Helfen Dystopien? Sind sie Warnung genug? Erreichen Sie die Richtigen? Man weiß es nicht. Denn selbst wenn Dystopien wie „Schöne neue Welt“ oder „1984“ zeigen, was droht, wenn Ideologien die Macht übernehmen und den Menschen zur kontrollierten Verfügungsmasse machen, arbeiten trotzdem Leute daran, immer neue Träume absoluter Kontrolle zu verwirklichen. Nicht nur in China. Eine Ahnung genügt, was daraus entstehen kann, und es entsteht ein beklemmender Roman daraus, der warnen sollte.

Denn es sind nicht nur Technokraten und Autokraten, die von der absoluten Kontrolle träumen. Es sind auch unsere heimische Populisten, die Wahl um Wahl auf Bauernfängertour gehen und den Wählerinnen und Wählern das Bild einer „heilen Welt“ einreden, von Heimat, Familie und „Umvolkung“ schwadronieren, ihre Gier nach der absoluten Macht als Demokratie verkaufen und gegen Gender-Studies und „Political Correctness“ tönen.

Schleichend bringen sie ihr postfaschistisches Gedankengut in Umlauf, geben sich als besorgte Bürger aus und schüren das Misstrauen in all das, was Demokratie erst ausmacht.

Was dabei herauskommen wird, wenn diese Leute zum Zug kommen sollten, erzählt Nora Burgard-Arp in ihrem Buch. Diesmal nicht aus der Innensicht einer Partei, die sich im Machtgerangel zunehmend radikalisiert, wie es Ferdinand Schwanenburg in seinem Buch „Machtergreifung“ getan hat.

Sondern aus Sicht einer Frau, die sich für selbstbewusst und emanzipiert hält, auch ihre Ehe für gleichberechtigt hält – und auf einmal merkt, dass die Phrasen im Parteiprogramm einer LfD, die sich in diesem Buch dann gar noch zur SfDD („Sieg für Deutschland und die Deutschen“) mausert, eben keine leeren Sprüche sind, sondern ernst gemeint.

Ein Bild von glücklicher Liebe

Diese Leute wollen die absolute Kontrolle. Über jeden einzelnen Bürger. Und jede Frau. Noch während Mathilda studiert, weil sie einmal Journalistin werden will, werden Frauen aus dem Berufsleben verdrängt, verschwinden kritische Professorinnen und wird eine Politik, durchgesetzt, die Frauen wieder an den Herd verbannt und zur „Gebärmaschine“ macht.

Das alte Bild von „deutscher Familie“ feiert fröhliche Urständ. Doch Mathilda nimmt es nicht ernst, glaubt mit dem schönen Finn die Liebe ihres Lebens gefunden zu haben und versteht auch nicht, warum ihre Mutter und deren Freundin jetzt das Land verlassen haben. Es ist doch alles in Ordnung, oder?

Nichts ist in Ordnung. Das weiß Mathilda spätestens, als die Frauen per Dekret regelrecht verdonnert werden, an wöchentlichen Frauenstammtischen teilzunehmen, bei denen es scheinbar nur um Geselligkeit geht, in Wirklichkeit aber um die Kontrolle ihrer Bereitwilligkeit, Kinder zu bekommen.

Aber Mathilda will keine Kinder bekommen, will sich nicht zur „Gebärmaschine“ machen lassen. Sie manipuliert die App auf ihrem Handy, die ihren Monatszyklus überwacht. Die neuen Machthaber haben längst verstanden, wie sich die heutige Technik nutzen lässt, um Menschen vollkommen unter Kontrolle zu bekommen.

Die Geräte registrieren jedes Verlassen des zugewiesenen Wohnbereiches. Sind die Frauen auch nur für eine Weile nicht dort zu erreichen, wo sie sein sollten, tauchen Kontrolleure auf.

Eigentlich weiß Mathilda, dass von den durch jahrzehntelangen Kampf für Emanzipation erreichten Rechten nichts mehr übrig ist. Die neuen Machthaber haben das Misstrauen allgegenwärtig gemacht. Niemandem ist mehr zu trauen, nicht mal der engsten Freundin.

Alles kann verraten werden. Und Frauen, die sich dem Kinderkriegen verweigern oder gar Abhilfe suchen, das ungewollte Kind loszuwerden, werden von rabiaten Polizisten abgeführt. Verschwinden einfach. Lebenslänglich.

Der Schatten der Gegenwart

Denn das Beklemmende an Diktaturen ist immer wieder, dass die Staatsapparate nur zu bereitwillig weiterfunktionieren. Befehl ist Befehl. Protest wird einfach niedergeschossen. Als Mathilda merkt, dass ihr Abtreibungsversuch vielleicht doch nicht gut ausgegangen ist und sie Hilfe braucht, wird ihr endgültig klar, dass ihr Dableiben ein Fehler war.

Der ach so einfühlsame Finn ist ihr keine Hilfe. Im Gegenteil: Er ist längst Teil der Macht, profiliert sich gerade als „Bildungsreformer“, der alles zurückdreht, was das Bildungssystem in den letzten Jahren etwas weltoffener gemacht hat. Es ist seine kleine Macht, auf die er so stolz ist, wie es so viele Männer sind, wenn sie sich in den schlimmsten Bullshit-Jobs nach oben boxen.

Nora Burgard-Arp ist durchaus klar, dass die Autokratie genau so funktioniert und nie völlig verschwunden war. Sie steckt in Hierarchien und falschen Männerbildern. Und sie steckt in den Denkweisen eines reichen Mittelstandes, der seine Verachtung für die Underdogs bis heute auch mit einem latenten Rassismus, einem Übelegenheitsdünkel und gelinder Frauenverachtung paart.

Auch dem begegnet Mathilda schon früh bei Finn und seinen Freunden. Jetzt, wo sie die Tage fast nur noch im Bett verbringt, kommen ihr all diese Szenen wieder in Erinnerung, die ihr auch zeigen, wie blind sie in ihrer Liebe war, dass sie sich von diesem schönen Erfolgsmenschen aus einer reichen Mittelstandsfamilie immer auch hat täuschen lassen. Da Nora Burgard-Arp ihren Roman im Jahr 2037 spielen lässt, ist Noras Studienzeit, als sie Finn kennenlernte, unsere Gegenwart.

Heile Welt

Man entdeckt Vertrautes wieder und merkt, dass die Denkweise der Radikalen sehr viel mit den Heile-Welt-Vorstellungen eines konservativen Bürgertums zu tun hat, das seinen Konservatismus auch noch für das Normale hält, nach dem sich alle zu richten haben.

„Es war gut, konservativ zu sein. Zumindest was Liebe und Beziehungen anging. Das wurde den jungen Frauen von den meisten Eltern und Lehrern immer wieder gesagt. Und es wurde ihnen vorgelebt, wie eine richtige Liebesbeziehung auszusehen hatte: in den Filmen und Serien, die sie schauten, in den Zeitschriften und Büchern, die sie lasen, und in der Musik, die sie hörten.“

Das ist der Background zu Mathildas „glücklicher Beziehung“ zu Finn, über die sie nun, da die Dinge sich so völlig verändert haben, anders zu denken beginnt. Und hinterfragt, ob das überhaupt Liebe war oder nur die Erfüllung der Erwartungen, wie eine glückliche Beziehung auszusehen hatte.

Von der jetzt sichtlich nichts mehr übrig ist, denn das Lügen und Ausweichen, das Vermeiden jeder wirklich angreifbaren Aussage, beherrschen nicht nur die Gesellschaft und den Frauenstammtisch. Sie dominieren auch in den glatten und leeren Unterhaltungen Mathildas mit Finn und ihren Freundinnen.

Wem kann sie noch trauen? Der Verrat ist allgegenwärtig. Denn Finn braucht nur eine E-Mail an die Chefin des Frauenstammtischs senden und Mathilda wird zum Objekt, muss sich zu gynäkologischen Untersuchungen kommandieren lassen und steht in Gefahr, als Schwerkriminelle bestraft zu werden, wenn etwas gefunden wird.

Schönes Heim, glückliche Ehe

Und nun wird ihr nur zu deutlich, dass sie es immer gewusst hat, dass auch ihr geliebter Finn nie anders gedacht hat. Dass er „die Frau an seiner Seite“ eigentlich auch nur als „Mutter seiner Kinder“ betrachtet hat. Wie das wahrscheinlich viele Männer heute tun, die sich ihrer Arbeit und der Karriere verschreiben und mit dem verdienten Geld „ihr Haus, ihr Auto, ihre Frau“ finanzieren.

Wahrscheinlich merken das Frauen früher als die so von einem Heile-Welt-Bild besessenen Männer, wie falsch das alles ist. Und wie entwürdigend, selbst wenn sie sich da hineinschicken und selbst alles tun, das Bild zu erfüllen. Selbst dann, wenn sie dabei alles aufgeben, was sie einmal selbstbewusst und unabhängig gemacht hat.

Finns Vorstellung von Ehe und Familie passt nur zu gut in die Welt, die sich LfD und SfDD ausmalen. Er stört sich nicht daran, dass Frauen wieder entrechtet werden. Im schönen Eigenheim hält er noch den Anschein einer glücklichen Ehe aufrecht, der die staatliche Willkür da draußen nichts anhaben kann.

Obwohl er selbst längst Teil dieser Willkür ist und nur zu bereit, die eigene Frau ans Messer zu liefen. Denn so funktionieren Diktaturen. Sie schaffen erst die offiziellen Begründungen dafür, warum Menschen entrechtet und gedemütigt werden dürfen.

Warum Gewalt gegen Machtlose legitim ist und Einmischung ins Privatleben ein Polizeirecht. Diktaturen beginnen immer im Kopf, in den Vorstellungen von Menschen, die meinen, dass andere Menschen kontrolliert werden müssen und ihre Rechte beschnitten werden sollten.

