Zuletzt, wenn Schwarwel seine Geschichte zu Ende erzählt haben wird, wird „Gevatter“ so etwas sein wie ein gewaltiger Lebens-Comic des Leipziger Zeichners. Denn wer sich so intensiv mit den Ursachen für seine Depressionen beschäftigt, der geht an den Kern seines Lebens. Der erzählt das, was uns wirklich sensibel und aufmerksam macht für das Leben auf diesem einzigartigen Planeten.

Der erzählt von all den Dingen, die wir so gern verdrängen, ganz unten verstecken in der Erinnerung. Nur ja nicht drüber reden. Denn erzogen wurden wir ja alle dazu, stets beherrscht zu sein und nach außen cool und abgehärtet zu wirken. Das war auch in jenem sozialistischen Kleinstaat so, in dem Schwarwel aufwuchs und mit den Mächtigen und Halbmächtigen aneinandergeriet.

Auch die Szene mit dem Vergewaltiger, die schon in „Kapitel Zwei: Zorn“ angerissen wurde, spielt in den 1980er Jahren. Im Band Drei erfahren wir, wie sie ausging und warum das den jungen Tim überhaupt nicht aus seiner Frustration erlöste. Denn er weiß, dass man in diesem Land nicht unbeschwert sein kann. Beim wilden Zelten an der Ostsee erwischt? Da war dann Abi und Studium schon mal gestrichen. Ein allwissender Staatsapparat zeigt auch dem vorbildlichen Helfer der Polizei, wo der Hammer hängt. Und dass man nie damit rechnen kann, dass die Überwachung aufhört.

Dass so viele Menschen in Tims Umgebung an Selbstmord denken, gehört dazu. Haben das nur so viele Leute einfach vergessen? War ihr Leben tatsächlich nie so überschattet? Oder haben sie es einfach nie an sich herankommen lassen und sind noch immer stolz, wie locker sie all die Zumutungen, Einengungen und Schikanen hingenommen haben?

Eine Verhandlung gibt es tatsächlich in diesem Heft. Der Vergewaltiger wird ja erwischt und Tim wird zum Zeugen. Aber die Szenen überblenden einander. Im nächsten Moment sitzt er ja wieder seinem Therapeuten gegenüber, dem er das alles über 30 Jahre später endlich erzählen kann. Denn Albträume hegt man erst ein, wenn man sie benennt, wenn man nicht mehr so tut, als ließen sich diese Gespenster einfach irgendwo in den Tiefen der Erinnerung einsperren.

Denn so sind sie immer wieder reaktivierbar und werden ausgenutzt von den Angstmachern, die es immer gibt. Die das Spiel mit der Macht, der stillen Erpressung und der Angst nur zu gut kennen. Sie sind längst wieder da und spielen die Klaviatur der Selbstgerechten, und sie verkaufen sich wieder als die Retter des Vaterlandes. Um große Phrasen sind sie nie verlegen.

Und diesen Ton haben sie immer noch drauf: „Wir wissen doch, was du für einer bist.“ Wer nicht wie sie ist – grau und rundgelutscht – wird von ihnen dämonisiert. Deswegen solche wahnsinnigen Begriffe wie Volksgemeinschaft. Jener gesichtslose, fade Körper, in den man eintaucht und schweigt und fortan nicht mehr aufzufallen versucht. Wer das Richtigsein in einer Gesellschaft so definiert, der schafft Angst. Der vergiftet das Miteinander, sät Misstrauen und Verdächtigung.

So gesehen stimmt das schon: Die AfD ist das direkte Erbe der Finsternis aus DDR-Zeiten. Beamtendünkel und Kontrollwut, Gleichmacherei und Verachtung für Andersdenkende. „Wende 2.0“ heißt nun einmal genau das: Zurück in überwachte und obrigkeitliche Zeiten, in Zeiten, in denen graue Eminenzen bestimmen, was gesagt und gedacht werden darf.

Und gefühlt.

Das ist der Kern von Schwarwels Graphic Novel. Denn wenn schon das Leben des Jugendlichen von lauter Denk- und Sprech- und Fühlverboten umstellt ist, wenn man das Gefühl hat, dass der allgegenwärtige Kontrolleur auch schon im eigenen Kopf sitzt – dann beginnt die Krankheit der Seele. Dann kommt das denkende und fühlende Wesen in Not. Etwas, was die Sensiblen und Kreativen im eingemauerten Land alle gespürt haben.

Und wenn die Not schon die Eltern belastet, kann eine Jugend ziemlich düster werden. Eine Jugend, die Tim auch in einer Punkband zubringt, in der er über die Ängste seiner Mutter nur einen englischen Songtext schreiben kann. Auf deutsch wäre ihm das unmöglich. Der Text wird zum Teil der Geschichte, die eben auch zeigt, wie einsam einer werden kann, wenn er mit den bedrückenden Gefühlen allein bleibt. Selbst sein erster Therapeut ist ja schon auf dem Absprung in den Westen.

Und man wundert sich, warum das so selten thematisiert wird, wie krank das Land nach 40 Jahren eigentlich war und wie bedrückend in den 1980er Jahren die Stimmung des Es-geht-nichts-mehr.

Von der heute nichts zu spüren ist. Das ist ein Märchen, das die erzählen, die ihre „Volksgemeinschaft“ gern wieder genauso hätten – uniform, widerspruchslos und zum Klappehalten verdammt. Es ist nicht wirklich ein Wunder, dass Schwarwel gerade jetzt eintaucht in diese Geschichte, die ja eine vielschichtige ist, auch wenn Tims Niedergedrücktsein scheinbar dominiert und alle Erinnerungsfetzen einfärbt in drückendes Schwarz. Denn gleichzeitig erzählt die Geschichte eben von jungen Menschen, die sich nicht mehr bändigen und niederdrücken lassen wollen, die Auswege suchen, indem sie den größtmöglichen Protest gegen Norm und Zwang suchen.

Und auch Tim kennt das Aufbegehren gegen dieses allgegenwärtige „Leider geht’s weder nach dir noch nach mir …“

Wer damals nicht mit Baldrian beduselt war, der kennt diese Sprüche nur zu gut, die einem ja nicht nur graue Vorgesetzte entgegenbrüllten, sondern auch Eltern sagten, die zu Recht besorgt waren, dass ihr Kind in die Mühlen eines Staates geraten könnte, der Abweichungen von der Norm als Sabotage und Verbrechen behandelte. Als Angriff gar auf seine heilige Allmacht.

Doch Schwarwel lässt dieses Kapitel mit einer krachenden Pointe enden und Tim lauthals in die Straße brüllen: „Die Partei, die Partei, die hat immer recht …“

Das verspricht einen echten Aufruhr im nächsten Kapitel, auch wenn das dann erst mal als „Depression“ angekündigt wird.

Aber nicht nur Schwarwel erzählt in Kapitel Drei, wie wichtig es ist, sich mit den Gespenstern der Vergangenheit auseinanderzusetzen und dabei auch an die Wurzeln zu rühren, an Lebens- und Todesangst (die beide engstens miteinander verwandt sind). Auch Nicholas Müller schrieb einen Beitrag für dieses Heft, der nur scheinbar flapsig erzählt, warum man sich gerade deshalb, weil dieses einmalige Leben auf dieser Erde so kurz ist, mit dem Tod beschäftigen sollte.

Denn wer sein Leben nicht wirklich offenen Auges und Sinnes lebt, bevor er auf dem Totenbett liegt, der verpasst wirklich alles. Und der wird auch nie so souverän Abschied nehmen, wie es Schwarwel von seinem Großvater erzählt. Denn das kann man nur, wenn man auch den Allernächsten sagen kann, wie wichtig sie einem waren und sind.

Denn das ist der Reichtum des Lebens. Herzensbildung nennt es Schwarwel.

Und da ist auch für Schwarwel die „fürchterliche Schulbildung“ nicht weit. Und damit meint er nicht nur die im System Margot Honeckers. Sondern auch die heutige, die noch viel technokratischer gedacht ist und vor allem eines nicht bildet: denkende und fühlende Menschen. Denn dazu müsste man sich mit den Wurzeln des Menschseins beschäftigen. Mit Fragen wie: Was macht mich wirklich zum Menschen? Und was macht mein Leben tatsächlich reich und lebenswert?

Die Graphic Novel „Gevatter” nimmt sich – Kapitel für Kapitel – genau dieses Themas an.

Schwarwel „Gevatter. Kapitel drei. Verhandlung“, Glücklicher Montag, Leipzig 2019, 3,90 Euro

Zorn: Schwarwels Held Tim taucht in die Ängste seiner Kindheit ein

Zorn: Schwarwels Held Tim taucht in die Ängste seiner Kindheit ein

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