Der 23. April ist offizieller Welttag des Buches. Und zu der Gelegenheit hat das Deutsche Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig in Kooperation mit der Deutschen Digitalen Bibliothek eine virtuelle Ausstellung ins Netz gestellt: „Bahnriss?! Papier | Kultur“. Bahnriss? Das klingt nach einer Katastrophe. Ist es gewissermaßen auch. Nicht nur in der Zeitungsdruckerei.

Die Ausstellung baut auf einer 2016 in Leipzig gezeigten Wechselausstellung auf. Die digitale Präsentation unter dem Dach der Deutschen Digitalen Bibliothek garantiert die nachhaltige Präsentation der wissenschaftlichen Bearbeitung dieses überraschend aktuellen historischen Themas.

Bahnriss!

Wenn im Maschinensaal der Papierfabrik der Ruf „Bahnriss!“ erschallt, ist klar, was Sache ist: Ein technischer Störfall, die Papiermaschine muss neu in Gang gesetzt werden. Doch am Anfang des 21. Jahrhunderts reißt die Papierbahn noch in einem ganz anderen Sinne: Die enge Bindung von Papier und Kultur, die unsere Zivilisation über Jahrhunderte geprägt hat, bekommt im Zeitalter der Apps Konkurrenz, neben das Papier treten moderne, schnellere Medien. Die Verwendung von Papier und seine Bedeutung für die Gesellschaft unterliegen einem umstürzenden funktionalen Wandel.

Blick in die virtuelle Ausstellung. Screenshot: L-IZ
Blick in die virtuelle Ausstellung. Screenshot: L-IZ

Doch nun droht ein ganz anderer Riss – die über Jahrhunderte sich geradezu symbiotisch entwickelnde enge Bindung von Papier und Kultur ist im Zeitalter von Apps und multifunktionalen Fernsehgeräten brüchig geworden.

Und damit ändert sich auch die Rezeption der Nutzer – sie lesen immer seltener, beschäftigen sich immer weniger mit komplexen Zusammenhängen und Hintergründen. Sie konsumieren leicht verdauliche Unterhaltung in Radio und TV und glauben dann, informiert zu sein. 208 Minuten bringen die Durchschnittsdeutschen heute vorm Fernseher zu, 173 Minuten lassen sie sich vom Radio bedudeln. Nur 23 Minuten widmen sie der Tageszeitung, ganze 19 Minuten haben sie für Bücher übrig.

Das alles sind Durchschnittszahlen. Es gibt auch Menschen, die mehr lesen, die den Abend nicht vor schwachsinnigen Spielshows oder Reality-Shows zubringen, sondern sich wirklich mit klugem Lesestoff in den Sessel setzen.

Man kann die Zahl aus der ARD-ZDF-Langzeitstudie auch umrechnen in Personen.

Das kann man sich dann besser vorstellen. Denn dann sieht man 37 von 100 Leuten vor der Glotze sitzen.

31 lassen sich vom Radio bedudeln.

19 haben entweder ihren Computer an oder ein anderes internetfähiges Gerät. Wo sie aber in der Regel Dinge machen wie Chatten, Spielen, Musikhören. Richtig Nachrichten lesen und Medieninhalte wahrnehmen, das machen dort die wenigsten. Rechnerisch: ganze 4.

Ebenso lesen auch nur 4 Leute Zeitung.

4 weitere hören gerade CD oder ein anderes Tonträgermedium.

1 liest eine Zeitschrift.

1 schaut Video.

Und 3 lesen noch ein Buch.

3 von 100 Leuten lesen ein Buch. So klein ist die Gruppe der Leser.

Wenn man auch noch die Zeitungs- und Zeitschriftenleser und die Mediennutzer im Internet dazunimmt, kommt man trotzdem nur auf 12 Menschen unter 100, die Gelesenes noch rezipieren. 12 Prozent. Mehr nicht.

