Nicht nur mir geht es so. Auch der Autor und Filmemacher Mario Sixtus wundert sich schon seit geraumer Zeit, warum in unserer Gesellschaft die Zukunftsbilder verschwunden sind. Es ist, als wäre vor uns nur noch eine undurchdringliche Wand. Und dahinter? Finstere Apokalypsen. Das war nicht immer so. Der 54-Jährige erinnert sich noch an eine Zeit, als unsere Zukunft bis in den Kosmos reichte.

Als es Weltraum-Operas im Kino gab, der Vierjährige von seinem Vater vor den Fernseher gesetzt wurde, als die erste Mondlandung übertragen wurde, und Heinz Haber im Fernsehen den Jugendlichen von der Faszination der Wissenschaft erzählte. Das alles ist weg, scheinbar völlig verschwunden mit dem Zusammenbruch des Ostblocks 1990. Übrig blieb scheinbar eine Gesellschaftsordnung, die für alle und alles eine Lösung hatte und sich irgendwie als Endzustand der Geschichte begriff, auch wenn Francis Fukuyama seine Aussage zum „Ende der Geschichte“ etwas anders gemeint hatte.

Denn fast parallel mehrten sich ja die Anzeichen, dass die Warnungen des Club of Rome aus dem fernen Jahr 1972 („Die Grenzen des Wachstums“) nur zu berechtigt waren. Die Erdatmosphäre erwärmte sich genau in dem Maße, wie es die Wissenschaftler damals vorausberechnet hatten. Und es drohte eindeutig genau das Szenario, das heute weltweit zu beobachten ist. Und auf der Konferenz von Rio de Janeiro 1992 gaben alle dort versammelten Regierungen im Grunde zu, dass sie es begriffen hatten und dass sie fortan gewillt waren, den CO2-Austoß drastisch zu senken. Und so die Erderwärmung mit vereinten Kräften auf maximal 1,5 Grad zu begrenzen, dann würden wenigstens die schlimmsten Folgen dieser Erwärmung gedämpft.

Und die Zivilisation der Menschheit hätte eine Chance, einigermaßen glimpflich davonzukommen.

Aber die seitdem vergangenen 27 Jahre waren fast sämtlich Jahre des Zögern, Vertagens, Verschiebens. Was die Deutschen seit 2005 erleben, ist praktisch ein völliger politischer Stillstand auf dem Gebiet. Und das – so Sixtus – muss Gründe haben. Gründe in den Köpfen der Menschen. Denn wenn die Menschen immer wieder Regierungen wählen, die den Stillstand praktizieren, muss es an den Menschen liegen. Sie unterscheiden sich ja im Denken nicht wirklich von den von ihnen gewählten Politikern.

Und so beginnt er seinen sehr prononciert geschriebenen Essay mit der Analyse der Geschichte des menschlichen Denkens über Zukunft. Allein dieser Exkurs ist in seiner Dichte lesenswert, weil es Sixtus hier gelingt, nicht nur die Zeit-Vorstellungen vergangener Geschichtsepochen zu beschreiben und ihre Entwicklung über die zyklischen Zeit-Vorstellungen der antiken Zivilisationen über die prägnante Neuerung des Monotheismus, der mit seiner apokalyptischen Endzeitvision erstmals ein lineares Zeit-Denken ins Bewusstsein der Menschen brachte, bis hin zur Zukunftsermächtigung im Denken der Aufklärung.

Er greift auch auf die Forschungsergebnisse der Kognitionswissenschaften zurück, die mittlerweile ja belegt haben, wie Ich- und Welt-Vorstellungen sich im menschlichen Bewusstsein herausbilden, wie sich unser Ich-Bewusstsein geradezu erst zusammenbaut – und zwar nachdem wir gehandelt haben und uns im Nachhinein ein Bild davon machen, was wir da eigentlich getan haben und was passiert sind. Wir leben tatsächlich fortwährend in der Vergangenheit, auch wenn wir meinen, das Jetzt zu erleben.

Doch wirklich bewusst wird uns das Jetzt immer erst, wenn wir es in unserem Gehirn (der genialsten Geschichtenbastel-Maschine der Welt) rekonstruiert haben. Und dazu greift unser Gehirn immer auf ältere Erfahrungsmuster zurück und passt das gerade Erlebte in alte Bilder und Gefühlsmuster ein.

Erst so werden wir uns unseres eigenen Tuns und unserer selbst bewusst – über re-konstrukierte Geschichten. Geschichten, denen man lieber nicht so schnell glauben sollte, wie Sixtus betont. Denn selbst die Geschichten im Kopf verändern sich fortwährend. Das Gehirn baut permanent um, schmeißt selten genutzte Bausteine raus, stärkt Muster, die immer wieder auftauchen (und die dann auch zu fürchterlichen Gewohnheiten führen können) und interpretiert das eigene Erleben in der Rückschau immer wieder ein bisschen anders.

Und dasselbe passiert in unserer Wahrnehmung der Welt da draußen. Und das sind nicht die einzigen Vorgänge in unserem Gehirn, die bestimmen, wie wir mit diesem da draußen umgehen. Denn wir brauchen ja auch noch hormonelle Orientierung, die uns ein Gefühl dafür gibt, was jetzt dran wäre zu tun. Wir wären sonst passive Wesen und wahrscheinlich schon vor Jahrmillionen von gemütlichen Allesfressern von den Bäumen gepickt worden.

Sixtus macht es an Serotonin und Dopamin fest, dem Belohnungshormon einerseits, das uns überschwemmt, wenn wir Dinge erlangt oder einen Zustand erreicht haben, die uns guttun und glücklich machen, und dem Muntermacherhormon Dopamin, das unser Körper ausschüttet, wenn es darum geht, sofort irgendetwas anzustellen. Das eine ist das „liking“, mit dem unser Gehirn vermeldet, dass es das toll findet, wie es ist. Das andere ist das „wanting“, das uns in Bewegung setzt, um etwas zu bekommen oder zu erreichen. Mit dieser Hormonausschüttung werden wir erst zu Handelnden, die etwas tun, was in der Zukunft liegt.

So schafft der Mensch seine Zukunft erst, von der er noch gar nicht weiß, wie sie dann aussehen wird. Er kann sich ein Bild machen. Und die Jungen, die mit Mario Sixtus jung waren, wussten genau, wie sich eine Gesellschaft anfühlt, die lauter blitzende Bilder von einer möglichen Zukunft hatte und für die Formel „just do it“ Realität war. Zukunft war machbar.

Doch irgendetwas ist da um 1990 herum passiert, das all diese Zukunftsvision hat verschwinden lassen. An ihre Stelle sind Apokalypsen und Dystopien getreten. Und zwar nicht erst in letzter Zeit. Sie beherrschen Kinos, Fernsehen und Streaming-Angebote seit Jahren. Wer diese finsteren Zukunftsvisionen sieht, bekommt meist das Gefühl, dass es wohl besser ist, im Hier und Jetzt zu bleiben und diese Zukunft auf keinen Fall erleben zu wollen. Und natürlich stellt sich Sixtus die Frage: Wollen die Deutschen das wirklich? Haben sie wirklich kein Bild mehr von einer erstrebenswerten Zukunft?

Fündig wird er in der 2015 von der „Zeit“ initiierten „Vermächtnisstudie“, die nach den Zukunftsvisionen der Bürger gefragt hatte. Das Ergebnis findet Sixtus erschütternd: Die meisten Befragten können sich eine Zukunft, die anders aussieht als die (von vielen als stressig und krankmachend empfundene) Gegenwart, gar nicht vorstellen. „Die Abwesenheit von Zukunft ist demnach keineswegs nur gefühlt, sondern wissenschaftlich dokumentiert: Die meisten Menschen in Deutschland wünschen sich Zukunft nur unter der Bedingung, dass sie sich nicht sonderlich von der Gegenwart unterscheidet.“

Da ist es eigentlich nur logisch, dass immer wieder eine Frau zur Kanzlerin gewählt wird, die überhaupt keine Zukunftsvisionen hat und alles dafür tut, dass die Dinge möglichst so bleiben, wie sie sind. In Zeiten des Klimawandels eine Katastrophe. Das Dumme ist nur: Wenn man sich die Zukunft finster malt, beginnt etwas anderes unseren Willen zu lähmen: die Angst. Sixtus: „Das Genre der Dystopie ist zutiefst konservativ geworden. Keine einzige Hütte, aber rudelweise Bären. Bloß nicht bewegen, die könnten dich entdecken!“

Der „Fortschrittsrausch“ ist – so zitiert Sixtus hier den Philosophen Zygmunt Baumann – einer „globalen Nostalgie-Epidemie“ gewichen. Aus Angst vor den gemutmaßten wilden Bären setzt man seine Visionen jetzt in die Vergangenheit, in ein „halb vergessenes Gestern“.

Was mit dem oben erwähnten Geschichtenerzählen zu tun hat: Man erzählt die Vergangenheit so lange um, bis sie zu einem wohligen Sehnsuchtsort wird. Und das funktioniert. Bei sehr vielen Menschen. Ergebnis: „Die Angst hat gesiegt, die Zukunft ist fort. Genau diese Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die es niemals gegeben hat, ermöglicht populistischen Kräften wie der AfD ihren Vorstoß in die Mitte der Gesellschaft. Der Yale-Historiker Timothy Snyder nimmt sogar an, die Strategie von Populisten wie Donald Trump basiere darauf, die Bevölkerung von ihrer eigenen Zukunft abzulenken …“

Denn wer ein anderes Bild von Zukunft hat, der ist auch bereit, diese Zukunft zu erschaffen.

Angst aber lähmt. Angst macht Menschen zu Opfern von Leuten, die ihnen einreden, es gebe keine Zukunft. Oder die Zukunft sei nur noch schrecklich, man solle doch lieber alle Türen und Fenster verrammeln, um das Schreckliche nicht hereinzulassen. Und wenn sich die Überzeugung verbreitet, kommt dann auch noch der Gruppendruck dazu, die „Theory of Mind“, die Sixtus zitiert, die Menschen permanent dazu bringt, sich mit anderen zu vergleichen und auf die kleinsten Signale von Unstimmigkeit zu reagieren. Ein uralter Mechanismus aus der Wildnis, als jedes Hordenmitglied um des Überlebens willen darauf angewiesen war, von der Gruppe akzeptiert zu werden.

Was im bürgerlichen Deutschland des Jahres 2019 geradezu abstruse Formen annimmt, wenn ernsthafte Politiker und Zeitungskolumnisten ihre Häme über die jungen Leute von „Fridays for Future“ ausgießen: „Und die Häme in den bürgerlichen Zeitungskommentaren gegen die Protestinitiatorin Greta Thunberg bekommt zunehmend einen verzweifelten und leicht hysterischen Tonfall. Eventuell spüren ja diejenigen, die diese Kommentare verfassen, dass ihnen gerade die Zukunft entgleitet.”

Und da wird dann sichtbar, dass ganz und gar nicht die ganze Gesellschaft sich vor der Zukunft fürchtet. Denn gerade die jungen Leute zeigen ja, dass man auch eine gefährdete Zukunft bei den Hörnern packen kann, dass man fordern kann und darf, dass sich unser Leben ändert. Dass wir selbst uns ändern müssen. Und das auch können. Die Zukunft wird anders aussehen. Übrigens auch dann, wenn wir gar nichts tun. Dann holt sie uns halt nur mit heftigen Katastrophen ein. Nur ist es die dümmste aller Haltungen, genau das zu riskieren.

Zumindest ein kleiner Teil der Gesellschaft weiß schon, was Sixtus am Ende seines Essays betont, der im Buch auch gern ein wenig über sich selbst und seine Aufschieberitis gelästert hat. Aber alles, was wir aufschieben, holt uns morgen und übermorgen mit noch größerer Wucht ein. Eigentlich bietet Sixtus mehrere Denkansätze, wie wir aus den Angst- und Überforderungs-Fallen herauskommen. Eine ist übrigens die veränderte Erzählung über die Zukunft. Wenn wir unser Geschichtenerzählen über die Zukunft ändern, verändern wir auch unsere emotionale Einstellung zu dem, was getan werden kann und muss.

Zukunft kann spannend sein, wenn wir aufhören, uns dabei stets als fremdbestimmt zu empfinden und meinen, wir könnten ja eh nichts ändern.

Das Eh-nichts-ändern-können ist ein gefundenes Fressen für die änderungsunwilligen Unternehmen (die Zeug herstellen, das wir überhaupt nicht brauchen) und Politiker, denen ihr warmes Pöstchen lieber ist als die Gefahr, das Wohlwollen ihrer verängstigten Wähler zu verlieren, denen sie doch versprochen haben, dass alles so bleibt, wie es ist. Obwohl nichts so bleiben kann, wie es ist.

Mario Sixtus Warum an die Zukunft denken?, Dudenverlag, Berlin 2019, 14 Euro.

Politischer Kitsch: Ein philosophischer Versuch, die Sehnsucht der Deutschen nach sentimentaler Scheinpolitik zu erklären

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