die schon mehrere Graphic Novels aus ihrer eigenen Lebenserfahrung auch in Deutschland, Kenia und Uganda gezeichnet hat, hat mit „Rude Girl“ etwas gemacht, was auf seine Weise einmalig ist: Sie hat Priscilla Layne nicht nur gefragt, ob sie ihre Geschichte zeichnen könnte, sondern sie auch eingeladen, jedes einzelne Kapitel zu lesen und zu kommentieren, bevor es Teil des Buches wurde.

Falsche Identitätsdebatten

Denn es geht dabei nicht nur um die Geschichte von Priscilla Layne, die heute Professorin für Germanistik an einer amerikanischen Universität ist, sondern auch um die irren Debatten um Identität, die gar nicht erst seit Jüngstem für gesellschaftliche Konflikte sorgen. Debatten, die von den Radikalen immerfort angeheizt werden, um Menschen gegeneinander in Stellung zu bringen.

Doch wer nicht in die Stereotype passt, findet sich schnell zwischen allen Stühlen wieder – so wie Crystal, die aus der Karibik kam und ihre Jugend in Chicago verbrachte, wo sie schnell lernte, dass sie mit ihrer helleren Hautfarbe den einen nicht weiß genug, den anderen nicht schwarz genug war.

Und wer das in seiner Jugend so oder so ähnlich erlebt hat, der weiß, wie das kränkt und verletzt. Und wie es einen jungen Menschen zum Außenseiter macht. Da hat man die Wahl: Sich ducken und anpassen? Sich fügen in die Rolle, die einem andere einreden? Eine Reise nach England öffnet Crystal, wie sie in der Graphic Novel heißt, die Augen.

Gegen das, was sie in London erlebt, ist Chicago ein braves Nest mit Jugendlichen, die vor allem die Erwartungen ihrer Eltern zu erfüllen versuchen. Kein Vergleich mit den Skinheads auf den Londoner Straßen.

Bis sie dann Alice trifft, die ihr Mut macht, all die Erwartungen und Rollenbilder zu vergessen, ihr Outfit gründlich zu ändern und ein „Rude Girl“ zu werden und auf einmal eine Gemeinschaft zu entdecken, die sie einfach so akzeptierte, wie sie war. Eigentlich eine Geschichte, die viele junge Menschen erleben – und viele andere nicht, weil sie sich lieber fügen und lieber versuchen, so zu sein „wie alle“.

Nur um dann innerlich trotzdem dieselben Kämpfe auszuleben um all die Indikatoren des Dazugehörens von den richtigen Klamotten über die richtigen Eltern, den richtigen Urlaub … eine Stelle, an der das schöne Wort „Boring!“ auftaucht.

Denn das, was als Standard verkauft wird, ist in der Regel genau das: ermüdend, langweilig, Leben aus zweiter Hand und in fremder Leute Erwartungen. Weshalb eine Menge Menschen zwar alles tun, um Karriere zu machen – aber dabei ihr eigenes Leben nicht leben. Und die Angst nie loswerden, dass sie nicht so sein könnten wie all die, die die Deutungshoheit haben.

Vom Sich-selber-Finden

Und diese Unterschiede beginnen mit Hautfarbe (für die der Mensch nun einmal nichts kann), Geschlecht (für die der Mensch auch nichts kann), Sprache, Bildung, Klasse (für die eine auch nichts kann, erst recht, wenn die Gören der Reichen so tun, als gäbe es die krassen Klassenunterschiede gar nicht), mit Klamotten, Frisur, Musik

… Im Grunde ist Crystals Geschichte eine Geschichte vom Sich-Finden und vom Mutmachen, sein eigenes Leben zu leben, seinen wirklichen Interessen nachzugehen und die Menschen zu suchen, bei denen man sich wirklich gemeint und akzeptiert fühlt.

Wenn das alle täten, wären wir schon ein ganzes Stück weiter.

Aber Crystrals Geschichte erzählt eben auch davon, wie tief die rassistischen Vorurteile in vielen Menschen stecken. Und sie erzählt auch davon, wie sehr sich das von Land zu Land unterscheidet. In London und Berlin erlebt Crystal eine ganz andere Akzeptanz als in Chicago. Und überrascht darf man sein, wie heftig ihr der amerikanische Elite-Dünkel an der Uni Berkeley begegnet. Doch Crystal weiß da längst: WIE man sich als Schwarze fühlt, hängt von vielen Faktoren ab – von Klasse, Religion, Bildung, Sexualität …

Das wird immer wieder zugewischt, wenn Rassismus alle dunkelhäutigen Menschen in eine Schublade steckt (und alle weißen übrigens auch) und die Unterschiede, die es genauso bei weißen und hellhäutigen Menschen gibt, einfach ignoriert. Und darum geht es eigentlich in einer offenen, menschlichen Gesellschaft: Die vielen Unterschiede zu sehen und sie als Reichtum zu begreifen.

Erst dann beginnt man, die Diskriminierungen nicht mehr zu akzeptieren und den Rassismus als eines der schlimmsten Übel zu verstehen, die unsere Gesellschaft so grausam und gnadenlos machen.

Karl Marx lässt grüßen

Jeder Mensch zählt. Und so lernt Crystal eben auch, dass sie – ihrer Familie sei Dank – sogar privilegiert ist auf ihre Weise, denn nicht wirklich viele Mädchen aus der Karibik können an eine amerikanische Elite-Universität studieren. Und gleichzeitig merkt sie, dass sie trotzdem aufgrund ihrer Klasse ausgegrenzt wird.

Karl Marx lässt grüßen, dieser Rauschebart aus Trier, der in den USA augenblicklich mehr gelesen wird als an deutschen Wirtschaftslehrstühlen, wo man sich seit Jahrzehnten beharrlich weigert, Ökonomie mit Soziologie zusammenzudenken.

Und mit Birgit Weyhe hat Priscilla Layne eine Autorin an der Seite, die sich über all diese gesellschaftlichen Unterschiede selbst sehr wohl Gedanken gemacht hat – auch aus eigener familiärer Erfahrung. Auch die Kinder der Weißen sind nicht automatisch privilegiert. Die wirklichen Begegnungen beginnen genau da, wo wir alle unsere eigene Story erzählen.

So wie es Crystal in dieser Graphic Novel tut. Und ein Stück weit auch die Zeichnerin Birgit Weyhe selbst. Erst dann begegnen wir einander tatsächlich und merken, welcher Reichtum an Geschichten da um uns herum brodelt, den wir nur deshalb nicht sehen, weil wir eine dicke Brille aus Vorurteilen und Stereotypen auf der Nase tragen.

Birgit Weyhe „Rude Girl“ Translated by Priscilla Layne, Translated by Priscilla Layne, Voland & Quist, Berlin und Dresden 2024, 28 Euro.

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