Seit geraumer Zeit erscheint in Leipzig "Regjo. Das Magazin für Wirtschaft und Kultur in Mitteldeutschland". Eigentlich derzeit das einzige Mitteldeutschland-Magazin. Und das Kernanliegen ist natürlich zugleich das Problem: die Kleinteiligkeit der Region. Jedes der drei Bundesländer verfolgt andere Wege und Strategien. Und der Austritt von Dresden und Magdeburg aus dem Metropolverbund Mitteldeutschland zeigt, dass sich die Kommunen nicht anders verhalten.

Man zieht nicht an einem Strang, man teilt nicht die selben Visionen, man bündelt weder Stärken noch Ressourcen. Dabei könnte diese Landschaft zwischen Harz und Elbsandsteingebirge ein Experimentallabor sein. Das ist das, was “Regjo” regelmäßig zeigt, auch wenn es das nicht immer so deutlich macht. Es gibt zu viele Spieler auf dem Feld, die vergrätzt reagieren würden. Nicht nur Politiker in Dresden, Magdeburg und Erfurt, die sich in ihrer Provinzverwaltung so gemütlich eingerichtet haben. Kaum einer dort wagt auch nur visionär die Strukturen von morgen zu denken.

Das einzige, wirklich zukunftsgreifende Projekt, das angepackt wurde (und das eben auch noch in den 1990er Jahren), ist tatsächlich das Mitteldeutsche S-Bahnnetz mit dem Leipziger City-Tunnel, auch wenn es die ursprünglich geplante Dimension von zwei Tunnelröhren für den Nah- und zweien für den Fernverkehr aus Kostengründen nicht bekommen hat. Helge-Heinz Heinker schreibt darüber. Aber selbst die reine S-Bahn-Variante gibt dem mitteldeutschen Raum um Leipzig eine neue Verkehrsstruktur, die auch die Einbindung von Stadt und Land neu zu denken erlaubt.

Darum geht es in diesem Heft. Man kann es als demografische Frage behandeln, als logistische oder infrastrukturelle. Die Landschaft verändert sich. Binnen weniger Jahre schon zum zweiten Mal massiv. Der großen Abwanderungswelle der 1990er Jahre folgt nun seit einiger Zeit der deutschlandweite Trend der (Re-)Urbanisierung: Die junge Bevölkerung drängt in die Metropolen – die ländlichen Räume dünnen aus. Frank Schwartze, Stadtplaner aus Berlin, beleuchtet in einem großen Interview die neuen Herausforderungen dieses massiven Trends in die Großstädte. Städte werden zum “Anker im Raum”, bieten das strukturelle Paket all der Angebote, die (junge) Menschen heute brauchen, um ein selbstbestimmtes Leben leben zu können. Doch mit dem Bevölkerungsverlust sind ländliche Räume zum Umbau gezwungen, teilweise auch zum Abbau von Infrastrukturen. Nicht überall. Das betont Schwartze auch.

Auch manche Klein- und Mittelstädte können sich als “Anker” stabilisieren. Aber vielleicht ist Schwartze zu optimistisch, wenn er erwartet, “dass sich da die ländlichen Räume auch aus Eigeninteresse anpassen werden”. Das würde eine Souveränität voraussetzen, die Kommunen etwa in Sachsen nicht haben. Eher entbrennt um die immer knapperen (finanziellen) Ressourcen ein Hauen und Stechen. Kluge Lenkung von Landesebene ist in allen drei Bundesländern nicht zu erwarten. Auch da müssten Landespolitiker bereit sein, Strukturen der Zukunft zu denken.Und so ist dieses “Regjo”-Heft eher eine Bestandsaufnahme aus dem mitteldeutschen Flickenteppich, wo einfach nicht zusammenfinden will, was zusammen gehört. Da werden in Sachsen-Anhalt fleißig Schlösser verkauft, diverse Kreative versuchen, aus pfiffigen Ideen eine Geschäftsgrundlage zu machen, Immobilienentwickler dürfen ihre neuen Projekte vorstellen, manch ein Neuzeitmensch sucht auch wieder den “Retro-Schick” des verlassenen Dorfes, die Saale-Unstrut-Region bekommt einen Sonderteil. Es gibt auch eine kleine Glosse über die diversen Städterankings, die heutzutage fabriziert werden wie Fließbandware. Irgendwann ist jede Stadt mal der Primus, man muss nur die richtigen Maßstäbe auswählen. So ganz beiläufig wird auch hier deutlich, warum nichts zusammenläuft in Mitteldeutschland: Zu sehr haben auch Kommunalpolitiker das falsche Wettbewerbsdenken verinnerlicht und setzen alles darauf, im “Standortwettbewerb” allein da zu stehen, die viel zu nahe Konkurrenz auszustechen. Man lebt zwar in den selben Landschaften und Strukturen – kriegt aber keine gemeinsamen Projekte (mehr) gebacken.

Vielleicht ein Hoffnungspünktchen: die neue Wirtschaftsförderungsgesellschaft Region Leipzig, in der Leipzig und die Landkreise Leipzig und Nordsachsen seit August 2013 zusammenwirken. Sie wird kurz vorgestellt im Heft.

Aber auch das ist nur ein Pünktchen und kann das Denken in größeren, zukunftsfähigen und nachhaltigen Strukturen nicht ersetzen. Nur: Dafür gibt es weder Lehrstühle noch funktionierende Gremien. Nicht auf wirtschaftlicher und auch nicht auf politischer Ebene. Den meisten Prozessen stehen die Verantwortlichen ratlos bis ignorant gegenüber. Kurz angetippt im Heft: die Gentrifizierung, ein Mechanismus, der – erst einmal in Gang gesetzt – sehr rücksichtslos funktioniert. Man kann ihn nicht verhindern. Aber man kann – und muss – frühzeitig Gegenstrategien entwickeln. Vom sozialen Wohnungsbau bis hin zu echten Freiräumen für neue Lebensstile. Eine klare Aussage: Viele Politiker sind mit der Geschwindigkeit der demografischen Prozesse heillos überfordert.

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Man bräuchte also auch einen anderen Typus Politiker. Echte Landes-Politiker, die in der Lage sind, zusammenhängende Prozesse zu denken und zu gestalten. Davon aber ist im ganzen einst mittleren Deutschland nichts zu sehen. Im Gegenteil: Land bremst Stadt, Stadt bremst Land. Und die Länder sind mit sich beschäftigt. Mit der Verwaltung von Pfründen und Einflusssphären. Man klammert sich ja geradezu verzweifelt an Scholle und Kohle. Das Liedchen von der Kohle taucht im Sonderteil zum Burgenlandkreis auf. Landrat Harri Reiche singt es in diesem Fall. Manches vorgestellte Einzelprojekt sieht zwar sehr futuristisch aus. Aber die eigentliche politische Klammer der Region ist nicht die Zukunft, sondern die gute alte Zeit der Kumpel und Waschfrauen.

Aber auch das ist eine Anregung. Zum Nachdenken: Wohin wollen wir? Oder geht es nur noch um Bestandserhalt? – Dann dürfte der nächste “Regjo”-Band sich wohl dem schönen Thema “Pflege und Friedhöfe” widmen.

www.regjo-mitteldeutschland.de

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