Adrian Pourviseh will keine Heldengeschichte der Seenotretter*innen im Mittelmeer erzählen. Die wahren Helden, diejenigen, deren Leid, Trauer, Wut und Freude oft unsichtbar bleibt, sind die Geflüchteten selbst – obwohl es schwerfällt, den Kampf für das Überleben so zu bezeichnen, ist er doch nicht frei gewählt. Diese Tage auszuhalten, in denen man mitten auf dem Wasser in einem kleinen, lecken Boot um das eigene Leben bangt, ist eine enorme Leistung.

Pourviseh gehört im Sommer 2021 zur Crew der Sea Watch 3. Er übersetzt, dokumentiert und zeichnet.

Das Mittelmeer ist die tödlichste Fluchtroute der Welt. Was das bedeutet, lässt sich im Alltag wegschieben. Adrian Pourviseh holt uns ganz nah heran an die Arbeit der Seenotretter*innen. Sein Graphic Novel „Das Schimmern der See“ taucht mit uns ein in die tiefen Gefühlswelten der Schiffscrew, die keinen Raum finden können in ihrem Alltag. Die Wut über die politischen Verhältnisse, die ein Morden im Mittelmeer veranlassen, zeigt er ebenso wie die Anspannung, ob die Rettung gelingen wird und die Erleichterung, wenn die schwierige Arbeit getan ist.

Wie übersetzt man Wut in Handlungsfähigkeit? Wie hält man dem Druck der Welt stand, die nur aufgrund der politischen Verhältnisse lebensfeindlich für so viele Menschen ist? Wie überlebt man selbst so nah an der Katastrophe und mit dem Wissen: Es gibt keine einzige sichere Fluchtmöglichkeit aus Afrika nach Europa. Woher nimmt man die Kraft, Entscheidungen zu treffen, die über Leben und Tod anderer Menschen entscheiden können?

Brutale und rassistische Abschottung

Es wird sich noch immer das Märchen erzählt, dass es eine gewaltfreie Art gäbe, Migration zu „kontrollieren“. Die gibt es aber nicht. Die Kontrolle darüber, wer auf welchem Land wohnen soll, bedeutet die Zusammenarbeit mit der sogenannten libyschen Küstenwache, die Menschen in das Land zurückholt, in dem sie Folter und Tod ausgesetzt sind.

Europäische Schifffahrtsmissionen werden extra nicht auf die Fluchtrouten gelegt, damit sie niemanden retten müssen. Personen, die die Boote steuern, selbst auch Geflüchtete, werden in Europa als „Schleuser“ jahrelang in Gefängnisse gesteckt – als ob sie das Problem wären. Seenotretter*innen wie die Kapitänin Carola Rackete werden für ihre Arbeit kriminalisiert. Tausende Menschen verlieren ihr Leben.

Es sind nämlich keine Unfälle, was dort im Mittelmeer geschieht. Es passiert nicht, weil man die Menschen nicht retten könnte. „Da ist ein Boot mit Migranten“, so sagt man wohl mittlerweile. Und nicht: „Dort sind Menschen in Seenot.“

Mit dem Bild von Seenotrettung aufräumen

In diesem politischen Sturm tuckert ein kleines Boot über das Mittelmeer und will dem Morden im Mittelmeer etwas entgegensetzen. Der Politik der Abschottung setzt es eine Politik der Empathie entgegen. Es ist eine extreme und vielschichtige Belastung, die jeden Tag auf der Crew lastet.

Die Seenotrettung ist kein leichtes Metier. Im Gegenteil: Menschen stoßen in diesen extremen Stresssituationen aneinander. „Helfen“ bedeutet nicht, dass die Schiffscrew wie Engel herüberschwebt und Menschen auf ihrem Schiff beherbergt. Mit aller Kraft müssen Crewmitglieder und bereits Gerettete die anderen aus dem Wasser ziehen und dabei aufpassen, dass sich niemand aus Todesangst noch mehr in Gefahr bringt und ohne Rettungsweste ins Wasser springt. Da wird schon einmal herumgeschrien und herumgemotzt.

Wenn alle es lebend auf das Schiff geschafft haben, ist die Arbeit noch nicht vorbei. Intensive medizinische Versorgung muss organisiert werden und mit Europäischen Staaten verhandelt, wo man anlanden darf. Dicht an dicht gedrängt liegen die Menschen auf dem Deck, warten und wärmen einander.

Pourviseh betont in dem Buch, dass die Perspektive der Geflüchteten, die essenziell für den Diskurs um Migration ist, fehlt. Er will nicht die (oft weißen) Retter*innen als Helden darstellen, sondern neokoloniale Ausbeutungsmuster hinterfragen.

Nicht nur das Leid zeigen, sondern auch Solidarität

Das Buch von Adrian Pourviseh bringt das Zeitgeschehen auf den Punkt. Es dokumentiert die Auswirkungen des Rassismus und der Abschottungspolitik in einer kapitalistischen Weltordnung, wo jeder auf den eigenen Profit bedacht sein soll. Es ist wichtig, dass es Bücher wie diese gibt. Nach dem Lesen vergisst man nicht mehr, welch menschliches Leid sich hinter Worten wie dem „Massengrab im Mittelmeer“ verbirgt.

Schließlich können wir dieser Politik etwas entgegensetzen: Solidarität und Empathie, so wie es die Geflüchteten und die Seenotretter*innen tun, einige unter Einsatz ihres Lebens. „Das Schimmern der See“ ist nicht nur ein Buch über die Katastrophe, die sich im Mittelmeer abspielt. Es ist auch ein Manifest für eine widerständige Politik des Zusammenhalts und der Stärke, die wir uns in dieser hostilen Weltordnung geben müssen.

Schlussendlich betont auch Pourviseh: Europa kann sich dafür entscheiden, die Grenzen zu öffnen und das Sterben zu beenden.

Adrian Pourviseh Das Schimmern der See, avant verlag, Berlin 2023, 26 Euro.

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