Am Dienstag, 30. Oktober, veröffentlichte die Bertelsmann-Stiftung ihre neueste Studie "Schulformwechsel in Deutschland". Selbst das Fazit der Studienautoren ist eindeutig: "Für Schüler geht's öfter runter als rauf". Und Sachsen steht kein bisschen besser da als die anderen Bundesländer. Auch wenn die sächsische Statistik auf den ersten Blick Erstarrung zeigt.

“In Sachsen haben 2.260 Schüler im Schuljahr 2010/11 zwischen Klasse fünf und zehn die Schulform gewechselt. Das sind 1,6 Prozent aller Schüler in der Sekundarstufe I und damit weniger als im Bundesdurchschnitt (2,2 Prozent)”, heißt es in der Auswertung der Studie. Und dann werden die Forscher deutlich: “Für die meisten dieser Schulformwechsler ging der Fahrstuhl nach unten: Auf einen Aufsteiger kommen 4,7 Absteiger. Sachsens Schulsystem verzeichnet damit das ungünstigste Verhältnis zwischen Auf- und Abstiegen aller ostdeutschen Flächenländer.”

Ist ja nicht so, dass kluge Köpfe mit möglichst hohem Bildungsabschluss nicht gebraucht werden. Es ist nur eine Frage der Zeit, da werden Sachsens Unternehmen und selbst der knauserige Freistaat nach ihnen schreien.

Aber wie man die jungen Menschen dazu bringt, ihre Leistungspotenziale zu trainieren und zu entwickeln, das scheint man in Sachsens Politiketagen gänzlich vergessen zu haben. Irgendwie ist man in einem vergangenen Jahrhundert steckengeblieben und glaubt, man könne Kinder wie Möhren und Erbsen sortieren, ganz simpel nach Notendurchschnitt. Obwohl jeder Lehrer mittlerweile weiß, wie subjektiv Notendurchschnitte sind. Aber das ganze sächsische Bildungssystem ist auf so eine Norm hin angelegt und nicht – wie man es eigentlich von einem leistungsstarken Bildungssystem erwarten könnte – auf Motivation.

“Das Gymnasium verließen 1.261 Schüler in Richtung Mittelschule”, rechnen die Ersteller der Studie vor. “Ein Aufstieg von der Mittelschule zum Gymnasium hingegen gelang lediglich 276 Schülern. Dies ist vor allem vor dem Hintergrund erstaunlich, dass in der Mittelschule der Aufstieg zum Gymnasium am Ende der Klasse 6 noch einmal durch eine Bildungsgangempfehlung ausdrücklich geprüft werden soll. Die Aufstiegsmöglichkeit ist allerdings streng an einen bestimmten Notenschnitt gekoppelt. Unter dem Strich verlieren die sächsischen Gymnasien innerhalb der Sekundarstufe I zehn Prozent ihrer Schülerschaft.”

Und dann findet Jörg Dräger, Bildungsexperte und Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung, sehr deutliche Worte für das alle Jahre erneuerte Geschwätz vom modernen und durchlässigen zweigliedrigen sächsischen Bildungssystem.Denn eine wichtige Ableitung aus den Ergebnissen der Studie ist auch für Sachsen, dass die Schulstruktur nicht der entscheidende Faktor für mehr Chancengerechtigkeit ist. Die Struktur der Schulsysteme beeinflusst zwar deren Durchlässigkeit, so die Studie, der Typus zweigliedrig oder mehrgliedrig allein sei jedoch nicht entscheidend für die Aufstiegschancen der Schüler. Wichtiger sei es, dass sich Unterricht am pädagogischen Prinzip der individuellen Förderung ausrichtet und Lehrer in Aus- und Fortbildung die Kompetenz dafür erwerben.

“Auf Abschulungen und Klassenwiederholungen kann man dann weitgehend verzichten”, sagte Dräger. “Zudem sollten neben dem Gymnasium alternative Wege eröffnet werden, das Abitur machen zu können.”

Man beobachte zwar bundesweit den Trend hin zur Zweigliedrigkeit. Doch selbst da sind die Bundesländer augenscheinlich darauf bedacht, völlig unterschiedliche Schultypen zu hegen und zu pflegen. Nur das Gymnasium gäbe es in allen Bundesländern. Aber auch nicht wirklich. Denn während in Sachsen schon nach der 4. Klasse gesiebt wird und Bildungskarrieren fürs Leben festgelegt werden, tun das Bundesländer wie Mecklenburg-Vorpommern erst nach der 6. Klasse. Das frühe Sortieren der Schüler sieht Dr. Eva-Maria Stange, bildungspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag, als einen der Hauptgründe dafür, dass viele sächsische Schüler ihr Potenzial gar nicht erst entfalten.

“Die frühe Aufteilung der Schüler bereits nach Klasse 4 produziert mehr Verlierer im Bildungssystem als Gewinner. Die SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag sieht im längeren gemeinsamen Lernen in einer Gemeinschaftsschule die einzige Möglichkeit, allen Kindern gerechte Bildungsaufstiegschancen zu geben. Nur so werden alle Talente individuell gefördert anstatt einer ständigen Auslese ausgesetzt zu sein”, sagt sie. “Wir sind dagegen, dass die Bildungsbarrieren in Klasse 4 weiter verschärft werden, wie es nunmehr unter der schwarzgelben Regierung der Fall ist. Nach unserer Auffassung sollten die Kinder mindestens bis Klasse 8 gemeinsam lernen.”

Sichtbar wird hinter dem Dilemma ein völlig auf den Kopf gestelltes Wettbewerbsdenken, eines, das Wettbewerb von der “Elite” her denkt: Es definiert Konkurrenzfähigkeit über Mindeststandards. Wer die nicht erfüllt, verliert seine Chance, wird sogar faktisch vom Wettbewerb ausgeschlossen. Das System ist nicht auf gleiche und faire Wettbewerbsbedingungen für alle ausgerichtet, sondern begünstigt die Starter mit den besseren Ausgangsbedingungen.

Was durch den selbstorganisierten Lehrermangel in Sachsen noch verschärft wird. Wo das Personal zur Stundenbesetzung sowieso knapp ist, fehlt von vornherein der Puffer, den Dräger fordert: der für die individuelle Förderung der Schüler.

Denn auch das wird mit der einen Orientierung am Notendurchschnitt weggebügelt: dass Kinder immer unterschiedlich talentiert sind und ein Erfolg im Zensuren-System noch lange nicht heißt, dass der junge Mensch damit seine Fähigkeiten entfaltet. Es ist auch ein System, das die Angepassten bevorteilt und Durchschnitt produziert.

Aber vielleicht ist genau das der stille Wunsch dabei. Man will ja eigentlich keine Nobelpreisträger.

Die neue Studie der Bertelsmann-Stiftung:
www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/SID-63D6592C-41BAD4B2/bst/hs.xsl/nachrichten_113951.htm

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar