Es ist ein hartes Buch. Noch ein paar Stufen härter als die beiden eh schon mitreißenden und aufwühlenden Romane, die der belorussische Autor Viktor Martinowitsch schon bei Voland & Quist veröffentlicht hat. Oder besser formuliert: Die der in Markkleeberg lebende Übersetzer Thomas Weiler ins Deutsche übersetzt hat. Auch für all die Leute, die einfach keinen blassen Schimmer davon haben, wie autoritäre Regime wirklich funktionieren.

Das hat Martinowitsch ja schon in „Paranoia“ und in „Mova“ sehr aufwühlend erzählt. Da konnte man sich durchaus sein Geburtsland Belorussland als Hintergrund vorstellen, auch als finstere Kulisse. Mit allen möglichen Schreckmomenten und den Beschreibungen der Verführbarkeit und Erpressbarkeit. Autoritäre Regime funktionieren nicht nur deshalb, weil an der Spitze ein teuflischer alter Kerl sitzt, der seine Gegner kaltblütig einsperren oder umbringen lässt.Auch sie brauchen die willigen Helfer, die Menschen, die sich erpressen, verbiegen, zerbrechen lassen. Die ihre Seele verkaufen und selbst zu Teufeln werden. Und dann bereitwillig das Böse tun, von dem sie vorher nie geglaubt hätten, dass sie dazu fähig wären.

Womit wir bei Michail wären, dem „Helden“ dieses Romans, der sich den Namen des Autors Viktor Martinowitsch als Pseudonym kapert und darunter für seine einstige Geliebte aufschreibt, wie er zu dem geworden ist, was er nun ist. Und Martinowitsch versucht hier etwas, was eigentlich unmöglich ist.

Denn wer so eine „Karriere“ gemacht hat, wird selten den Drang spüren, sich zu rechtfertigen oder gar nach den Gründen zu suchen, warum er so geworden ist. Denn der, der noch dieses Bedürfnis gehabt haben könnte, der geht bei so einer Umschmiedung verloren. Oder kaputt. Die meisten gehen kaputt daran, können aber auch nicht darüber schreiben. Deswegen sind die Archive gefüllt mit lauter verlogenen Heldengeschichten von ruhmreichen Generälen und anderen Erfüllungsgehilfen, die nie von irgendetwas gewusst haben wollen, heimlich echte Diktaturgegner gewesen sein wollen und ansonsten nur gekämpft haben wie ehrliche Soldaten.

Solchem Quatsch, den natürlich ihre Leser nur zu gern konsumierten und konsumieren als Droge. So können sie sich als Held fühlen, obwohl sie ganz genau wissen, dass sie, als es drauf ankam, die Menschenwürde mit Stiefeln getreten haben.

Da helfen dann alle Ausreden nicht. Autoritäre Regime leben davon, dass sie Menschen dazu bringen, gegen ihr Gewissen zu handeln, beflissen alle Befehle zu erfüllen und Menschen nur noch danach bewerten, welche Rolle sie in der Hierarchie einnehmen und wie nützlich sie sind, wenn es um die Ausübung von Macht geht.

Ein höchst aktuelles Buch. Denn genau so funktionieren auch schon junge autoritäre Regierungen. Denn auch die brauchen diese „willigen Vollstrecker“, um letztlich den ganzen Staatsapparat gefügig zu machen. Geht es also darum? Nicht nur, auch wenn Martinowitsch seinen Roman diesmal gleich nach Moskau verlegt, wo Michael ein kleiner Dozent für Architekturästhetik ist, gerade mal Besitzer eines alten Lada, den er schon zu Beginn der Geschichte zu Klump fährt – oder besser: fahren muss.

Was wir aber erst später erfahren, wenn er uns im Verlauf des Erzählens mitnimmt auf seine Reise in den „Freundeskreis“ des greisen Altfunktionärs Noide, der einst beinahe Präsident geworden wäre, aber lieber zur grauen Eminenz wurde. Eine graue Eminenz mit Zugriff auf jede Menge Geld und jede Menge abhängiger Menschen, die ihm jene Macht verschaffen, die ein gewählter Präsident niemals hat.

In gewisser Weise ist Michails Geschichte ein Porträt der Gegenwart eines beliebigen autoritären Landes, egal, ob im Osten oder sonst wo. Denn in solchen Ländern verbindet sich die Übergriffigkeit der Macht (samt getürkter Prozesse, willkürlicher Morde, Erpressungen und Ämterbesetzungen) immer auch mit Korruption. Alles ist käuflich. Auch, wenn es gar nicht mehr gekauft werden muss. Denn schon die Angst allein genügt, um Menschen dazu zu bringen, das Gewünschte zu tun.

So wird auch Michail in den „Freundeskreis“ von Noide, den seine Anhänger Batja nennen, aufgenommen. Oder besser: hineingezogen, denn was anfangs wie eine Rettung in größter Not aussieht, erweist sich sehr bald als freundliches Erpressungsmittel, um ihn dazu zu bringen, alles auszuführen, was ihm angewiesen wird. Und was den Leser schon bald in die erste eigentlich zutiefst frustrierende Szene versetzt, in der Michail den ersten Menschen in dieser Geschichte sterben lässt.

Noch kann er sich dem Selbstbetrug hingeben, dass das vielleicht einen höheren Zweck erfüllt, wichtig ist für eine große gute Sache, die er vielleicht noch nicht durchschaut, die aber Unterstützer wie ihn braucht, um die Dinge vielleicht auf diese Weise zu etwas Besserem zu wenden. Ist denn dieser Batja nicht so eine Art Gegenspieler zur herrschenden korrupten Macht?

Oder braucht denn nicht, wer sich mit den alten Autoritäten anlegt, eine gewisse Skrupellosigkeit, muss also selbst hart und unbarmherzig werden, gar böse, um dem Guten zum Durchbruch zu verhelfen? Heiligt der Zweck die Mittel?

Immerhin eine Frage, die als ungelöste Scharade über allem liegt, was in Russland (und seinen Satellitenstaaten) seit 1917 passiert ist. Und wer es in westlicher Naivität noch nicht wusste, dem serviert dieser Michail am Ende noch eine ganze Bücherliste über historische Verschwörungen, Attentate und Umstürze. Bücher, die davon erzählen, wie sehr die russische Revolution in der Tradition der russischen Zarenherrschaft und der russischen Palastrevolten stand und steht.

Bis heute. Kein wirklich gutes Vorbild für deutsche Linke. Wenn sie denn nur genug belesen wären. Dann dürfte sie vielleicht das Grauen einholen und die Erkenntnis, dass die Linie von den Zaren über Lenin, Stalin und Berija zu den späteren Kraftmeiern auf russischen Thronen ziemlich direkt und blutig ist. Und dass das Volk oder gar dessen Glück dabei nie wirklich eine Rolle spielten.

Eigentlich spielte immer nur die Macht eine Rolle. Und dieser seltsame Batja, dem Michail immer näherkommt, ist genau in dieser eisigen Nomenklatura groß geworden, in der mit Intrigen, Heimtücke und Korruption um die Posten an der Spitze gekämpft wurde. Nur dass dieser Batja genau weiß, dass man als Strippenzieher die eigentliche Macht in Händen hält. Eine Macht, die dieser alte Mann, der seinen neuen Schützlinge recht systematisch gefügig macht (und erniedrigt), durchaus mit den Klassikern zu belegen weiß.

Seinen Machiavelli kennt er genauso gut wie seinen Nietzsche. Wobei er sich beide genauso zurechtgebogen hat wie die berühmten Dostojewskischen Helden. Die vielen sehr intensiven Bezüge zur russischen Literaturgeschichte und ihren durchaus ernst gemeinten philosophischen Fragen darf man nicht überlesen. Im Anhang hat Thomas Weiler reihenweise Zitate und ihre Herkunft aufgelistet, die im Text wie selbstverständlich auftauchen.