Und nur 3 Prozent sind Buchleser. Wahrscheinlich sind es mehr. Unter den Viellesern, die täglich richtig Bücher lesen („Krieg und Frieden“ und ähnliche Kaliber), gibt es natürlich auch die Leute, die Krimis verschlingen, Liebesromane, Gartenratgeber und Bildbände mit ganz vielen Bildern.

Aber das ändert am Gesamtverhältnis nichts. Die meisten Deutschen verbringen ihre Zeit mit dem Konsumieren von Bildschirm- und Lautsprecherunterhaltung. Sie rezipieren nichts. Und sie lassen sich auch nicht auf den komplexen Lernprozess beim Lesen ein. Die Befürchtung der DNB, dass hier wirklich etwas abreißt, besteht zu Recht.

Denn Bildung ist nun einmal an das geschriebene Wort gebunden. Darauf beruht die gesamte Entwicklung der vergangenen 500 Jahre. Der Zuwachs an Wissen und Aufklärung war immer an das gedruckte Medium gebunden und an das, was die Bildungsforscher Leseverständnis nennen. Denn wer liest, trainiert ja auch sein Abstraktionsvermögen und seine Analysefähigkeit. Und das droht verloren zu gehen. Eine ganze elementare Kulturtechnik scheint von „bequemeren“ Medien verdrängt zu werden. Mit schon längst sichtbaren Folgen einer Gesellschaft, die sich nicht mehr konzentrieren kann und über „Fake News“ redet, als wäre das ein ernst zu nehmender Gegenstand.

Über die Folgen des zunehmend oberflächlicheren Medienkonsums haben wir an anderer Stelle schon berichtet.

Aber all das bedeutet natürlich auch, dass auch nur eine kleine Gruppe wirklich Neugieriger die jetzt im Internet zu betrachtende Ausstellung aufsuchen wird.

Virtuelle Ausstellung

Die Ausstellung „Bahnriss?! Papier | Kultur“ nimmt die wechselvolle Geschichte des Allerweltstoffes Papier in 17 Kapiteln unter die Lupe. Von der Lumpenwirtschaft vorindustrieller Zeiten über das Sicherheitswasserzeichen und stillgelegte Zeitungsdruckpapierfabriken wird der Bogen bis in die Gegenwart gespannt.

Damit reiht sich die Schau in das weite Themenspektrum der virtuellen Ausstellungen der Deutschen Digitalen Bibliothek ein. Ob die Gebrüder Grimm, das Gedächtnis des Tanzes oder die Dresdener Maya-Handschrift, ob die Geschichte der Stadt Karlsruhe oder Forschungsreisen am Anfang des 20. Jahrhunderts: Die Deutsche Digitale Bibliothek zeigt mit ihren virtuellen Ausstellungen die Themenvielfalt der derzeit über 21 Millionen verfügbaren Objekte. Ausstellungsstücke wie Kunstwerke oder Alltagsgegenstände aus Museen, Akten und Urkunden aus Archiven oder Schriftgut – seien es gedruckte Bücher oder Handschriften – ebenso wie historische Audioaufnahmen von Musikstücken oder Tierstimmen werden von über 300 Datenpartnern zur Verfügung gestellt und bilden in ihrer Gesamtschau das weite Spektrum des kulturellen Erbes ab.

Bei der Realisierung der virtuellen Ausstellung „Bahnriss?! Papier | Kultur“ greifen die Deutsche Digitale Bibliothek und Deutsche Nationalbibliothek auf eine jahrelange vertrauensvolle und produktive Zusammenarbeit zurück, die nun auch bei der digitalen Präsentation von Ausstellungen Früchte trägt.

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https://www.l-iz.de/bildung/medien/2017/04/in-eigener-sache-wir-knacken-gemeinsam-die-250-kaufen-den-melder-frei-154108

 

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“Aber all das bedeutet natürlich auch, dass auch nur eine kleine Gruppe wirklich Neugieriger die jetzt im Internet zu betrachtende Ausstellung aufsuchen wird.”

Selbst Schuld, das ist ganz schön spannend. Danke für den Tipp.

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