Es ist eigentlich das Jahr von Marc-Uwe Kling. Aber dann kam Corona. Als die Verfilmung seiner „Känguru-Chroniken“ ins Kino kommen sollte, schlossen die Kinos. Und nicht nur die Känguru-Chroniken machen Furore (und finden auch trotz Corona zu Zuschauern und Lesern), sondern auch sein 2017 veröffentlichter Roman „QualityLand“, für den Kling just 2020 den Folgeband angekündigt hat. Wer „QualityLand“ noch nicht kennt, dem hilft jetzt der erste Comic dazu auf die Sprünge.

QualityLand“ erschien 2017 gleich in zwei verschiedenen Ausgaben – einer hellen für Optimisten und einer dunklen für Pessimisten. Das Buch war von Anfang an mehr als ein sogenannter Science-Fiction-Roman oder eine Dystopie. Es gehörte in eine Kategorie, in der ein paar Schriftsteller zu Hause sind, die in kein Raster passen, weil sie nie für ein Raster geschrieben haben, also auch nicht für einen „Markt“ oder die Kastenwelt der Buchbesprecher.

Einer wird in „QualityLand“ immer wieder zitiert: Kurt Vonnegut. Die anderen darf man im Hinterkopf behalten: Ray Bradbury und William Gibson.

Ihr Talent: Das, was sie tagtäglich erleben, tatsächlich logisch weiterzudenken. Ohne den irren Glauben, mit Technik könnte man alle Probleme lösen. Die Zukunft wäre friedlich und voller Wunder. Und was der rosaroten Blasen mehr sind. Denn einer ändert sich eben leider nicht: der Mensch.

Er bleibt ein machtbesessenes und opportunistisches Wesen, egozentrisch, nur auf seinen Vorteil bedacht, liebedienerisch, zu Selbstbetrug neigend, und ansonsten blind für die Folgen seines Handelns. Corona-Pandemie und Klimakrise beweisen es zur Genüge. Wobei das ja nur die derzeit die Schlagzeilen dominierenden Krisen sind.

Bei Demokratie, Medien, Gesundheitswesen geht es ja weiter. Oft genügt einfach nur ein bisschen Nachdenken über das, was es jetzt schon alles gibt, um sich genau die Welt ausmalen zu können, in der Klings Held Peter Arbeitsloser leben muss. Eine Welt, in der nicht nur alles personalisiert ist und riesige Digitalkonzerne das komplette Leben der Menschen „optimieren“ und „immer besser machen“, weil sie alle Daten auslesen und den Kunden schon ihre Wünsche erfüllen, bevor die auch nur dran gedacht haben.

Und Karriere machen in dieser Welt Menschen, die sich bereitwillig auf dieses System einlassen und Punkte sammeln und immerfort Bewertungen abgeben. Das ist alles schon da. Alle die heute schon existierenden digitalen Plattformen haben Bewertungen zur Währung gemacht, zum Maßstab für Erfolg und Happiness. Von Facebook bis Uber, von Amazon bis AirBnB.

Was die meisten Nutzer nicht einmal begreifen als ein System, das eben nicht nur Angebote hochrankt, sondern damit auch das Denken in die Köpfe bringt, dass alles, wirklich alles immerfort bewertet und gerankt werden muss. Aus der Bewertung von Produkten sind längst schon Bewertungen für Dienstleistungen und Menschen geworden.

Das war auch dem alten Karriere- und Wettbewerbssystem nicht fremd. Aber mit der Aufforderung an alle digitalen Konsumenten, selbst immerfort zu bewerten und damit auch Richter zu spielen, wandert das System in die Köpfe und ins Selbstbild der Menschen. Die Optimierungswelle hat längst eine neue Stufe erreicht. Längst tun Millionen Menschen alles, um ihr Profil in den digitalen Netzwerken zu optimieren, sich dem mit hoher Punktzahl verbundenen Schönheits- und Erfolgsmodell anzugleichen.

Diese Optimierung, die eigentlich zu einer permanenten Normierung und Anpassung an ein werbeträchtiges Schönheitsideal geworden ist, macht Menschen abhängig. Denn wenn die Währung für den richtigen Auftritt die Bewertung auf digitalen Plattformen ist, verliert der Mensch seine Verankerung in einer Wirklichkeit, die Menschen eigentlich nicht nur nach ihrer Perfektion beurteilt.