Martinowitsch geht ganz selbstverständlich davon aus, dass seine Leser ihren Dostojewski, ihren Jessenin, ihren Freud und natürlich auch Bulkgakow gelesen haben. Er bürstet die großen Prokurator-Romane gegen den Strich. Und reißt die Kleider ihrer Heiligkeit herunter. Auch wenn natürlich Dostojewskis Frage nach dem Bösen an sich immer im Zentrum steht. Von Batja persönlich dann in der Nietzsche-Version rezipiert, wo das Böse der Macht dann ganz selbstverständlich zu werden scheint – zynischer geht es kaum noch.

„Wäre uns der Wille zur Unterordnung nicht immanent, hätte der Wille zur Macht gar keine Chance. Denn eine Macht, der nicht die allgemeine und freiwillige – die Freiwilligkeit ist ganz entscheidend! – Unterordnung zugrunde liegt, eine solche Macht ist schlechterdings undenkbar. Um mich einmal eines Ausdrucks aus deiner Generation zu bedienen: Die Leute wollen dauernd und ohne Unterbrechung hart rangenommen werden. Im Büro, auf der Ebene Verkehrspolizist-Autofahrer, Dozent-Student, Präsident-Bevölkerung. Auf allen Ebenen!“

Schöne Grüße nach Europa, könnte man sagen. Ist da nicht ein Körnchen Wahrheit über die Machtfrage drin? Die Frage danach, wie viele Leute nur zu bereit sind, „hart rangenommen zu werden“, wenn sie dabei nur nicht mit der Zumutung freier Entscheidung belastet werden?

Die russischen Fragen sind uns so fremd ja nicht. Oder sieht das dieser Batja nur deshalb so, weil er genau mit diesen nur zu bereitwillig Unterwürfigen zu tun hat?

Aber was macht er dann mit diesem Michail, den er mit seinen Aufträgen immer mehr entkernt, in immer ausweglosere Situationen bringt, in denen ihm nicht mal mehr die Möglichkeit einer Flucht bleibt (während er ihn gleichzeitig die Karriereleiter hinaufbefördert)? Ist dieser Noide ein so großer Menschenkenner, dass er die Menschen, mit denen er spielt, derart gut vorausberechnen kann? Ist der Mensch in seiner moralischen Not tatsächlich so berechenbar?

Natürlich ist er das. Nur deshalb ist Moral ja ein einigermaßen verlässlicher Kitt für unsere Gesellschaft. Und deshalb sind Menschen erpressbar – gerade da, wo sie lieben. Und auch wenn es zuvor schon einige Stellen gab, durch die man sich mit zusammengebissenen Zähnen gelesen hat, weil Michail darin nach und nach alles verraten sah, was ihn vielleicht zu einem guten Menschen gemacht hat, ist die schmerzlichste Stelle letztlich die, in der er seine Geliebte Olja opfert.

„Was haben sie nur für ein Miststück aus mir gemacht, dass ich hier so locker darüber philosophieren kann, wie ich dich am besten auf Distanz gehalten hätte? War meine Verwandlung in einen gefühllosen Widerling nicht auch Teil des Planes, den Batja erfolgreich in die Tat umgesetzt hat?“

Immerhin schreibt er das alles Jahre später erst auf, nachdem er quasi selbst zum Kopf der Organisation geworden ist, in die Batja ihn geholt hat. Er hätte jetzt alle Macht, sich alle Wünsche zu erfüllen. Aber er weiß auch genau, dass er nicht mehr zurückkann, dass er Olja tatsächlich geopfert hat. Und damit das Lebendigste und Ehrlichste in sich selbst.

