"Sprachraum" hieß das erste Jubiläumsheft der Deutschen Nationalbibliothek, die in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag feiert. "Klangraum" heißt das zweite. Und müsste doch auch virtueller Raum heißen. Denn hier überschneiden sich die Welten. Und die Nationalbibliothek steht vor Herausforderungen, deren Lösung noch völlig in den Sternen steht.

Denn bevor es um Musik geht und all die Freuden des modernen Urheberrechtsschutzes, geht es um einen nun schon vor sechs Jahren erteilten Sammelauftrag: Die Deutsche Nationalbibliothek soll seitdem auch Netzpublikationen sammeln. Denn die Entwicklung des Internet hat auch eine Differenzierung zur Folge gehabt: Nicht alles, was für den täglichen Lesebedarf der Deutschen produziert wird, erscheint noch in gedruckter Form.

Das betrifft nicht nur Bücher, die immer öfter als E-Book oder Print-on-demand-Publikation erscheinen, das betrifft auch Dissertationen und ganze Zeitungen. Während man sich die PDF-Version von Büchern durchaus schicken lassen und sie zentral speichern kann, wird es bei Online-Zeitungen schon schwierig. Im ersten Schritt machte man es sich einfach: Man ließ sich die E-Paper-Version der Print-Zeitungen schicken. Was natürlich eher Mumpitz ist, weil die Zeitung ja zumeist in gedruckter Form genauso aussieht. Das eigentlich drängende Problem aber hält die Fachleute bis heute in Atem: Wie bewahrt man all das andere, was an relevanter Textproduktion im Netz passiert, für spätere Generationen? Wie und was speichert man da?

Technisch ist man zwar mittlerweile so weit, das Netz auf die relevanten Seiten hin zu durchkämmen. Web-Harvesting nennt sich das Prinzip. Die Gefahr dabei – so Reinhard Altenhöner, IT-Leiter der Deutschen Nationalbibliothek – ist der überflüssige Beifang. Mit unübersichtlichen Datenbergen ist niemandem gedient. Und die Speicherung soll ja auch so sinnvoll und übersichtlich erfolgen, wie das bislang mit den Druckmedien auch passiert.
Ob der Spagat gelingt, wird ab Sommer 2012 zu sehen sein. Dann wird die digitale Bibliothek der Deutschen Nationalbibliothek mit den Ergebnissen des Web-Harvesting befüllt. “Nur durch Archivierung der Inhalte kann das digitale kulturelle Erbe für zukünftige Generationen bewahrt werden”, schreibt Ulrich Erler. Und weist auf den durchaus wichtigen Fakt hin, dass die Lebensdauer von Web-Ressourcen in der Regel 100 Tage beträgt. Dann werden Inhalte oft gelöscht, überschrieben, ausgetauscht. Denn das Netz bildet ja die aktuelle Kommunikation ab, ist nicht als Archiv konzipiert, auch wenn Mega-Kraken wie Facebook alles archivieren, was ihnen in die Fänge kommt.Und dann an der Börse versilbern.

Auch deshalb sind die meisten Diskussionen um Internet und Urheberrecht so dissonant. Denn die Arbeitsprinzipien der Deutschen Nationalbibliothek zeigen, wie man mit geistigem Eigentum so schützend wie möglich umgeht. Auch die geernteten Ergebnisse aus dem Internet landen nicht wieder in großen Maschinen, die sie dem nächstbesten Kunden als Marketingmasse anbinden. Lesen kann man das Geerntete wieder nur im geschätzten Raum der Bibliothek selbst. Zu Studien- und Forschungszwecken etwa.

Noch knobeln die Verantwortlichen freilich an den richtigen Ordnungssystemen. Denn die digitalen Pakete sind um ein Vielfaches komplexer als die traditionellen Printprodukte. Max Dax etwa schreibt in diesem Heft einen recht bedenkenswerten Artikel über die Probleme der Archivierung etwa aller Bob-Dylan-Auftritte. Irgendwo bei 3.000 Konzerte sind das, fast alle von begeisterten Dylan-Anhängern mitgeschnitten, im analogen Zeitalter auch analog getauscht – doch mittlerweile digital in der Welt. Jedes Konzert ein Unikat, denn Dylan liefert seinen Konzertbesuchern niemals Dutzendware, überrascht mit immer neuen Interpretationen und Stücken. Wie archiviert man so etwas? Und schafft auch noch all die logischen Verknüpfungen, von denen Webmaster so gern träumen?

Und wie macht man das dann mit anderen, ebenso aktiven Musikern? Dass die klassischen Formate von Schellackplatte bis CD im Deutschen Musikarchiv, das seit 2010 in der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig heimisch ist, zu finden sind – keine Frage. Aber auch hier wird mit modernster Technik digitalisiert, bevor ein Tonwerk herausgegeben wird. Wie komplex die Arbeit des Archivs ist, erzählt Christian Sälzer. Und fast nahtlos ist natürlich die Überleitung zu den aktuellen Urheberrechtsdiskussionen.

Dass man da gerade in der arg gebeutelten Musikbranche schon ein ganzes Stück weiter ist als in der deutschen Presselandschaft, diskutiert Ulrich Erler in einem Interview mit dem Medienunternehmer Tim Renner. Der natürlich auch freundlich darauf hinweist, dass auch andere Länder da schon weiter sind als Deutschland. Denn beim Urheberrecht geht es nicht wirklich ums Recht des Urhebers auf eine anständige Honorierung. All die Gesetzeswerke wie ACTA lenken davon nur ab, in denen geht es eher um den Zugriff von großen Konzernen auf das geistige Eigentum anderer. Nicht ohne Grund steht dort in riesengroßen Lettern das Wort “Produktpiraterie” über allen Paragraphen. Das hat mit kreativem Schaffen nichts zu tun. Genauso wenig wie das deutsche Abmahnungswesen, das längst zu einer ganz eigenen Art von Wegelagerei und Piraterie geworden ist.

Das Grundproblem ist: Die großen Torwächter haben noch immer nicht akzeptiert, dass sich die Wege der Distribution verändert haben, dass ein produzierender Konzern nicht mehr den Markt beherrscht, weil er über die Verteiler verfügt. Das Internet macht heute jeden zum Verteiler und zum Käufer. Und die Engpässe entstehen genau dort, wo die Inhaber der Rechte ihr Produkt nicht zu einem fairen Preis oder gar nicht anbieten. Wo Preis und Qualität stimmen und dem Nutzer barrierefrei zur Verfügung stehen, werden die Produkte – seien es Musikstücke oder Filmclips – auch gekauft. Illegale Download-Börsen wie Megaupload oder kino.to haben die Lücke nur gnadenlos ausgenutzt. Sie haben den Suchenden das als illegalen Download angeboten, was die großen Rechteinhaber im Netz nicht anbieten wollten.

Auch die Zeitreise durch die Geschichte der Nationalbibliothek wird in diesem Heft fortgesetzt – in diesem Teil die Geschichte der zwei deutschen Nationalbibliotheken. Denn in Frankfurt am Main entstand ja 1946 ein westdeutsches Pendant, nachdem keineswegs mehr klar war, ob die neuen Machthaber im Osten die gesamtdeutsche Sammelaufgabe in Leipzig weiter zulassen würden. Die Gefahr bestand tatsächlich. Helmut Rötzsch, von 1961 bis 1990 Direktor der Deutschen Bücherei, erzählt aus dieser Zeit, in der er durchaus auch mal unkonventionelle Ministerunterstützung bekam, als die DB aus allen Nähten zu platzen drohte. Und das Wichtigste: Die Beziehungen auch zum Westen blieben erhalten, die westdeutschen Verleger beschickten das Leipziger Haus auch in den kalten Jahren mit kostenlosen Belegexemplaren, so dass es 1990, als beide Häuser zusammengeführt wurden, keine nennenswerten Lücken im Leipziger Bestand gab.

Dafür viele Geschichten über die “Giftkammer”, in der aber auch in DDR-Zeiten nur ein kleiner Teil der Bestandes steckte, etwa der aus der NS-Zeit. Die Buchproduktion aus westdeutschen Verlagen war praktisch immer verfügbar. Das dritte Heft der “Hundert”-Reihe erscheint im Juli.

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