Das Denken über Ungleichheit ist tief in unserer Gesellschaft verankert. Auch darum dreht sich letztlich dieser Roman, denn die Verachtung der Demokratie tarnt sich ja auch als „gesundes Misstrauen“. Auch bei Finn.

„Mathilda bewunderte Finn für seine politische Leidenschaft, dafür, dass er nie einfach etwas hinnehmen wollte. Er nannte sich selbst einen ‚unverbesserlichen Weltverbesserer‘ und einen ‚leidenschaftlichen Hinterfrager‘. Er weigerte sich, ‚angebliche Tatsachen als Tatsachen anzunehmen‘, sagte er regelmäßig, und dass er ‚immer hinter das Offensichtliche‘ schauen wolle.“

Verlogene Selbstbilder

Nur sich selbst hinterfragt er nie. Im Gegenteil. Als er den Chef der SfDD reden hört, ist er voll Jubel und Begeisterung. Nichts mehr mit „Hinterfrager“. Es ist unsere Gegenwart, die in diesen Roman hineinspukt. Es sind unsere heutigen schönen Finns, die sich als große Hinterfrager aufspielen, aber eigentlich nur ihre Verachtung für andere damit kaschieren.

Die auch nicht merken, dass es nur ihr Geld und ihre Privilegien sind, die ihnen einen besseren Status verschaffen. Auch bei den Mädchen, die ja genauso trainiert sind auf das Bild einer heilen und glücklichen Familie.

So gesehen: ein bitterer Roman, der auch die verlogenen Selbstbilder eines reichen Mittelstands hinterfragt, der sich für das Maß alle Dinge hält, letztlich aber alles nach Reichtum, Status und Besitz bemisst. Und das tatsächlich auch mit einem Besitzdenken gegenüber Frauen und Kindern verbindet.

Am Ende findet Mathilda Hilfe. Aber von völlig unerwarteter Seite. Denn nicht alles haben die neuen Machthaber ausmerzen können. Auch wenn ihre Kontrolle fast lückenlos erscheint. So lückenlos, dass jeder Protest unmöglich erscheint, jede auch nur „innere Rebellion gegen das Regime“. Und Regime, die genau so funktionieren wollen und Frauen systematisch entrechten, gibt es derzeit genug zu besichtigen auf der Erde. Eigentlich Warnung genug.

Aber die Finns in dieser Welt tun ja gern so, als wären die heimischen Populisten nicht so schlimm wie die, die anderswo schon regieren. Als wäre das nur Gerede und Show. Als wäre das nicht ernst gemeint, wenn diese Leute gegen Emanzipation, Migration und Integration wettern und das Bild eines gesäuberten Staates entwerfen, in dem alles wieder zu den heiligen Werten von früher zurückkehrt. Als Frauen noch die Kinder produzierten und Männer die Macht allein in Händen hielten.

Wir doch nicht!

So gesehen hat Mathilda sehr lange gebraucht, um zu begreifen, wo sie da hingeraten ist und wie sehr sie die offenkundigen Zeichen in ihrem Umfeld ausgeblendet hat, nicht sehen wollte. Als könnte das ausgerechnet ihr nicht passieren.

„Wir doch nicht!“ Oder: „Uns kann sowas nicht passieren!“ Dieser selige Glaube der Angepassten und Erfolgreichen daran, dass die Zumutungen der neuen Radikalen ja doch nur die anderen betrifft, mit denen man ja nichts zu tun hat.

Doch diese Sicherheit trügt. Hat schon immer getrogen. Mathilda erfährt es nun am eigenen Leib. Ein dystopischer Roman, auch ein verstörender, weil die Zutaten zu dieser Dystopie alle schon existieren. Dass es tatsächlich um Leib und Leben geht, merkt Mathilda just in einem Moment, in dem sie sich nicht mehr darauf verlassen kann, dass ihr geholfen wird.

Denn was bleibt an menschlicher Zuwendung und Hilfsbereitschaft übrig, wenn staatliches Misstrauen alles durchdringt und selbst das Intimleben kontrolliert wird auf Gesetzestreue? Nichts. Fast nichts.

Ein Roman zum Wachwerden. Zumindest für jene, die ihn auch lesen und sich nicht einlullen lassen von dem trügerischen Gefühl: „Uns betrifft das ja nicht.“

Nora Burgard-Arp Wir doch nicht Katapult Verlag, Greifswald 2022, 22 Euro.

Termintipp: Am Mittwoch, 14. Dezember, liest die Hamburger Journalistin Nora Burgard-Arp aus ihrem dystopischen Debütroman „Wir doch nicht“ in Leipzig. Dieser Roman ist thematisch brandaktuell, wenn man z. B. auf die USA und die letzte Entscheidung des amerikanischen Supreme Courts zu Abtreibungen oder das Wahlergebnis in Italien schaut.

Die Lesung findet am 14. Dezember um 20 Uhr im Horns Erben statt.
Eintritt: VVK 6 Euro / AK 8 Euro

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar