Wie geht man dieses Jahr 2023 an, von dem wir noch gar nichts wissen? Mit Wut? Mit Trauer? Mit Zuversicht? Oder mit der Gelassenheit eines Menschen, der weiß, dass alles vergänglich ist und jeder Tag ein Geschenk? Mit Vergänglichkeit hat sich Schwarwel in den vergangenen zwei Jahren sehr ausgiebig beschäftigt. Eigentlich auch schon vorher. Aber mit zwei dicken Büchern wurde es besonders intensiv.

Die gab er gemeinsam mit Sandra Strauß und unter Zuarbeit vieler sensibler Menschen heraus, die sich mit all den Themen beschäftigten, die wir in unserer von Konsum und Oberflächlichkeit dominierten Gesellschaft gern unter den Teppich kehren.

Aber diese Themen begegnen uns trotzdem immer wieder: Tod, Verlust, Trauer, aber auch jede Menge psychische Belastungen, die uns allesamt daran erinnern, dass das Leben voller Fährnisse ist, manchmal schwer zu ertragen, aber auch voller Glück, wenn wir Phasen der Niedergeschlagenheit wieder hinter uns lassen können.

Das erste – „Nicht gesellschaftsfähig – Alltag mit psychischen Belastungen“ – erschien 2021, das zweite – „#nichtgesellschaftsfähig – Tod, Verlust, Trauer und das Leben“ – 2022. Beide Bücher wurden von Schwarwel mit großformatigen Grafiken gestaltet, die ihn nicht nur als Comic- und Cartoon-Zeichner zeigen.

Denn wenn es ums Leben geht, öffnet sich der Blick auch für die Seiten der Welt, die wir meistens kaum noch wahrnehmen, überschüttet und getrieben wie wir sind vom ständigen Eilen, Informationenverschlingen, In-Panik-Geraten, Fürchten und Bangen. Ein Großteil unserer Medienwelt ist völlig außer sich – und es sieht auch nicht so aus, als wenn sich das noch ändern würde.

Und natürlich passt das zum Hamster im Laufrad, als der sich immer mehr Mitmenschen fühlen, zum andauernden Gefühl der Überforderung, das sich dann so oft in Wut und Klagen, Jammern und Zetern entlädt.

Deutliches Zeichen dafür, wie viele Menschen schon lange außer sich sind.

Was eben auch heißt: Sie sind nicht bei sich. Sie haben den Kontakt verloren zu ihren wirklichen Gefühlen, Träumen, Sehnsüchten und zu jenem wärmenden Selbst, das uns erst in die Lage versetzt, unser Leben tatsächlich zu leben. Und nicht das Leben anderer Leute.

Das in der Regel kein Leben ist, mit all seinen falschen Vorstellungen von Perfektion, Flexibilität, „Erfolg“, Leistung, Karriere und was der Maschinenparameter mehr sind, mit denen manche Leute glauben, ihr Leben und Dasein messbar zu machen.

Na hoppla: Automatisch der Blick auf die smarte Uhr am Handgelenk? Aufs Smartphone? Vergewissern, dass die Daten stimmen und das grüne Licht blinkt?

Nie waren wir uns und unserer Welt so fremd wie heute.

Die gefilterte Schönheit der Welt

Und nie sahen wir die Schönheit dieser Welt so gefiltert durch Bildschirme und smarte Brillen. Dabei lohnt es sich, hinzuschauen. Denn mit unseren wirklichen Gefühlen, die wir so selten beherrschen und die uns oft so hilflos machen, sind wir trotzdem Teil dieser Welt.

Wir können ja gar nicht anders schauen auf all das Lebendige um uns, ohne uns dabei gefühlsmäßig zu verorten. Zu erden, wie es so schön heißt.

Und das zeigen auch die Grafiken, die Sandra Strauß und Schwarwel für den #nichtgesellschaftsfähig-Kalender ausgewählt haben. Mal sind es die stoisch stillen Kreidefelsen von Rügen, die dem Auge Ruhe geben, mal erinnern Mohnblüten daran, wie berauschend schön allein der Anblick eines blühenden Mohnfeldes sein kann, mal schaut man mit Wölfen in die heraufziehende Nacht. Wonach schauen sie? Nach Beute? Oder beobachten sie nur aufmerksam das unverständliche Treiben der Menschen?

Und mittendrin zwei dieser anheimelnden Szenen mit Herrn Tod und Frau Leben, die sich in Schwarwels Comicstrips immer wieder über die unendliche Frage unterhalten, was da eigentlich kommt nach dem Leben. Eine Frage, die letztlich nur Sinn ergibt, wenn man sein Leben vorher tatsächlich gelebt hat.

Weniger, wenn man es nur ausgesessen, vertan und verloren hat, weil man nie auf die Suche gegangen ist nach sich selbst und den Dingen, die einen tatsächlich treffen, betreffen, umhauen und ganz tief Luft holen lassen.

Auf dem grünen Hügel

Und dabei scheint es Herr Tod genauso zu genießen, mit Frau Leben fasziniert in die immer anderen Himmel zu schauen, die vom kleinen grünen Hügel aus zu sehen sind. Symbole für die Ewigkeit genauso wie für das ständige Werden und Vergehen.

Sodass selbst das Dezemberbild mit Schnee und Sternen tröstlich ist. Das Leben geht weiter. Und jeder Tag hat ein eigenes Kästchen, in das man hineinschreiben kann, was einem wichtig ist.

Und es stehen sogar schon Dinge drin, die in anderen Kalendern für gewöhnlich nicht stehen. Der 18. Dezember etwa als Internationaler Tag der Migranten, der 20. Dezember als Internationaler Tag der menschlichen Solidarität oder – wenn es dann ins neue Jahr geht – der 21. Januar als Weltknuddeltag.

Denn darum geht es am Ende: Nie allein auf dem grünen Hügel sitzen zu müssen und in den Sternenhimmel zu schauen. Auch wenn einem dazu meist nicht mehr einfällt als „Herrlich!“, „Mächtig!“ „Gewaltig!“

Da sucht man sich dann eine oder einen, mit denen man schauen und staunen kann. Denn Leben ist immer vorher. Auch wenn irgendwelche Narren einem etwas anderes einzureden versuchen.

Wandkalender 2023 „#nichtgesellschaftsfähig“, Glücklicher Montag, Leipzig 2022, 11,90 Euro

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