Aber merken es die Betroffenen noch? Oder gewinnt diese Komplettvermarktung bis in die menschliche Persönlichkeit einfach durch die schiere Menge und das Suchtpotenzial der Plattformen eine stille, nicht mehr zu bremsende Macht?

In „QualityLand“ lässt Marc-Uwe Kling zumindest einige seiner Protagonisten aufbegehren, weil ihnen diese Anpassung an den freundlich lächelnden Druck der Avatare und Algorithmen bis ins Innerste zuwider ist. Angefangen mit diesem Peter Arbeitsloser, der so heißt, weil irgendwann die Regierenden beschlossen haben, jeder Mensch solle nach dem Beruf heißen, den die Mutter zum Zeitpunkt der Geburt hatte. Verkauft wurde das natürlich als ein Schritt zur Gleichberechtigung.

Gleichzeitig werden die Staatsbürger fortwährend selbst bepunktet, wird jede ihrer Handlungen danach bewertet, wie gut sie für die Angebote der schönen neuen Welt (den Konsum und die „Wirtschaft“) optimiert sind. Nicht ganz so wie heute in China schon (so sehr weit weg von der schon erreichten Realität war Marc-Uwe Kling 2017 nicht), sondern eher wie auf den bekannten Plattformen made in USA, wo der Nutzer-Konsument für seine kostenlosen Dienstleistungen mit hohen Bewertungen belohnt wird, mit Followern, Friends und was der Ersatz-Freundschaften mehr sind, die immer mehr Menschen in der Realität nicht mehr haben.

Wobei das satirische Element bei Kling die Existenz von Drohnen, Androiden und Kampfrobotern ist, die so hochentwickelt sind, dass sie menschliche Schwächen wie Flugangst, Mitgefühl, Versagensängste und Sehnsucht nach Trost entwickeln.

Alles Eigenschaften, die den Menschen in der Welt des Soloselbstständigen Peter Arbeitsloser zunehmend abhanden gekommen sind. Menschen, die das neue Erfolgsdenken so verinnerlicht haben, dass sie ohne Nachdenken auch ihre Partnerschaften aufs Spiel setzen, weil ihnen „QualityPartner“ noch besser passende Partner verspricht, wenn sie sich nur anmelden.

Sage niemand, dass er mit solchen von Ehrgeiz getriebenen Menschen noch nie zu tun hatte. Und auch nicht mit den freundlichen Absagen von diensteifrigen Angestellten, deren Grundausbildung darin besteht, den Kunden einzureden, dass sie keine Rechte und keine Ansprüche haben, was ja in seitenlangen kleingeschriebenen AGBs nachzulesen ist.

Wer das Buch noch nicht hat, der könnte es sich ja besorgen. Wer eher ein Augenmensch ist, für den gibt es mit dieser „Graphic Novel“ einen genauso mitreißend-beklemmenden Einstieg in die Welt von QualityLand, in dem ein Androide namens John Of Us auf einmal der Hoffnungsträger für eine menschlichere Zukunft wird als Herausforderer eines menschenverachtenden Präsidentschaftsbewerbers, der aus seiner Verachtung für die „Nutzlosen“ kein Hehl mehr macht.

Auch das, wie man weiß, längst Realität. Wir leben mittendrin in dieser Welt, in der die alten Machtgierigen die übelsten Argumente aus der rassistischen Mottenkiste wieder hervorholen und sich Plattformbetreiber wie Mark Zuckerberg als die Schöpfer einer neuen, besseren Welt verkaufen. Beide regelrecht besessen davon, die Welt, so wie sie noch ist, aus den Angeln zu heben.

Mit dem aus Benton in den USA stammenden Zeichner Zachary Tallent hat Kling nun einen kongenialen Partner für seine Story gefunden, auch wenn natürlich der komplette Band „QualityLand“ nicht in eine Graphic Novel gepasst hätte. Deswegen erscheint jetzt erst einmal Band 1.1 von „QualityLand“ als Graphic Novel, in dem Tallent der durchdigitalisierten Welt von QualityLand Kontur gibt.

Teilweise erinnern die Bilder natürlich an bekannte dystopische Stadtlandschaften. Aber die haben wir ja auch schon längst. Die moderne Architektur kennt kaum noch andere. Gebäude werden zur technischen Kulisse für eine Welt, in der Menschen immer mehr zum Teil virtueller Landschaften werden.

Was übrigens auch eine Frage des Designs ist. Denn nicht nur die Präsidentschaftskampagne von John Of Us muss designt werden. Genauso die vielen digitalen Geräte, Bildschirme und Angebote, die auch diesen Peter Arbeitsloser nie zur Ruhe kommen lassen und ihn permanent dazu zwingen zu reagieren, Bewertungen abzugeben, sein Ranking zu prüfen oder Bezahl-Küsse abzugeben. Was augenscheinlich Persönlichkeitsdiebstahl nicht verhindert, sondern geradezu erst ermöglicht.

Es hilft wirklich, sich diesen nachdenklichen Marc-Uwe Kling vorzustellen, wie er mit dem renitenten Känguru von gegenüber am Küchentisch sitzt und mit ihm darüber diskutiert, was diese ganzen blinkenden Kleingeräte eigentlich mit uns machen, mit unseren Beziehungen und unserer Art, über die Welt und über andere Menschen nachzudenken.

Kann es sein, dass alle diese Rankings nichts anderes sind als die moderne Form eines Faschismus, der seine Verachtung für die Nicht-Optimierten darin ausdrückt, dass er ihren Status in den Keller drückt?

Bleiben am Ende tatsächlich nur noch psychisch angeknackste Androiden als Gesprächspartner, die nicht nur zuhören, sondern auch verstehen, warum ein Mensch wie Peter Arbeitsloser immer wütender wird auf die verlogene Welt von TheShop, QualityPartner und MyRobot? Eine Welt, die Menschen zur fortwährenden Optimierung zwingt, wenn sie ihren Status behalten wollen?

Und: Ist das eigentlich neu? Oder feiert da eine Fehlentwicklung ihren Siegeszug, die schon immer Menschen in „Leistungsträger“ und „Minderleister“ unterschieden hat? Und die die Spielräume für Träumer, Unangepasste, Eigensinnige und Nachdenkliche immer kleiner hat werden lassen? Bis sie immer mehr in Bereiche abgedrängt wurden, in denen sie längst zum Prekariat gehören, so wie all die Soloselbstständigen, die jetzt auf einmal Thema wurden, weil der Corona-Shutdown gezeigt hat, wer in diesem Land wirklich immer an der Kante lebt. „QualityLand“ zeigt nicht die Zukunft, sondern das, was in unserer Gegenwart längst da ist.

Bis ins Design hinein, über das oft falsch geredet wird, als wäre Design etwas besonders Kreatives und nicht in Wirklichkeit das Gegenteil davon: Die standardisierte Verpackung optimierter Produkte, die die Konsumenten zum Funktionieren und Zugreifen bringen sollen. Etwas, womit nicht nur Tallent spielt, wenn er perfekt gezeichnete Designs in seine Bilder baut, sondern das ganze Buch, in das auch wieder die honigsüß verlogenen Werbeseiten eingebaut sind, die man schon aus der Romanveröffentlichung kennt.

Wer also eine ordentliche Portion Ernüchterung über den Zustand unserer Gegenwart zu sich nehmen will, der sollte zugreifen. Das Buch ist wie eine Tasse hochcoffeinierter Kaffee, der einem die verlogenen Werbebotschaften aus dem Kopf pustet und vielleicht daran erinnert, dass es wahrscheinlich keine gute Idee ist, Menschen immer weiter zu optimieren, ohne zu wissen, was am Ende dabei herauskommen soll außer ein willfähriger und komplett durchleuchteter Konsument, über den die übermächtigen Konzerne alles wissen, wirklich alles.

Spätestens dann, wenn man die Narren an ihren Endgeräten auch noch dazu bringt, all ihre Profile und Bestellungen zu personalisieren. Das ist genau jenes Wörtchen, über das Marc-Uwe Kling nachgedacht hat, als „QualityLand“ in seinem Kopf geboren wurde. Denn was bleibt von der so oft beschworenen Freiheit eigentlich übrig, wenn die großen Glückskonzerne alles, wirklich alles über dich wissen?

Es ist höchste Zeit, darüber einmal nachzudenken. Und zwar länger als sechs Sekunden.

Marc-Uwe Kling QualityLand, Graphic Novel, Voland & Quist, Berlin, Dresden und Leipzig 2020, 18 Euro.

Der zweite Falsche Kalender, der die Worte berühmter Sprücheklopfer anderen Sprücheklopfern in den Mund legt

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