So gesehen, eigentlich ein ernüchterndes Buch, das nur einer schreiben konnte, der erlebt hat, wie ein Regime der Korruption seine Bürger zermürbt und ihnen das Mitgefühl auszutreiben versucht, die Liebe, die Mitmenschlichkeit. Das ist nicht nur ein belorussisches Thema. Die Autoren der großen russischen Literaturwelt haben sich Fragen gestellt, denen westeuropäische Autoren nur zu gern ausweichen. Den tiefen menschlichen Konflikt zwischen Gut und Böse verlagern sie nicht ins Himmelreich der Theorie. Der ist in einer korrumpierten Welt allgegenwärtig.

Und natürlich lassen die Menschen das nicht freiwillig mit sich machen. Auch Michail gibt ja Olja nicht freiwillig auf, längst schon ahnend, dass ihm dann nichts mehr bleiben wird, nur noch das eisige Gefühl der Macht. Eigentlich schreibt er sein Buch aus einer Stellung der absoluten Einsamkeit heraus. Denn wer da angelangt ist, vertraut niemandem mehr und kann auch niemanden mehr an sich heranlassen. Deswegen haben die Mächtigen soviel Reserven frei, ihre Macht mit allen Mitteln auszunutzen. Denn sie müssen keine Gefühle mehr bändigen, keine inneren Widerstände unterdrücken. Alles wird zum eisigen Spiel der Kräfte.

Nur die Frage bleibt: Würden sie je mit so viel Selbstbefragung und auch spürbarem Mitgefühl darüber schreiben können, wie sie so geworden sind, wie es Michail hier tut? Ich persönlich glaube: Nein, sie könnten es nicht. Sie haben den Rubikon überschritten und können nicht mehr umkehren. Auch nicht in die einstigen Gefühle. Man kann die ganzen Autobiografien dieser „Helden der Geschichte“ lesen.

Sie schweigen allesamt darüber, wie sie so geworden sind. Sie sind wie Faust, der sich seinen kühnen Träumen hingibt, aber das Schlimmste, was er hätte tun können, in dem Moment getan hat, als er Gretchen opferte. Auch diese Parabel steckt in Martinowitschs Roman, der sich einreiht in die unbarmherzig großen russischen Romane, die die menschlichsten aller Fragen stellen. Manchmal mit Antworten, die zutiefst erschüttern.

Und selbst der Titel „Revolution“ zerreißt ein paar schöne Märchen über Geschichte. Manchmal sind glorreich gefeierte Revolutionen nichts als Staatsstreiche, Putsche oder Attentate, die Machtergreifung von Leuten, die wissen, wie man die Gutwilligen zutiefst in Ängste und Schrecken versetzt und wie man vor allem die Mitmenschlichkeit mit Stiefeln zertritt. Eine Kunst, die sämtliche Diktatoren beherrschen und ihre Nachahmer nur zu schnell begreifen. Autoritäre Regierungen leben von der Angst der Eingeschüchterten. Und „Freundeskreise“ wie der, in den Michail gerät, ebenso.

Und das Gefühl sagt einem beim Lesen, dass das nicht nur ein (belo-)russisches Problem ist. Nur dass westeuropäische Autoren das Thema der Macht meist weiträumig und philosophisch umschiffen. Als wäre es ihrer Bearbeitung nicht würdig. Und so bleibt sie hierzulande diffus und ungreifbar. Während sie einem in Martinowitschs nervenaufreibenden Roman eiskalt entgegenschlägt. Auch mit der zutiefst menschlichen Frage: Wie lange hält einer stand, wenn er zum Spielball der Mächtigen wird? Und ab wann ist er bereit, auf das Wichtigste in seinem Leben „freiwillig“ zu verzichten?

Hinweis der Redaktion in eigener Sache

Seit der „Coronakrise“ haben wir unser Archiv für alle Leser geöffnet. Es gibt also seither auch für Nichtabonnenten alle Artikel der letzten Jahre auf L-IZ.de zu entdecken. Über die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall.

Unterstützen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tägliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikäufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den täglichen, frei verfügbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit für Sie.

Vielen Dank dafür.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar