LeserclubKann es sein, dass man in manchen Berufen landet, weil man gar nicht anders kann? Hätte Herr L. nicht auch Bäcker werden können, Lokführer oder Straßenfeger? Selten hatte er so oft über dieses Rätsel nachgedacht wie in dieser Woche. Wie kommt der Mensch dazu, seine besten Jahre mit Dingen zuzubringen, die ihn zuweilen zutiefst unglücklich machen? Zumindest ratlos, weil augenscheinlich der komplette Rest der Welt einfach weiterströmte wie ein lehmiger Fluss voller Unrat und Müll.

Als wenn in ihn ein kleiner, beharrlicher Pessimist gepflanzt worden wäre. So eine Art Kindheitserbe, irgendein Fehler im Erziehungssystem zeitweilig überforderter Eltern … Nur nicht dran denken … Wenn man so anfängt, die Dinge zu erklären, landet man bei Dr. Freud auf der Couch, sucht alle Fehler bei der Amme und verliert den Nerv für die eh schon fragmentarische Wirklichkeit. Oder sollte er eher sagen: chaotische Wirklichkeit?

Denn eines hatte er ja gelernt: Die beste Geschichte ist im besten Fall nur ein schönes Bild für den Moment, eine Beruhigung für Schreiber und Leser: „Aha, jetzt habe ich es verstanden. So funktioniert also die Welt.“

Oder im Vokabular der Narren und der Dummen: „DAS ist die WAHRHEIT.“

Die Wahrheit ist ein lehmiger Fluss. Oder eine Art Mülleimer: die Hälfte liegt daneben, weil einige Zeitgenossen nicht zielen können oder die Krähen nach Fressbarem suchten. Anderer Müll liegt irgendwo in der Straße, achtlos weggeworfen, Herbstlaub fliegt über die Wiese und die Grabsteine. Im Grunde waren die meisten Menschen ja nur die ganze Zeit beschäftigt, den permanenten Verfall der Dinge aufzuhalten. Und nur allzu selten fragen sie sich: „Wer hat’s getan? Und warum?“

Die meisten Menschen wollen es gar nicht wissen. Denen war selbst dieser unscheinbare Russe völlig egal, der nun seit Jahren ein gut gepflegtes Grab auf dem Friedhof hatte.

„Memento mori“, schnaufte der Alte, als er sich neben den hier auf der Bank gestrandeten Herrn L. setzte. Was den nun erst recht nicht mehr überraschte. Der Alte würde auch nicht mehr ruhen können, bis er wusste, wer es getan hatte. Und warum. Der hielt es auch nicht aus, dass Dinge geschahen, ohne dass es dafür eine saubere Erklärung gab. Eigentlich folgerichtig, dass es beide nun an diesem Samstagmorgen wieder auf diese Bank getrieben hatte, von der man direkt auf das Grab August Mjullers blicken konnte. Oder Miller. Oder Mueller.

„Ich hoffe, mein Auftritt hat sie nicht allzu sehr erschreckt, Herr L. Ich war ein wenig außer mir, wenn ich das so sagen darf …“

„Was mich beschäftigt, sind ihre seltsamen Kollegen. Was haben die gesucht? Ich kann mir nicht vorstellen, dass die ausgerechnet jetzt glauben, Sie noch erschrecken zu müssen. Oder haben Sie tatsächlich ein paar Beweisstücke versteckt in ihrem Nachtschränkchen, von denen Sie mir auch nichts verraten wollen? Muss der Herr Polizeipräsident befürchten, dass Sie eines Tages …“

„Ich glaube nicht mal, dass er das angeordnet hat. Ich habe mit ihm gesprochen …“

„Oha, ich dachte, Sie seien ein bisschen unerwünscht in ihrem einstigen Präsidium …“

„Bei manchen Kollegen schon. Sie sollen nicht alle Polizisten in einen Sack stecken. Die meisten sind auch nur …“

„Menschen?“

„Einfache Leute. Und das meine ich so. Nicht anspruchsvoll, fleißig, ein bisschen einfach auch, was die Sicht auf die Welt betrifft, was Ihnen ja nicht fremd sein dürfte. Auch in Ihrer Zeitung sehe ich an manchen wunderschönen Tagen den leichten Hang, die Dinge ganz sauber in Gut und Böse zu scheiden. So wie der Pfarrer.“

„Entschuldigung …“

„Dafür müssen Sie sich nicht entschuldigen. Es geht uns allen so. Wirklich allen. Glauben Sie einem alten Schnüffler. Es wäre ja auch zu schön. Stellen Sie sich das vor: Man könnte Bösewichte sofort an der Nase erkennen. Kennen Sie Lavaters ‚Physiognomie‘ …?“

„Das meinen Sie jetzt nicht ernst.“

„Natürlich meine ich das ernst: Die meisten Menschen möchten, dass in unserer Welt alles klar geschieden ist: Die Bösen erkennt man an der Nase oder der Hautfarbe oder dem irren Blick, schnappt sie, sperrt sie ein und weiß dann nach vollbrachter Tat: Jetzt ist die Welt genau um diesen einen Bösewicht besser. Der richtet jetzt keinen Schaden mehr an.“

„Und wohin stecke ich unseren Herrn Polizeipräsidenten?“

„Am besten in den Sack mit den unsortierten Wertstoffen …“

Soll keiner sagen, so ein Samstagsspaziergang hätte keine hübschen Momente. Herr L. hüstelte lieber, weil er wirklich nicht bestrebt war, den Alten jetzt dazu zu bringen, über den bärbeißigen Herrn Präsidenten herzuziehen. Aber dem Alten war gar nicht danach.

„Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich meine das ernst. In jedem stecken ein paar Wertstoffe. In manchen sogar so hübsche Sachen wie Gold und Silber und ein paar Tröpfchen Herzensgüte. Aber kein Mensch ist klar wie Glas. Keiner. Auch Sie nicht. Ein schlechter Moment, und Sie sitzen genauso da als reuiges Schäfchen vor gelangweilten Verhörleitern, und Sie wissen nicht, wie Ihnen geschieht. Wenn ich eins gelernt habe in meinem langen, kurvenreichen Leben, dann das: Dass jeder von uns zum Bösewicht taugt. Nichts feit uns dagegen, außer ein bisschen Ordnung, Bedachtsamkeit und …“

„… ein paar Gesetze.“

„Kommen Sie mir nicht mit Gesetzen, Herr L. Wenn es ein paar wirklich grunddämliche Gesetze nicht gäbe, könnten sich meine armen Kollegen wirklich um die großen Spitzbuben und Ganoven kümmern …“

„Sie meinen …?“

„Ich meine, dass es durchaus im Sinne wohlweiser Gesetzgeber liegt, dass sich die Polizei ziemlich ausschließlich mit kleinen Dieben und Hehlern und Raufbolden abgibt, und nicht mit den wirklichen Schwergewichten. Solchen, denen es ein Spiel ist, einen vielleicht nicht ganz unbescholtenen Kumpan und Teilhaber einfach so kaltblütig umbringen zu lassen und dann – für alle Welt sichtbar – mitten im Löwengehege zu platzieren.“

Er musste nicht mal zum Grab hinnicken, damit L. sofort wusste, wer gemeint war.

„Dass er nicht von den Löwen gefressen wurde, weiß ich.“

„Aber Sie wissen nicht, wo er umgebracht wurde, von wem und warum.“

„Sagen Sie nur, Sie wissen es jetzt?“

„Ich hab Ihnen doch gesagt: Ich war im Präsidium. Ich hab mich nicht abwimmeln lassen.“

„Und ihr netter Kollege hat die verschwundenen Beweisstücke rausgeholt?“

„Die waren nie verschwunden. Es ist alles noch da. Ich sage doch: glauben Sie nicht immer das Schlimmste von den Leuten. Versuchen Sie lieber, sie als ratlose Windbeutel zu betrachten. Oder als Gutwillige, ich glaube, das hilft sogar weiter. Ich glaube nicht, dass die meisten Menschen wirklich böse sind. Die meisten bemühen sich wirklich.“

„Das heißt, wir wissen jetzt, wer August Miller umgebracht hat?“

„Nein, wissen wir nicht. Ich zumindest nicht. Meine Kollegen tun zwar so, als hätten sie eine Vermutung, werden darüber aber auf Teufel komm raus nicht reden. Nicht mit mir und auch nicht mit Ihnen. Jedenfalls nicht, bevor sie das passende Gegenstück in der Hand haben.“

„Klingt nicht gerade so, als würden sie damit einen von Millers alten Kumpanen festnageln könnten. Warum sollten sie sonst gerade bei Ihnen aufkreuzen? Die kennen Sie doch? Oder haben Sie sich wirklich einschüchtern lassen?“

„Dazu muss man dann eben doch manchmal in die Höhle des Löwen gehen und den lieben Herren Kollegen die Pistole auf die Brust setzen …“

