Am Ende geht es immer um den Tod und die Frage: Was haben wir draus gemacht? Haben wir das Geschenk des Lebens angenommen? Haben wir die Menschen, die uns nah waren, tatsächlich geliebt? Haben wir uns zugestanden, lebendig zu sein oder haben wir die Gelegenheit völlig verschenkt? Wenn man ein Buch macht über unseren Umgang mit dem Tod heute, dann sind dafür 120 Seiten wirklich zu wenig.

Das haben auch Sandra Strauß und Schwarwel schnell eingesehen, als sie sich vor anderthalb Jahren an die Arbeit für das zweite #nichtgesellschaftsfähig-Buch machten. Das erste veröffentlichten sie 2021. Da ging es um „Alltag mit psychischen Belastungen“.

Schon damals konnten sie auf ein großes Netzwerk mit Menschen zurückgreifen, die sich mit diesem noch heute oft als Tabu behandelten Thema beschäftigen, auch wenn inzwischen deutlich verbesserte Hilfsangebote existieren und auch Prominente mit ihren Leidensgeschichten öfter an die Öffentlichkeit gehen.

In unserer Gesellschaft ist nicht alles so sonnig und rosig, wie es in Werbeprospekten dargestellt wird. Effizient sollen wir sein, immer gut drauf, fit und optimistisch.

Aber so ist das Leben nicht. Auch dann nicht, wenn man selbst nicht unter einer psychischen Belastung leidet. Aber die Tage der Niedergeschlagenheit, der Mutlosigkeit und die Frage „Wofür das alles?“ kennen alle. Und viele drücken diese endlosen Gedanken lieber weg, stürzen sich in die Arbeit und verdrängen jeden Gedanken an die Endlichkeit des eigenen Lebens.

Und die der Nächsten sowieso. Als Kind scheint das Leben geradezu unendlich zu sein. Alles ist für immer da: die Eltern, die Geschwister, Oma und Opa. Nichts wird sich ändern. Nur man selbst wächst und lernt dazu.

Die erste Begegnung

Bis der Tag kommt, an dem man zum ersten Mal dem Tod begegnet, wenn ein Mensch, den man für unsterblich hielt, auf einmal stirbt. Aus dem Leben gerissen wird, wie das so schön heißt, wenn es ein unerwartet früher Tod ist.

Manchmal ist es der Musikstar, den man angehimmelt hat, manchmal sind es die geliebten Großeltern. Manchmal schlägt das Unglück aber auch mitten in der eigenen Familie zu – stirbt der Vater bei einem Schlaganfall, beendet ein Aneurysma das Leben der Mutter.

Mal ist es der Krebs, der unbarmherzig zuschlägt, mal ein Verkehrsunfall, der Badeunfall eines Klassenkameraden oder eine Sucht, die tragisch endet. Das ist für viele wohl am schwersten zu lernen: wie gefährdet unser Leben ist. Und dass wir darunter leiden, wenn geliebte Menschen sterben.

Thematisiert hatte das Schwarwel schon in seinem Film „Leipzig von oben“, dessen Script er während des Sterbens seines Vaters schrieb. Natürlich thematisiert er es in diesem am Ende auch wieder 600 Seiten dicken Buch, genauso wie Sandra Strauß zwei Todesfälle zum Thema macht, die sie ausgerechnet während der Arbeit am Buch heimsuchten – darunter der Tod ihres Lieblingshundes.

Man bekommt schnell mit, dass es beim Tod nicht nur um Rituale, Friedhöfe und Trauerbegleitung geht, sondern um das Elementarste von allem: das, was uns wirklich an dieses Leben bindet, selbst dann, wenn wir denken, dass es uns eigentlich egal ist.

Doch den meisten Menschen ist das Leben nicht egal, ihr eigenes nicht und auch nicht das der Menschen, mit denen sie innig verbunden sind. Doch wenn diese Menschen sterben, bekommt man es mit einem riesigen bürokratischen Apparat zu tun, müssen Beerdigung, Trauerzeremonie, Haushaltsauflösung und Kündigung aller möglichen Konten und Verträge bewerkstelligt werden.

Unser Tod ersäuft in deutscher Regelungswut, die auch auf dem Friedhof nicht endet. Oft sind die Angehörigen nur mit dem Organisieren beschäftigt und merken gar nicht, wie der so wichtige Moment der Trauer sich immer weiter verschiebt. Oft vergehen sogar Jahre, bis ein Trigger genügt, und all das nicht Abgearbeitete drängt nach oben, bricht der Mensch, der sich immer für stark und unersetzlich gehalten hat, zusammen.

Über das Akzeptieren

Im Buch kommen viele Trauerredner und Trauerbegleiterinnen zu Wort, Psychologen, Mitstreiter von Trauerhilfevereinen, aber auch viele Betroffene, die dann ihre eigene Geschichte erzählen und vor allem die Geschichte ihrer Trauer. Denn der kann man nicht ausweichen. Sie ist die natürliche Reaktion unserer Psyche auf Tod und Verlust. Und es gibt keine Mittel dagegen. Trauer bewältigt man nur, indem man sie zulässt.

Was eigentlich nicht nur auf die Trauer zutrifft, die ja nur eines von vielen überwältigenden Gefühlen ist, die unser Leben ausmachen. In mehreren Beiträgen wird das Prinzip der „radikalen Akzeptanz“ thematisiert. Das direkt mit dem lyrischen „Es ist, wie es ist“ korrespondiert.

Wir können es nicht ändern, wäre die eine Interpretation. Die andere wird gerade bei den Berichten der Betroffenen deutlich: Erst wenn wir auch die scheinbar schlimmen Gefühle akzeptieren, spüren wir unser Leben. Denn das, was uns verletzlich und verwundbar macht, das ist unser Leben. Manchem ist das zu viel. Logisch, dass einige Kapitel auch in diesem Buch wieder den Bereich der psychischen Belastungsstörungen berühren.

Aber die sind nun einmal nichts Außergewöhnliches, erzählen im Grunde nur davon, wie leicht unsere Psyche aus dem Gleichgewicht geraten kann. Und dass manche gesegnet sind mit einem ausgeglichenen Gemüt und andere schwer zu kämpfen haben. Erst recht, wenn der Tod geliebter Menschen die Sinnfrage in aller Härte stellt und man selbst nicht mehr weiterweiß.

Und da stellt sich natürlich auch heraus, dass es überhaupt keine gute Idee ist, den Tod in unserer von Spaß und Konsum berauschten Gesellschaft zu verstecken, regelrecht unsichtbar zu machen. Ein Thema, das ja gerade in den beiden Corona-Jahren 2020 und 2021 auf einmal sehr präsent wurde, als Bilder vom Sterbenden auf deutschen Intensivstationen genauso die Runde machten wie überfüllte Lagerräume in Beerdigungsinstituten, Beerdigungen ohne Publikum, von Todeswellen erfasste Pflegeheime usw.

Kein Platz für den Tod?

Die einen starben einsam, abgeschottet von der Außenwelt. Und den anderen war die Gelegenheit zum Abschied genommen. Ein Abschied, der zwar bitter ist, der aber nie so ein tiefes Loch in der Seele hinterlässt wie das stille Verschwinden geliebter Menschen. Dabei haben wir eine reiche Trauerkultur.

Sie steckt auch in unseren Religionen, Liedern und Geschichten. All das wird ebenfalls beleuchtet, denn natürlich wollten Schwarwel und Sandra Strauß auch ein Bild davon zeichnen, wie wir heute tatsächlich mit Tod und Sterben umgehen. Und wie es früher und in anderen Gesellschaften üblich war.

Und auf einmal wird sichtbar, dass der Tod, seit er scheinbar im Alltag völlig verdrängt wurde, im Comic, in Horrorfilmen und ganzen musikalischen Sub-Kulturen wieder „lebendig“ wurde, thematisiert von Künstlern, denen in der Regel, klar war, dass es kein Leben ohne Tod gibt, dass ausgerechnet der Tod die Sinnfrage stellt und dass es zu spät ist, wenn man sich erst in der Trauerhalle mit der Vergänglichkeit des eigenen Lebens beschäftigt.

Schon gar nicht in unserer Zeit, die auch wieder lernen muss, dass unsere Vorstellung von Friedensparadies eine Schimäre ist, ein Trug, in dem wir uns seit Jahrzehnten eingeschlossen haben und so tun, als ginge uns das Leid der Welt nichts an.

Weshalb wir auch auf so viele Kriege „da draußen“ so falsch und ignorant reagiert haben. Das wird etwa sichtbar, wenn Sandra Strauß den Leipziger Journalisten Arndt Ginzel interviewt, der über den Syrienkrieg genauso live vor Ort berichtet hat, wie er es beim Ukraine-Krieg tut.

Oder im Interview mit Hendrik Simon, in dem es um die Seenotrettung auf dem Mittelmeer geht – und das Versagen der Europäer in ihrem dummen Glauben, die Kriege und Nöte Afrikas gingen sie einfach nichts an. Auf einmal spürt man, wie nahe es einem wirklich geht, wenn man mit dem realen Leid der Menschen konfrontiert wird und auch mit den Helfern und Kriegsberichterstattern leidet, die bereit sind, sich all dem auszusetzen.

Auf der Seite des Lebens

Und eigentlich ist die Trauer auch bei uns zu Hause – etwa wenn Timo Wuerz über die Klimatrauer spricht, unter der immer mehr Menschen leiden. Auch bei uns. Denn es sind nicht erst die Bilder von Überschwemmungen und Dürren, die uns erschüttern.

Sterbende Wälder, austrocknende Flüsse, leergeräumte Agrarlandschaften, verstummende Wiesen, das Verschwinden von Insekten, Vögeln und Tieren der heimischen Landschaft machen uns genauso betroffen. Nur dass wir diese Trauer meist nicht zulassen, lieber verdrängen und haufenweise Ausreden suchen, obwohl die Abwesenheit lebendiger Natur uns krank macht. Etwas, worüber ja Ernst Paul Dörfler immer wieder geschrieben hat. Zuletzt in seinem Buch „Auf’s Land“.

Wir können gar nicht anders, als in Verbundenheit zu leben. (Ein Thema, mit dem sich ja Gerald Hüther immer wieder beschäftigt.) Sind wir nicht verbunden, leben wir nicht und gehen seelisch zugrunde. Damit haben sich auch Philosophen seit über 2.000 Jahren beschäftigt, auch wenn das schon den alten Griechen sehr theoretisch geriet, wie Héctor Wittwer in einem Vorwort zu einem Reclam-Bändchen herausarbeitet.

Als wenn es in Bezug auf den Tod überhaupt vernünftige Verhaltensweisen gäbe. Oder gar die letztlich sinnfreie Frage „Was ist der Tod?“ diskutiert werden muss. Eine Frage, die in diesem Band auch durch kleine Geschichten und viele Karikaturen konterkariert wird, etwa in Schwarwels kleinem Dialog zwischen dem Tod und dem Leben.

Und das Mädchen, das bei ihm das Leben darstellt, kann einfach nicht begreifen, dass der Tod das große Nichts ist. Dass eine große schwarze Leere die Antwort ist auf die Frage, warum alles, was wirklich wichtig ist, hier passiert – auf der Seite des Lebens.

Auch wenn manch ein Autor durchaus offenlässt, ob sich die Wünsche derer, die an ein Dasein im Jenseits glauben, erfüllen. Auch das so eine Knobelaufgabe der Philosophen seit der Antike – sogar eine sehr beliebte, weil sie die Antworten auf die wirklich drängenden Fragen unseres Lebens in einen Raum verlagert, in dem wir sie nie erfahren werden. Da kann man sich also bis in alle Ewigkeit streiten und dicke Wälzer schreiben.

Wir brauchen eine Endlichkeitskultur

Aber die Trauer ist irdisch, heftig und zutiefst diesseitig. Wir erleben sie alle – hier, in unserem Leben. Oft mit brutaler Gewalt. Der kleinste Erinnerungsfetzen kann sie auslösen. Und nur zu oft bleibt man ungetröstet, weil die anderen sich entziehen, verschließen oder gar noch stolz darauf sind, cool zu bleiben, selbst dann, wenn sie bis zur Nasenspitze in schwerer Traurigkeit schwimmen.

Da werden dann die vielen Erfahrungsberichte von Betroffenen und von Fürsorgenden wichtig, die im Grunde vor allem raten, dass man sich in solchen Momenten nicht entziehen darf. Dass einfach das Füreinanderdasein hilft, auch wenn es manchmal nicht so aussieht, dass der Trauerberg leichter wird, weil jede Trauergeschichte anders abläuft.

Nur eines funktioniert nicht: Die Trauer nicht zuzulassen. Denn mit dem geliebten Menschen stirbt immer ein Teil von einem selbst – und wenn es nur die Hoffnung ist, den geliebten Menschen immer bei sich zu haben. Was wir brauchen – so benennt es ja der Feuerbestatter Frank Pasic – ist eine Endlichkeitskultur.

Der Tod braucht einen Platz in unserem Leben. Nicht nur als Gewissheit, dass wir auch Menschen verlieren, die uns unersetzlich sind. Das ist nur die eine Seite. Die andere ist das Wissen darum, dass es beim Denken an den Tod immer um das Leben geht, das Leben, das wir im Hier und Jetzt führen.

Und das wir mit Sinn erfüllen, mit Menschen und Verbindungen. Eigentlich verwurzeln wir uns ja auf diese Weise und brauchen diese Wurzeln auch. Was ausgerechnet jene besonders heftig erleben, die eine Kindheit ohne liebende Eltern gehabt haben, mit Menschen aufwuchsen, die nicht fähig waren, Zuneigung zu zeigen und den kleinen Menschen zu akzeptieren. Auch das gibt es und wird unter den Erlebnisberichten auch geschildert.

Endlich Zeit, darüber zu sprechen

Womit füllt man diese Leere, wenn man nie lernen durfte, restlos zu vertrauen? Das Buch beginnt nicht ganz grundlos mit einer fetten Triggerwarnung, denn es enthält so viele Geschichten und persönliche Sichtweisen, dass viele Leser darin auch Berührungspunkte zum eigenen Leben finden werden. Aber sollte man deshalb die Finger davon lassen?

Das diskutieren Sandra Strauß und Schwarwel in direktem Bezug zum ersten „Nicht gesellschaftsfähig“-Buch, das mittlerweile in der 2. Auflage vorliegt und bei vielen Menschen auf großes Interesse gestoßen ist. Gerade weil es einen so dicken Almanach zu psychischen Leiden bisher noch nicht gab. Und auch nicht mit so vielen Facetten und Blickwinkeln. Das Buch hat gefehlt, attestierten viele Leser. Manche auch: Es kam eigentlich zu spät.

Aber es kam ja auch deshalb heraus, weil die Diskussion über psychische Leiden überhaupt erst einmal die Schwelle zur Wahrnehmung durchbrochen hat und in der gesellschaftlichen Debatte die Betroffenen nicht mehr grundsätzlich ignoriert und ausgegrenzt wurden. Dazu leiden viel zu viele unter verschiedensten Formen seelischer Belastungen.

Und genauso ist es mit dem Tod und der Trauer. Die rasende Konsumgesellschaft kann damit nichts anfangen. Das Leben und die Gefühle der Lebenden interessieren sie nicht, wenn sie nicht verwertbar sind. Aber das ist keine zukunftsfähige Gesellschaft, das sieht man ja inzwischen allerenden. Sie zeichnet sich durch Gefühllosigkeit, Raubbau und Unverbundenheit aus, die immer mehr Menschen auch als Einsamkeit erleben. Und damit als echten Verlust an Lebendigkeit.

Dem Tod einen Platz geben

Viele Geschichten in diesem mit Fotos und vielen Grafiken angereicherten Buch erzählen davon, wie die Betroffenen mit Trauer und Verlust umgehen, wie sie selbst Angebote schufen, um anderen bei der Trauerarbeit zu helfen, oder wie sie das Thema in ihre eigene künstlerische Arbeit aufnahmen, um damit auf zutiefst menschliche Weise umzugehen.

Manchmal auch voller Humor wie in den vielen Comics, in denen der Tod mit seiner Sense durch die Welt spaziert und die verdutzten Menschen in seltsame Situationen bringt. So wie auch in Schwarwels Universum, dessen Figuren immer die ganze Spannweite des Lebens ausloteten.

Und sogar einen kleinen wissenschaftlichen Beitrag gibt es, der zeigt, wie Ängstlichkeit, Trauer und Depression in der Corona-Pandemie zunahmen. In allen Altersgruppen. Wir können so tun, als würde uns die Gefährdung unseres Seins überhaupt nicht berühren. Aber was wir vor uns verstecken, erwischt uns doch.

Meistens sogar dann, wenn wir nicht damit rechnen und einen Moment lang wehrlos sind. Und deshalb steht im Buchtitel eben am Ende das Leben. Denn um das geht es die ganze Zeit. Bis zu dem Tag, an dem der große Schlussstrich gezogen wird und wir meistens viel zu spät merken, was wir uns alles nicht getraut haben auszusprechen.

Sandra Strauß / Schwarwel (Hrsg.) „#nichtgesellschaftsfähig. Tod, Verlust, Trauer und das Leben, Glücklicher Montag, Leipzig 2022, 34,90 Euro

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