Dreieinhalb Stunden ziehen Sara und Yusra Mardini schwimmend das Schlauchboot, in dem 18 weitere Geflüchtete sitzen und das kurz nach dem Ablegen zu sinken begann. Sie schaffen es alle lebend nach Griechenland. Sara trägt eine Verletzung davon und kann nicht mehr Leistungsschwimmen. Yusra tritt bei den Olympischen Spielen im Refugee Olympic Team an.

Sara fliegt zurück nach Lesvos, bietet unter anderem auch in Moria Übersetzung, Decken und Wasser für Geflüchtete. Nach zwei Jahren wird sie 2018 verhaftet, Vorwürfe unter anderem Menschenhandel (Arabisch übersetzen und Decken an der Küste ausgeben), Spionage (Whatsapp benutzen) und Mitgliedschaft in einem kriminellen Netzwerk.

106 Tage lang sitzen sie, Seán Binder und Nassos Karakitsos, beide Mitglieder derselben NGO, in U-Haft. Sie kommen auf Kaution frei. Seitdem laufen die Verfahren. Es drohen ihnen bis zu 25 Jahre Haft.

Die Regisseurin Charly Wai Feldman will verstehen, wie es sein kann, dass in Europa Menschen in Not Unterstützung verweigert wird und die Unterstützenden verhaftet werden. Sie beginnt zu filmen, während Sara und Seán noch in U-Haft sind. Es ist unklar, ob sie die möglichen 18 Monate festgehalten werden. Nach der Freilassung kreuzen sich ihre Wege. Vier Jahre lang wird Sara von Kameras begleitet.

Der Film erzählt keine Geschichte von Held/-innen, sondern eine von Menschen und Menschlichkeit: Eltern, die ihre Töchter auf diese Reise schicken. Töchter, die wissen, dass ihre Eltern den gleichen lebensgefährlichen Weg nehmen. Sich im Gefängnis Briefe in Büchern hin und her schmuggeln, nein, Sara und Seán korrigieren sich lachend, sie sollten lieber „schicken“ sagen.

Charly Wai Feldman und Seán Dinder mit Aktivistinnen von RESQSHIP e.V. und Amnesty Leipzig. Foto: Yaro Allisat
Charly Wai Feldman und Seán Binder mit Aktivistinnen von RESQSHIP e.V. und Amnesty Leipzig. Foto: Yaro Allisat

Mit dem Gerichtsprozess an die Öffentlichkeit gehen zu müssen, weil so schlimmes Unrecht passiert. Aufregung vor Bühnenauftritten. Politiker/-innen, die Sara und ihre Kolleg/-innen diffamieren. Psycholog/-innen in Camps in Griechenland, die Kindern die Geschichte der Mardini-Schwestern als eine Geschichte von Hoffnung erzählen.

„Auf der einen Seite sagen Menschen: Für das, was ihr getan habt, solltet ihr ins Gefängnis und Flüchtende sollten ertrinken“, so Seán Binder. „Auf der anderen Seite sagen sie: Was ihr getan habt, ist heldenhaft. Euch sollten jede Bühne und jede Auszeichnung der Welt zustehen. Ironischerweise sind beide Sichtweisen aus dem genau gleichen Grund problematisch: Es ist weder kriminell, noch heldenhaft. Es ist normal. Jemandem zu helfen, jemandem eine warme Decke zu geben oder auch nur ein Lächeln, ist das Normalste auf der Welt. Ihr alle macht das doch auch.“

(Im Original: „On the one hand people say: For what you did, you should be in prison and people should have drowned“, so Seán Binder. „On the other side people say: What you did was heroic. You should be given every platform and every award. Ironically both of those positions are problematic for exactly the same reason: Because it is not something criminal or heroic. It is something normal. Helping someone is normal, giving someone a warm blanket or even just a smile is the most normal thing that any of you also do.“)

Am Mittwochabend, 22. März, fand die Leipzig-Premiere von „Gegen den Strom“ in den Passage Kinos statt, mit anschließendem Gespräch. Mitorganisiert wurde es unter anderem vom Sächsischen Flüchtlingsrat (SFR). Vor Ort waren auch RESQSHIP e.V. und Amnesty Leipzig, die momentan auch für die El Hiblu 3 kämpfen. Die drei Geflüchteten werden angeklagt, ein Schiff mit Gewalt unter ihre Kontrolle gebracht zu haben, weil sie für andere Mit-Geflüchtete auf dem Boot übersetzten.

Deutschlandweit geht der Film „Gegen den Strom“ mit seinen Protagonist/-innen gerade auf Tour.

Das Leben nach der Haft

Der Film vereint viele Ebenen: Die persönliche Geschichte von Saras Ankommen in Deutschland nach der Haft, ihrem Studium, öffentlichen Auftritten und einer Amnesty International Kampagne mit Seán – und wie sie sich schließlich, trotz der Angst, wieder entscheidet, mit einer Sea Watch-Mission zu fahren. Es geht auch um das, was die Angst vor Repressionen mit den Aktivist/-innen macht.

„So etwas (wie die humanitäre Katastrophe an den Grenzen der EU) sollte nicht normal sein. Es sollte nicht okay sein. Ich würde gern wieder als Volunteer zurückgehen. Aber ich will nicht“, so Sara. (Im Original: „Stuff like that shouldn‘t be normalized. It shouldn‘t be okay. I think I would love to go back and do some volunteering. But I don‘t want to.“)

Sara erzählt in dem Film und bei dem Gespräch, dass sie immer noch in Therapie sei und das sei gut. Gerade Aktivist/-innen erlebten viel in kurzer Zeit. Man müsse sich den Raum geben, das zu verarbeiten. Sie selbst sei eine sehr offene Person, deshalb teile sie viel zu dem Thema. Durchzogen wird der Film von Szenen in der Schwimmhalle, die, nicht nur für die Zuschauenden, Ruhepol bieten.

Der Film thematisiert auch die politische Ebene. Er zeigt Bilder von Refugees in Schwimmwesten im Mittelmeer, wie sie von libyscher Küstenwache attackiert werden. Er zeigt Horst Seehofer, der sagt, man müsse erstmal Ordnung schaffen, dann komme die Humanität.

Der Prozess ist Schikane

Der Gerichtsprozess ist Schikane oder wie Seán es im Film formuliert, er würde sich wenn schon, dann gegen ordentliche Vorwürfe verteidigen. Aber nicht gegen den Vorwurf Spion/-in zu sein, weil man verschlüsselte Messenger wie Whatsapp benutze.

Im Gespräch sagte er, es sei möglich, dass das Gerichtsverfahren bis zu 15 Jahre lang herausgezögert würde: Wie bisher durch fehlende Vorladungen oder Übersetzungen oder durch – huch – dieses Gericht ist doch gar nicht zuständig. Würde ihr Fall morgen verhandelt, dann würden sie sofort frei gesprochen. Doch so lange es weiter hinausgezögert wird, bleiben Angst und Unsicherheit – nicht nur für die beiden, sondern für alle Seenotretter/-innen und Unterstützende von Refugees in Griechenland.

Zu sehen, dass niemand mehr an der Küste Menschen Erstversorgung gebe, habe ihr gezeigt dass die Kriminalisierung funktioniere, so Sara. Man könne schließlich nicht zwei Jahre Gefängnis mit einplanen, wenn man humanitäre Arbeit leiste.

„Das ist nur die Spitze des Eisbergs“, sagte auch Charly Wai Feldman. „Je tiefer man gräbt, umso mehr sieht man, dass im Moment auf agressive Art und Weise Menschen eingeschüchtert werden, die sicherstellen wollen, dass Menschenrechte an den Grenzen der EU respektiert werden. Ich will nicht denken, dass Gesetze aus Bosheit heraus gemacht sind. Aber manchmal kann ich nicht anders.“

(Im Original: „This is just the top of the iceberg. The more you dig, the more you realize that there is a period of aggressive tactics being used to intimidate people who are trying to make sure that Human Rights are being respected on the borders of Europe. I don‘t want to look at policies and see malice in it. But sometimes you can‘t help look at it and think there is malice.“)

Seán Dinder, Dave Schmidtke (SFR), Sara Mardini und Charly Wai Feldman (v.l.) bei der Leipzig-Premiere von „Gegen den Strom“. Foto: Yaro Allisat
Seán Binder, Dave Schmidtke (SFR), Sara Mardini und Charly Wai Feldman (v.l.) bei der Leipzig-Premiere von „Gegen den Strom“. Foto: Yaro Allisat

Der Fall von Sara und Seán ist einer von vielen. Zahlreichen Menschen drohten oder drohen bis zu 20 Jahre Haft oder mehr. Ihre humanitäre Arbeit wird vor allem als Menschenhandel oder Beihilfe zur illegalen Einreise illegalisiert. Sowohl NGOs als auch Geflüchtete selbst stehen diesen Vorwürfen gegenüber, auf dem Mittelmeer und in den Camps an Land.

Weitere prominente Beispiele sind der Fall der Kapitänin Carola Rackete, gegen die im Dezember 2021 alle Anklagen durch die italienische Justiz fallen gelassen wurden oder der Fall der Leipziger Einsatzleiterin Irina Schmidt, deren Verfahren seit fünfeinhalb Jahren läuft.

Im Moment weiß niemand, wann der nächste Gerichtstermin stattfinden wird. Mit Seán und Sara sind 24 weitere Menschen angeklagt. Der erste Termin im Januar lieferte kaum Ergebnisse, so Seán, weil das Gericht den Angeklagten keine Vorladungen in einer Sprache, die sie sprechen, zusenden konnte. Außerdem fehlten wichtige Definitionen und Dokumentationen, zum Beispiel, so Seán, die Beschreibung, was genau denn ein Spion sein solle.

Wofür wir alle kämpfen sollten

Dabei betont Seán immer wieder, wie wenig radikal ihre Forderungen seien. Dass die Menschenrechte, die EU-Rechte von europäischen Ländern nicht respektiert würden, sei radikal. Sie seien nur hier, um die EU-Staaten an ihre eigenen Gesetze zu erinnern.

„Wie Seehofer sehr klug in seiner unendlichen Weisheit sagte: Dass wir naiv seien. Dass wir Gesetze nicht verstehen würden. Dass er unsere guten Intentionen nachvollziehen könne, aber dass wir uns eben nicht an Gesetze halten würden. Ich denke, dass wir eine andere Geschichte sehen, wenn wir uns genauer anschauen, was in den Gesetzen steht: Es gibt ein Recht auf Asyl. (…) Das Recht auf Leben ist ein Prinzip, ein Grundwert der EU“, so Seán.

(Im Original: „As Seehofer said very wisely in his infinite wisdom: That we are being naive. That we don‘t understand the laws. And he can understand that we mean well but we are not being servants of the law. Well, I think that when we have a look at what the law actually says it tells a different story: There is a right to seek asylum. (…) The right to life, a principle and foundation of the European Union.“)

Jede/-r Einzelne könne und müsse etwas tun. Die beiden sind nicht als Held/-innen da, sondern als Menschen, wie alle anderen in dem Saal. Offenheit und Toleranz müssten das Credo sein, unter dem Menschen zusammenkommen.

„You can volunteer, you can donate, you can advocate for us. But I think the most important thing is, that you go home and share our story with others. (…) And be very aware when there is elections happening“, so Sara.

Sara appelliert daran, alle Menschen mit offenen Armen aufzunehmen. Die beste Methode, Angst zu verlieren, sei es immer noch, einfach mal zusammen einen Tee trinken zu gehen.

Der Film „Gegen den Strom“ läuft in den kommenden Wochen im Passage Kino.

Außerdem ist der Spielfilm „Die Schwimmerinnen“ auf Netflix. Dort wird die Geschichte von Sara und Yusra bis zu ihrer ersten Ankunft in Deutschland erzählt.

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