„Sie haben …“

„Nur symbolisch. Ich habe in meinen Leben nie eine Pistole benutzen müssen, glauben Sie mir.“

„Aber ohne …“

„Manchmal reicht es, den lieben Kleinen einfach ins Gesicht zu sagen, was man weiß. Und sich nicht für dumm verkaufen zu lassen. Und sie so lange stur anzugucken, bis sie erklären, warum sie auf einmal so umtriebig sind und sogar ein paar Kampfsportler bei Ihnen vor’s Haus stellen oder setzen …“

„Die sahen mir eher ein bisschen müde aus …“

„Kann sein. Manche Entscheidungen, die meine Herren Nachfolger treffen, sind einfach Bockmist. Oder auch gut gemeint, was weiß ich. Ist eine andere Generation. Die haben einfach zu viel amerikanischen Serienquatsch geguckt und glauben nun, das muss man so machen. In voller Montur, und nachts peitschen dann die Schüsse durch die Straßen und der Ganove fängt sich beim Versuch, über die Feuerleiter zu entwischen, eine Kugel ein, hübsch genau zwischen den Augenbrauen platziert …“

„Aber warum hatte ich das Gefühl, dass genau damit zu rechnen ist?“

„Weil augenscheinlich von den Leuten, um die es hier geht, einige genau dieselben dummen Filmchen gesehen haben. Aber das ist nur eine Vermutung…“

„Wessen?“

„Meine nicht.“

„Dann wohl die eines jungen, aufstrebenden Ermittlers, der sich jetzt seine Sporen verdienen will und dabei ein bisschen – theatralisch wird?“

„Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wenn ich alles zusammenziehe, bleibt da so eine nette Warnung für mich und Sie: ‚Bleiben Sie jetzt besser aus der Schusslinie!‘“

„Deswegen haben Sie also bei mir Sturm geklingelt?“

„Das war davor. Entschuldigung, da war ich wirklich ein bisschen – außer mir. Ich sollte mich wirklich nicht mehr so aufregen in meinem Alter.“

„Klingt so, als wollte man jetzt tatsächlich einen Mörder fangen?“

Der Alte schwieg, ein paar Krähen erzählten sich was übers schlechte Wetter. Ein Gärtner mit tief ins Gesicht gezogenem Hut schlich hinten mit einer schwer beladenen Schubkarre vorbei. Ansonsten standen die Bäume über den Gräbern da, als wären sie bereit fürs große Halali.

„Genau das glauben Sie lieber nicht.“

„Oh, ich bin …“

„Bleiben Sie ruhig. Wenn mich mein alter Schnüfflerzinken nicht täuscht, werden Sie einen fangen, der nur viel zu gut in alle Erwartungen passt. Ist Ihnen das nicht auch schon oft genug aufgefallen, wie herrlich so viele Lösungen immer passen? Als wären sie extra für die Rolle gemacht, die sie am Ende spielen sollen?“

„Echte Bösewichte, meinen Sie?“

„Ja, so echt wie nur irgendwas. Die richtige Nase, so ein richtiges Verbrechergesicht, das richtige Vorstrafenregister und eine versaute Kindheit mit saufenden Eltern, prügelndem Vater und Freunden, denen man schon in der Wiege angesehen hat, dass es verdammte elende Versager werden, großspurige Taugenichtse, die ihr Leben lang glauben, dass sie mit großen Sprüchen Eindruck schinden …“

„Sie wollten sich nicht aufregen.“

„Stimmt.“

Der Alte klang jetzt wirklich etwas zu kurzatmig. Da fragte L. liebe nicht nach, sondern schaute lieber den Krähen zu, die von Ast zu Ast flatterten und ab und zu bedeutungsvoll krächzten. Zumindest bedeutungsvoll, wenn er die Krähensprache verstanden hätte.

Also wartete er, bis der Alte sich schnaufend erhob und begleitete ihn schweigend das Stück Weg bis zu dessen Haus, lehnte die unverhoffte einsilbige Einladung ab, noch einen Tee zu trinken. Und machte sich auf den Heimweg. Vorbei an ein, zwei Autos im Leerlauf, mit dick vermummten Gestalten darin.

Aber niemand sprang heraus. Und ein Reifenquietschen hörte er auch nicht. Und die meisten Plakate wehten nun schon etwas abgenutzter im Wind, die Leute liefen vorüber. So schnell fallen Neuigkeiten ins Wasser, werden unwichtig. Warum machte er das also? Eine Antwort darauf hatte er noch immer nicht.

Die Serie „Was passiert jetzt …“

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