Eigentlich sollten die fünf Hefte von Schwarwels Graphic Novel „Gevatter“ alle 2019 und 2020 erscheinen. Doch dann tauchte – wie passend – in China ein neues Virus auf, das die Welt für die nächsten zwei Jahre komplett auf den Kopf stellte. Für China wohl noch viel länger. Nun erschien endlich Heft Nr. 4, das sich mit einem Thema beschäftigt, das viele Menschen in den Corona-Jahren an den Rand der Verzweiflung gebracht hat.

Oder überhaupt erst mit den Grenzen ihrer Belastbarkeit konfrontiert hat. Was für die Agentur Glücklicher Montag dann auch Anlass war, die beiden großen Bände „#nichtgesellschaftsfähig“ herauszugeben.

Auch die haben Arbeit gemacht und Schwarwel, Sandra Strauß und die vielen Mitautor/-innen mit den Themen beschäftigen lassen, die Schwarwel sowieso in „Gevatter“ schon aufgreift. Und die er auch schon in zuvor veröffentlichten Animationsfilmen und Büchern aufgegriffen hat. Denn sie begleiten ihn durch sein Leben.

2016 hat er sich in seinem Film „Leipzig von oben“ intensiv mit dem Tod seines Vaters auseinandergesetzt. Denn wenn der Vater stirbt, wird auf einmal auch die eigene Rolle als Sohn und Vater bewusst.

Aber unter vielen berührenden und schönen Momenten eben auch das Konfliktbehaftete in der Sohn-Vater-Beziehung, das gerade jene besonders intensiv erleben, die ihr Leben lang darum kämpfen mussten, ihren eigenen Weg gehen zu können.

Wer darf ich sein?

Eine echte Ostgeschichte könnte man meinen. Denn was soll aus dem Jungen nur werden, wenn er sich nicht anpassen kann oder will und den Regeln einer autoritären Gesellschaft nicht genügt, die es nicht akzeptieren kann, dass einer nicht einer „gesellschaftlich nützlichen“ Tätigkeit nachgeht?

Eine Denkweise, die nicht nur die DDR prägte. Wer diese Denkweise verinnerlicht hat, wundert sich nicht die Bohne, warum so viele Ostdeutsche 1990 die „Allianz für Deutschland“ gewählt haben und bis heute konservative und ultrakonservative Ansichten hegen.

Und sensible Menschen in die Außenseiterrolle drängen. Und meist auch nicht merken, wie ihre Unfähigkeit, Konflikte zu lösen, die Kinder krank macht. Woher kommen dann alle diese Depressionen und traumatischen Belastungen? Natürlich weiß man es nicht definitiv.

Dass aber das soziale Umfeld dabei eine Rolle spielt, ist zumindest jenen bewusst, die unter diesem Umfeld leiden. Und in gewisser Weise war Schwarwels Weg zum Comiczeichner auch ein Weg, mit seinen Belastungen umzugehen und das Belastende erzählbar zu machen. Im Interview, das diesem Heft beigefügt ist, geht er darauf ein wenig ein.

Die Geschichte selbst, die er in „Depression“ erzählt, führt die Leser/-innen zurück in jene deprimierende Endzeit der DDR, als längst klar war, dass dieses Land alle seine Visionen, Träume und Möglichkeiten verspielt hatte. Und gerade für Menschen, die sich nicht in die graue Masse einfügen wollten oder konnten, destruktiv und abweisend war.

Genau jene Menschen, zu denen der Erzähler der Geschichte gehört, der im Gespräch mit seinem Psychotherapeuten versucht herauszubekommen, warum er so unter Depression und einer Angststörung leidet.

Was uns prägte und belastet

Dabei blendet die Geschichte immer wieder zurück in markante Szenen seiner Jugend, die zeigen, wie lange der Erzähler sich schon mit Gedanken an den Tod beschäftigt. Wie sehr das auch seine Freundinnen und Freunde beschäftigte.

War Alkohol da die Ausflucht oder eher ein Verstärker des Problems? Und welche Rolle spielt eigentlich der Großvater, dessen Geburtstagsgeschenk unerwünscht ist? Welche Geschichte steckt hinter dem Foto, das ihn in Uniform zeigt?

Was pflanzt sich da – unaufgearbeitet – durch die Generationen fort? Und führt eben auch dazu, dass ein begabter junger Mann sich diesem Genötigtwerden verweigert? Auch deshalb verweigert, weil das Comic-Zeichnen für ihn auch die Möglichkeit ist, seine Albträume in Geschichten zu verwandeln.

Was Schwarwel ja bis heute tut. Auch wenn er etwa mit Schweinevogel eine Comic-Figur gefunden hat, die in ihrer dickfelligen Art den Druck aus dem Leben nimmt. Manchmal darf die Figur eben all das, was der Zeichner nicht darf.

Oder nicht kann, weil ihm die Dickfelligkeit fehlt. Ist es manchmal einfach nur diese Wehrlosigkeit dem Leben und den eigenen Gefühlen gegenüber?

Darauf gibt es keine Antwort. Nur das ruhige Insistieren des Psychotherapeuten, der immer wieder danach fragt, warum sein Gegenüber so gehandelt hat. Womit der Therapeut auch in eine völlig andere Rolle schlüpft als die sehr autoritäre Mutter.

Er hört zu, sagt aber nicht, was der junge Mann vor ihm tun soll. Denn die Lösungen kommen nicht von außen, auch wenn das der Glaubenssatz jeder autoritären Erziehung ist. Man kann Menschen nicht „erziehen“.

Aber das werden die Autoritätsgläubigen nie lernen. Man kann sie mit „Erziehung“ nur beschneiden und ihnen das Rückgrat brechen.

Wer bin ich wirklich?

Aber dadurch werden sie keine lebensfrohen, selbstbewussten Menschen. Sie entdecken so auch nie ihre Stärken und Schwächen. Sie werden etwas. Aber nicht sie selbst. Noch so ein Grund dafür, warum so viele Leute so außer sich sind. Und die Schuld an allem Möglichen immer nur bei anderen suchen. Oder bei „denen da oben“.

Aber das ist nicht Schwarwels Ding. Gerade indem der Therapeut dem Erzählenden immer wieder zurückspiegelt, dass er für sein eigenes Leben und Handeln selbst verantwortlich ist und die Gründe für sein Tun in sich selbst suchen muss.

Auch wenn die manchmal nur zu berechtigte Frage im Raum steht: „Mal so gefragt: Meinst du, meine Mama war schon immer so?“

Eine Frage, die die Ostdeutschen sich nie so ernsthaft gestellt haben wie die Westdeutschen. Manchmal sind es wirklich die rabiaten Schatten einer nie thematisierten Vergangenheit, die sich auch auf die Kinder und Enkel werfen.

Die Frage bleibt trotzdem offen. Denn wenn man das nicht mehr klären kann und niemand darüber spricht, bleibt man allein mit den Emotionen, die einen belasten.

Ein Heft „Gevatter“ kommt noch. Recht bald, verspricht dieses Heft, auch wenn das Interview darin schon 2019 entstand. Weshalb es im nächsten Heft ein weiteres Interview geben wird, das den Zeichner ganz aktuell befragt. Denn „Gevatter“ ist nun einmal seine persönlichste Graphic Novel.

Eine, die auch zeigt, wie das Erzählen in Bildern eben auch ermöglicht, über die eigene Verletzlichkeit und die eigene Lebensgeschichte zu erzählen. Etwas, was auch den Leserinnen und Lesern helfen kann, das eigene Erleben einzuordnen und sich zu sagen: Es geht mir nicht allein so. Es gibt Menschen, die können mich verstehen. Auch wenn sie mir die Last nicht nehmen können.

Außer Schweinevogel vielleicht, der sich so abgebrüht durchs Universum bewegt, als könnte ihn nichts und niemand aus seiner Gemütsruhe bringen.

Schwarwel „Gevatter: Kapitel Vier. Depression, Glücklicher Montag, Leipzig 2022, 4,90 Euro.

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